Geburtstag

Als Gott die Geschlech­ter ver­teilt hat, bin ich zu spät gekom­men. Des­halb hab ich kei­nes. Erst dach­te ich: Pech gehabt, weil mir ja etwas fehl­te, spä­ter bemerk­te ich dann, dass es mir gar nicht fehlt. Nur ande­ren fehlt es. Wenn sie mich sehen, füh­len sie sich unbe­hag­lich. Eine Phi­lo­so­phin hat sogar ein Buch dar­über geschrie­ben: Das Unbe­ha­gen der Geschlechter.

Aber ich glau­be, die meis­ten Leu­te haben es nicht gele­sen. Sie star­ren mich immer noch an und ver­su­chen, etwas an mir zu fin­den, das ich nicht habe. Des­halb ver­su­che ich, mög­lichst unauf­fäl­lig zu blei­ben. Und jetzt hat mir Prinz Almut zum Geburts­tag eine Leucht­wes­te geschenkt!

“Oh — was mache ich damit?”, fra­ge ich xier. “Anzie­hen! Dann wirst du bes­ser gese­hen. Damit du nicht ange­fah­ren wirst, wenn du im Dun­keln radelst!” “Aber ich wer­de doch gera­de dann, wenn die Leu­te mich sehen, oft ange­fah­ren!” Prinz Almut lacht herz­lich, dens Bauch wackelt, ich umar­me xier und bedan­ke mich, obwohl ich die Jacke nie anzie­hen wer­de. Dabei mag ich oran­ge. Strei­fen mag ich auch. Und eigent­lich wür­de ich ger­ne leuchten.

Prinz Almut hat ein Gespür dafür, was Leu­te mögen und brau­chen. Xier ist Coach, und hat sich auf Urlaubs­stress spe­zia­li­siert. Dens Arbeit wird sogar von den Kran­ken­kas­sen bezu­schusst. Denn es kommt immer öfter vor, dass Men­schen von ihrem Urlaub so gestresst sind, dass sie danach arbeits­un­fä­hig sind.

Vie­le machen gar nicht rich­tig Urlaub, weil sie wei­ter­hin stän­dig erreich­bar sind. Ande­re sper­ren das Arbeits­han­dy in einen Safe, der sich erst am letz­ten Urlaubs­tag wie­der öff­net, und haben dann den Stress, sich jetzt aber auch wirk­lich erho­len zu müs­sen. Es gibt Streit mit Mit­rei­sen­den, weil es auf ein­mal viel mehr Zeit dafür gibt; ent­täusch­te Erwar­tun­gen, wenn der Berg, den man allei­ne bestei­gen woll­te, von Men­schen über­sät ist; den Schock, in einem frem­den Land zu sein, obwohl der Rei­se­pro­spekt ver­spro­chen hat, dass man sich wie zu Hau­se füh­len würde.

“Und was machst du mit die­sen Leu­ten?”, frag­te ich Prinz Almut. “Unter­schied­lich. Manch­mal bin ich die Her­ber­ge, nach der sie sich schon ihr gan­zes Leben lang gesehnt haben. Oft muss ich erst­mal einen Grund­kurs Diver­si­tät machen. Vie­le glau­ben ja, ich wür­de Almut Prinz hei­ßen. Erst wenn ich mich auf mei­nen Thron set­ze, däm­mert ihnen etwas. Dann kom­men die Fra­gen. Ges­tern hat wie­der jemand gesagt: “Wenn Sie Prinz sind, dür­fen Sie doch noch gar nicht auf den Thron!” “Tja”, mein­te ich, “das ist ein Unter­schied zwi­schen mon­ar­chis­ti­schem und anar­chis­ti­schem Prin­zen­tum! Es gibt noch ein paar mehr.”

Prinz Almut ken­ne ich seit zwei Jah­ren. Es ist aller­dings das ers­te Mal, dass xier zu mei­nem Geburts­tag gekom­men ist. Bei mei­nen Geburts­ta­gen tref­fen immer sehr unter­schied­li­che Men­schen auf­ein­an­der, die ich in mei­nem All­tag nicht zusam­men ein­la­de, weil ich befürch­te, dass sie sich nicht ver­ste­hen wür­den. Ein­mal im Jahr müs­sen alle mit­ein­an­der klar kom­men. Bis jetzt hat das geklappt.

Es klin­gelt, Nor­bert kommt die Trep­pe hoch, drückt mich und drückt mir etwas in die Hand, loses Papier, in dem sich etwas Fes­tes befin­det: “Tut mir Leid, ich hat­te kein Kle­be­band mehr.” Das Ein­wi­ckel­pa­pier ist ein Kalen­der­blatt, eine dicke Kreuz­spin­ne in ihrem Netz vor blau­em Him­mel. “Die sieht ja toll aus!” Als ich den Titel des Buches sehe, muss ich lachen. “Wer spinnt hier eigent­lich?” Den Unter­ti­tel lese ich nur bis “… Geno­zid”, dann klin­gelt es wieder.

Fio­na. Wir haben uns schon län­ger nicht mehr getrof­fen. Als ich sie sehe, ver­engt sich mein Hals, ich muss mich anstren­gen, um Luft zu bekom­men. “Schön, dass du da bist!” Mei­ne Stim­me klingt hei­ser. Sie sagt nichts, bemüht sich zu lächeln und streckt mir einen rie­si­gen Blu­men­strauß ent­ge­gen. “Dan­ke, da suche ich gleich eine Vase für!” Ich bin erleich­tert, dass ich davon huschen kann.

Als ich mit den Blu­men in der Vase ins Sofa­zim­mer kom­me, ver­teilt Lati­fa den Scho­ko­la­den­ku­chen, den sie geba­cken hat, und das Nach­bar­kind starrt Prinz Almut an: “Mei­ne Mama hat gesagt, du bist kein Mann und kei­ne Frau, son­dern so etwas wie ein Mann und eine Frau gleich­zei­tig. Wie geht das denn?” Alle schau­en Prinz Almut an, die schließ­lich erklärt: “Ich habe ein­fach alles gemacht, was ich ger­ne machen woll­te, und das waren dann Frau­en­sa­chen und Män­ner­sa­chen und schwupps, schon war ich bei­des. Und noch viel mehr.” Toni schaut xier mit gro­ßen Augen an. “Bist du des­halb so dick?” Prinz Almut lacht herz­lich: “Die bes­te Erklä­rung für mei­ne Kör­per­fül­le, die ich je gehört habe. Dan­ke!” Xier schüt­telt die klei­ne Hand und kommt auf mich zu.

Nina platzt her­ein. Ich ken­ne sie nicht so gut, habe sie aber spon­tan ein­ge­la­den, als ich sie neu­lich beim Fahr­rad­händ­ler traf. “Brit­ta hat gesagt, dass du alles liest. Also, das ist ganz neu raus gekom­men und wur­de in der Zei­tung eupho­risch bespro­chen.” “Dan­ke.” Ohne gro­ße Hoff­nung zer­rei­ße ich das Geschenkpapier.

“Darf ich mal?” Prinz Almut nimmt das Buch, liest laut: “Das gro­ße Schwei­gen. War­um wir immer noch viel zu wenig über den Holo­caust wis­sen und spre­chen”. Xier blät­tert es durch: “Ich ver­mis­se eigent­lich ein Buch über das aktu­el­le Schwei­gen in Deutsch­land.” Alle schwei­gen betre­ten, was der Situa­ti­on etwas Absur­des gibt, nur Nina fragt nach einer Wei­le: “Was meinst du denn?” “Das Schwei­gen über den Völ­ker­mord an den Palästinenser*innen, an dem Deutsch­land mit­schul­dig ist und …” Xenia räus­pert sich: “Wir als Deut­sche dür­fen nicht …” “Bin ich gar nicht!”, ruft Prinz Almut. “Dann wirst du das nie ver­ste­hen kön­nen”, erklärt Nico­le. “Was denn, dass die Ver­bre­chen, die die Deut­schen began­gen haben, ein Frei­brief dafür sind, die Palästinenser*innen zu malträtieren?”

Tan-Li stößt einen schril­len Lacher aus, Fio­na bedeckt ihr Gesicht mit den Hän­den, Nina sagt ver­le­gen: “Wir wol­len doch jetzt Geburts­tag fei­ern”, und schaut mich an. Eigent­lich wäre es eine gute Gele­gen­heit, um zu dis­ku­tie­ren, aber ich habe die Befürch­tung, dass es schief geht. Tho­mas Aka­bu geht es wohl auch so. “Ich mach neu­en Kaf­fee”, ruft er und zwin­kert mir zu, als er Rich­tung Küche geht. Ich bemer­ke, dass Rona, der Cocker­spa­ni­el von Rena, die Vor­der­pfo­ten auf den Couch­tisch gestemmt hat und die Sah­ne­schüs­sel aus­leckt. Wenigs­tens eine, die die Situa­ti­on aus­kos­ten kann.

“Du hast das Buch nicht ver­stan­den”, lässt sich Fio­na mit müder Stim­me ver­neh­men: “In der Holo­caust Auf­ar­bei­tung geht es eben nur um den Holo­caust, und nicht um etwas ande­res.” Jetzt schal­tet sich Nor­bert ein: “Du meinst, die Deut­schen brau­chen für jedes Volk, das Geno­zid erlei­det, eine eige­ne Schu­lung? Es wäre doch prak­tisch, von einer Situa­ti­on auf die ande­re schlie­ßen zu kön­nen. Dann müss­te man nicht immer von neu­em ler­nen.” “Wer lernt hier nichts? Hast du dich schon ein­mal mit dei­nem Anti­se­mi­tis­mus aus­ein­an­der gesetzt?” “Und außer­dem ver­schwin­det der Akku­sa­tiv aus unse­rer Spra­che”, wirft Lati­fa ein. “Neu­lich lese ich im Bio­la­den: Tofu mit Kräu­ter. Stellt euch das vor, ohne N!”

“Tut mir Leid”, sagt sie spä­ter zu mir, “aber noch ein Anti­se­mi­tis­mus Vor­wurf hät­te ich nicht ertra­gen. “Schon gut”, beru­hi­ge ich sie, “mir war es auch lie­ber so. Ich weiß nicht, ob eine Dis­kus­si­on etwas gebracht hät­te.” Ich habe vor mei­nem Geburts­tag alle Demo­schil­der weg geräumt, und die Auf­kle­ber auch. Dann dach­te ich, das ist ja lächer­lich, und habe alles wie­der hin­ge­stellt. Aber als ich an Fio­na dach­te, habe ich ein Tuch über die Schil­der gehängt.

Die Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit ihr waren so schreck­lich. Ihre Sät­ze klin­gen mir immer noch im Ohr: “Die Hamas muss weg!” oder “Ja, es gab die Nak­ba! Aber wahr­schein­lich müs­sen bei jeder Staats­grün­dung wel­che wei­chen.” Sol­che Aus­sa­gen machen mich hilf­los, weil ich Fio­na dar­in nicht wie­der­erken­ne. Sie, die sich für Men­schen­rech­te ein­setzt und Asyl­su­chen­de vor Abschie­bung schützt, lässt kei­ner­lei Sym­pa­thie für Palästinenser*innen erken­nen. Jah­re­lang hat sie sich dafür enga­giert, dass Geflüch­te­te nicht in Lagern leben müs­sen, aber die viel schlim­me­ren Lebens­be­din­gun­gen unter israe­li­scher Besat­zung las­sen sie kalt und für den Wider­stand dage­gen bringt sie kein Ver­ständ­nis auf. Wie passt das in ein und den­sel­ben Men­schen hinein?

Ach, ich möch­te mit Fio­na befreun­det blei­ben! Und ich dach­te, wir hät­ten eine sta­bi­le Grund­la­ge dafür. Aber im Moment fühlt sich unse­re Freund­schaft wie ein Sta­pel­turm an, den ein Anstoß ins Wan­ken gebracht hat.

Bei unse­rem letz­ten Tele­fo­nat konn­ten wir ein­an­der kaum aus­re­den las­sen. “War­um fin­dest du das nicht schreck­lich”, warf ich ihr vor, “dass Deutsch­land ange­klagt ist, einen Geno­zid -” “Ob es Geno­zid ist, muss erst über­prüft wer­den. Außer­dem, es gibt Schlim­me­res, mit viel mehr Toten, im Sudan, im Kon­go …” “Da gibt es aber nicht so eine direk­te Mit­ver­ant­wor­tung von Deutsch­land. 30 Pro­zent der Waf­fen­lie­fe­run­gen…” “Man muss auf den 7. Okto­ber reagie­ren. Die­ses Mas­sa­ker -” “Ich kann es nicht fas­sen, dass du nur die Sicht­wei­se der Israe­lis übernimmst!”

“Da liegst du falsch, ich bin für bei­de Sei­ten. Sowohl als auch. Aber du musst doch zuge­ben, dass der 7. Okto­ber ein ein­zig­ar­tig schreck­li­ches Mas­sa­ker war.” “Es war das schlimms­te Mas­sa­ker, das die Israe­lis von paläs­ti­nen­si­scher Sei­te erlit­ten haben”, stimm­te ich ihr zu. “Ver­übt haben sie aber sehr viel schlim­me­re Mas­sa­ker, und das auch schon lan­ge vor dem 7. Okto­ber.” Fio­na war so außer sich, wie ich sie noch nie erlebt hat­te. Geschrien und geweint hat­te sie, und ich wuss­te noch nicht ein­mal, war­um. Ich hat­te ja nichts Neu­es gesagt.

Es war Fion­as Vor­schlag gewe­sen, nicht mehr dar­über zu reden. Mir wäre eine Ver­stän­di­gung lie­ber gewe­sen, aber ich wuss­te auch kei­nen ande­ren Aus­weg. Wir schrie­ben uns nur noch Belang­lo­ses oder Erzäh­lun­gen von der Arbeit. Als sie mir dann eine Ein­la­dung zur Frie­dens­de­mo schick­te, habe ich mich gefreut. Gemein­sam für Frie­den demons­trie­ren schien mir eine gute Annä­he­rung zu sein.

Doch dann muss­te ich mich zum ers­ten Mal für sie fremd­schä­men. Als wäh­rend der Kund­ge­bung ein Paläs­ti­nen­ser ans Mikro tritt, klatscht sie nicht ein­mal höf­lich­keits­hal­ber zur Begrü­ßung. Er hat noch kein Wort gesagt, schon schlägt ihm Abnei­gung von Fio­na und vie­len ande­ren ent­ge­gen. Und wäh­rend er etwas zur grau­en­haf­ten Situa­ti­on in Gaza erzählt, reagiert Fio­na auf ihn, als wäre er ihr Feind.

Ich ver­mis­se Fio­na. Selbst jetzt, als sie nur drei Meter ent­fernt an mei­nem Schreib­tisch steht, wo auf einem roten Tuch die Geschen­ke lie­gen, ist sie so weit von mir ent­fernt, als wür­den sich Ber­ge zwi­schen uns erhe­ben. Und tat­säch­lich lie­gen zwei Län­der zwi­schen uns: Isra­el und Paläs­ti­na. Fio­na hebt die Leucht­wes­te hoch, lacht und sagt zu Rena: “Die wird xier nie anzie­hen.” Die­ser Satz, der mich sonst amü­siert hät­te, weil Fio­na mich so gut kennt, macht mich auf ein­mal wütend und trau­rig. Ich habe das Gefühl, Prinz Almut ver­tei­di­gen zu müs­sen, und als Fio­na wei­ter­geht, um sich Tee nach­zu­schen­ken, eile ich zum Schreib­tisch und neh­me die Leucht­wes­te an mich, als ob sie in Gefahr wäre.

Fio­na schnei­det zwei Stü­cke Kuchen ab, geht mit den bei­den Tel­lern zu den Stüh­len am Fens­ter und setzt sich zu Luis, mit dem sie schon seit Jah­ren in einer Haus­ge­mein­schaft wohnt. Wer weiß, viel­leicht gehen sie nach­her zusam­men nach Hau­se und reden dar­über, wie selt­sam ich gewor­den bin.

Es war immer schwer, aus­ge­grenzt zu wer­den, auf­grund des­sen, was ich nun ein­mal bin. Und jede wei­te­re Aus­gren­zung stößt an die Wun­de der ursprüng­li­chen. Es wäre ein­fa­cher gewe­sen, mich an den Lin­ken-Main­stream anzu­pas­sen. Mich nicht zu enga­gie­ren, son­dern mich Fio­na anzu­schlie­ßen, die Aus­ge­wo­gen­heit für das wich­tigs­te Gebot der Zeit hält. Sie hat zu mir gesagt, dass Auf­re­gung nichts nützt, alles müss­te ruhig und gründ­lich geprüft und über­legt wer­den. “Was hast du auf ein­mal mit Paläs­ti­na?”, frag­te sie mich. “Das hat dich doch frü­her auch nicht interessiert.”

Tat­säch­lich war es ein Unrecht, das nur am Ran­de mei­ner Wahr­neh­mung exis­tier­te. Erst das Schwei­gen in Deutsch­land, zur offe­nen Ankün­di­gung eines Geno­zids, zu den Bom­bar­die­run­gen, den mas­si­ven Ver­let­zun­gen des Völ­ker­rechts, haben mich so getrof­fen. Und als ich ein­mal das Buch “Brea­king the Silence” ange­fan­gen hat­te, in dem israe­li­sche Soldat*innen von den täg­li­chen Demü­ti­gun­gen der Palästinenser*innen, den Schi­ka­nen und Ver­bre­chen der eige­nen Armee berich­ten, habe ich immer wei­ter gele­sen und Infos von ver­schie­de­nen Kanä­len gesammelt.

Und ich habe mich geschämt, dass ich das The­ma vor­her so aus­ge­klam­mert habe, nur weil es mir kom­pli­ziert erschien. In Wirk­lich­keit ist es nicht kom­pli­zier­ter als ande­re The­men, es ist nur viel schwie­ri­ger, sich für Palästinenser*innen ein­zu­set­zen als für ande­re unter­drück­te Grup­pen. Weil Palästinenser*innen von vie­len Lin­ken, und von Rech­ten sowie­so, in ers­ter Linie als Täter*innen gese­hen werden.

Ich schnei­de mir auch ein Stück vom Scho­ko­la­den­ku­chen ab. Damals hat Fio­na gera­de mit Nico­le ange­ban­delt. Aber ich hab die­se Ent­wick­lung auch ein biss­chen vor ihr geheim gehal­ten. Weil ich schon das Gefühl hat­te, dass sich da was bei ihr sträubt. Denn sie ist ja nicht allei­ne mit ihrer Hal­tung. Ihre gan­ze Haus­ge­mein­schaft, alle mehr oder weni­ger poli­tisch aktiv, hält sich von Paläs­ti­na Demons­tra­tio­nen fern. In Ita­li­en gab es einen Gene­ral­streik für die Been­di­gung des Geno­zids und hier in Deutsch­land fehlt einem gro­ßen Teil der Lin­ken das selbst­ver­ständ­li­che auf der Sei­te der Schwa­chen ste­hen, wie in allen ande­ren poli­ti­schen Kon­flik­ten. “Und was bedeu­tet das denn”, sage ich laut.

Alle sehen mich an, Gesprä­che ver­stum­men. Erst jetzt bemer­ke ich, dass ich die Leucht­wes­te ange­zo­gen habe. Und als ich an ihr zer­re, um sie aus­zu­zie­hen, fängt die Wes­te an zu blin­ken! Egal, den­ke ich und rede wei­ter: “Wenn so vie­le einem Geno­zid zuse­hen ohne dage­gen ein­zu­tre­ten? Die Opfer Ter­ro­ris­ten nen­nen und ihr Leid ver­harm­lo­sen und die Täter*innen straf­frei aus­ge­hen las­sen, weil sie ihre Ver­bre­chen zur Ver­tei­di­gung brau­chen? Was bedeu­tet das für uns alle, für unser Zusammenleben?”

Mei­ne Geburts­tags­gäs­te sehen mich erstaunt an, weil ich sonst kei­ne Reden hal­te, aber jetzt bin ich nicht mehr zu brem­sen: “Wir müs­sen die­se Fra­gen stel­len, wir haben Ver­ant­wor­tung ange­sichts die­ses Völ­ker­mords. Denn jede Hand­lung ist poli­tisch, das Pro­tes­tie­ren genau­so wie das Schweigen.”

Ich habe vor Auf­re­gung begon­nen, den Kuchen auf mei­nem Tel­ler zu kne­ten, sodass Bro­cken davon zu Boden fal­len. Der Hund stürzt sich dar­auf, Rena schreit: “Nein, Rona! Du stirbst, wenn du Scho­ko­la­de isst!”

Alle gera­ten in Bewe­gung, Rona wird gepackt, ihr Maul gequetscht und geschüt­telt, damit sie alles aus­spuckt, der Hund jault, es dröhnt, weil jemand den Staub­sauger ein­ge­schal­tet hat, Rena packt mich an der Schul­ter: “Hast du Koh­le­ta­blet­ten?” “Nein, tut mir Leid…” “Oh, Gott, hat jemand ein Auto? Heu­te ist noch dazu Sams­tag, wir müs­sen zum Notdienst!”

Nico­les Stim­me schrillt: “Was führst du dich so auf?” Ich bin erschro­cken dar­über, wie sie mit Rena redet, aber dann wird mir klar, sie meint mich. “Alle fin­den die huma­ni­tä­re Kata­stro­phe in Gaza schreck­lich. Wir wis­sen, dass Isra­el vom guten Weg abge­kom­men ist. Des­halb braucht man aber nicht so einen Auf­stand zu machen, und israe­li­sche Künst­ler aus­zu­la­den, das ist das Aller­letz­te, das erin­nert an Bücherverbrennungen!”

“Aber, in Gaza”, stot­te­re ich, “das erin­nert nicht nur an Bücher­ver­bren­nun­gen, das sind wirk­lich wel­che! Alle gro­ßen Biblio­the­ken wur­den ver­brannt, die Schu­len und Uni­ver­si­tä­ten …” Ich suche Fion­as Blick, aber sie hat sich abge­wen­det. “Eine Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on”, weist Nico­le mich zurecht, “muss man bekämp­fen. Mir tut es wirk­lich leid um die Leu­te in Gaza, aber …”

“Ach, lass sie doch!”, sagt Fio­na zu ihr, und es klingt, als ob bei mir nichts mehr zu ret­ten wäre. Das macht mich wütend. “Wer macht denn den Ter­ror?”, schreie ich. “Isra­el hat den Waf­fen­still­stand gebro­chen, schon wie­der, und hat immer noch 10.000e Gei­seln, auch Kin­der, die gefol­tert wer­den. Und die Lei­chen, die sie zurück­ge­ben, denen feh­len Organe …”

Fio­na hat ihre Jacke an. “Tut mir Leid, wir müs­sen”, sagt sie. “Bleib doch noch”, bit­te ich sie, aber es klingt nicht über­zeu­gend. “Ich muss Luis hel­fen.” Sie hakt ihn ein, er hüpft die Trep­pe auf einem Bein hin­un­ter. Was hat er? Habe ich etwas nicht mit­be­kom­men? Bin ich viel­leicht wirk­lich igno­rant, kann Luis nicht wahr­neh­men und das Leid der Israe­lis auch nicht? Und wer weiß, was ich an Fio­na über­se­hen habe, in all den Jahren.

“Orga­ne!”, zischt Nico­le, “du glaubst auch alles.” Sie folgt Fio­na und Luis. Ich sage nichts, weil ich mir mei­ner Quel­len sicher bin. Unter ande­rem ein israe­li­scher Arzt, der berich­tet hat, dass seit der ers­ten Inti­fa­da bei jeder Aus­ein­an­der­set­zung mit Palästinenser*innen das Ange­bot an Orga­nen erheb­lich steigt.

Ich sehe die drei in der Trep­pen­schlucht ver­schwin­den und den­ke an die vie­len Organ-Ver­pflan­zun­gen, an all die paläs­ti­nen­si­schen Her­zen, die Lun­gen, die Nie­ren und die Gedär­me, Tei­le von Ermor­de­ten, denen auch im Tod kei­ne Ruhe gegönnt wird, und die nur die Chan­ce haben, in israe­li­schen Kör­pern wei­ter zu leben, und an die Israe­lis, die wahr­schein­lich nichts davon wis­sen, dass sie paläs­ti­nen­si­sche Antei­le in sich tragen.

Und ich wuss­te nichts davon, was für Antei­le Fio­na in sich trug. Jah­re­lang waren wir auf den­sel­ben Demos, haben die glei­chen Peti­tio­nen unter­schrie­ben, waren mehr oder weni­ger einer Mei­nung, und auf ein­mal klafft ein Abgrund zwi­schen uns. Ein Gespenst war auf­ge­taucht und hat­te mir Fio­na abspens­tig gemacht.

Xenia umarmt mich. “Ich geh mit ihnen”, sagt sie ent­schul­di­gend, und fügt ein halb­her­zi­ges: “Wir sehen uns!” hin­zu. Trau­rig blei­be ich in der offe­nen Tür ste­hen. “Es tut mir so Leid!”, ruft Nina, “dass mein Geschenk so viel aus­ge­löst hat!” “Du kannst nichts dafür”, sage ich. “Es war alles vor­her schon da.”

Etwa die Hälf­te mei­ner Geburts­tags­gäs­te hat sich ver­ab­schie­det; viel­leicht um Rena und Rona zu unter­stüt­zen, oder weil sie nicht über das The­ma spre­chen wol­len. Viel­leicht fan­den sie mich auch pein­lich. Zum Glück habe ich Übung dar­in, pein­lich zu sein.

“Habe ich etwas falsch gemacht?”, Ich las­se mich neben Prinz Almut aufs Sofa sin­ken. “Du warst ganz authen­tisch”, gibt xier zur Ant­wort. Trotz­dem füh­le ich mich elen­dig. “Wird sich das alles ein­mal ändern? Ich mei­ne, wird es so, wie Omar El Akkad geschrie­ben hat: “Eines Tages wer­den alle schon immer dage­gen gewe­sen sein”?” “Nein, ich glau­be nicht. Die­je­ni­gen, die sich jetzt nicht für Palästinenser*innen ein­set­zen, wer­den ein­fach so wei­ter­le­ben wie vor­her, genau­so, wie die­je­ni­gen, die sich vor 80, 90 Jah­ren nicht für jüdi­sche Men­schen ein­ge­setzt haben. Und das wird viel ein­fa­cher als damals sein, denn der Geno­zid an den Palästinenser*innen wird nie so ver­ur­teilt wer­den wie der Holocaust.”

Ale­jan­dra dreht die Musik auf, beginnt mit Ihsan und Nor­bert zu tan­zen, Tho­mas Aka­bu räumt die Kuchen­tel­ler ab. Es wird viel Essen übrig blei­ben. “War­um sehen unse­re Freund*innen nicht das, was wir sehen?” Xier legt den Arm um mich, ich las­se mei­nen Kopf auf dens Schul­ter sin­ken. Xier sagt nichts, ich erwar­te auch kei­ne Ant­wort, wir haben so oft dar­über gere­det, und haben so vie­le Erklä­run­gen gefun­den und letzt­end­lich kei­ne. “Es tut so weh, alles.” “Ja. Und das ist wahr­schein­lich auch ein Grund für das Schwei­gen zum Völ­ker­mord: die­se Schmer­zen nicht spü­ren zu wol­len, und die Ohn­macht.” Xier streicht mir übers Haar, seufzt.

“War­um rührt jemand wie Fio­na mit so einem aus­ge­präg­ten Sinn für Gerech­tig­keit kei­nen Fin­ger ange­sichts der Straf­lo­sig­keit bei allen Ver­bre­chen, die Isra­el begeht? Für alle Unter­drück­ten wür­de sie sich ein­set­zen, nur für die Palästinenser*innen nicht.” “FAUNAP”, sagt Prinz Almut, dens ein Fai­ble für Akro­ny­me hat. “Was?”, fra­ge ich ver­wirrt. “Für Alle UNter­drück­ten Außer Palästinenser*innen: FAUNAP”

“FAUNAP. Gute Idee, einen Namen dafür zu haben.” “Was ist FAUNAP?”, fragt Nina und setzt sich in den Ses­sel neben uns. “Das sind Men­schen, die sich für Unter­drück­te ein­set­zen, aber Palästinenser*innen nicht zu den Unter­drück­ten zäh­len, und die jüdi­sche Israe­lis bzw jüdi­sche Men­schen all­ge­mein nicht den Mäch­ti­gen zuord­nen. Sie blei­ben ewig Opfer. Des­halb kön­nen die Opfer die­ser Opfer kei­ne Opfer sein, son­dern müs­sen als Täter*innen gese­hen werden.”

Nina run­zelt ver­wirrt die Stirn. “Aber das ist doch total ver­dreht!” “Die gan­ze Kon­struk­ti­on ist ein Lügen­ge­bäu­de!”, bricht es aus mir her­aus. “Und ich ver­ste­he nicht, dass gera­de Fio­na, der Ehr­lich­keit so wich­tig ist — oder”, fällt mir dann ein, “viel­leicht gera­de des­halb. Sie erfin­det zum Bei­spiel nie Aus­re­den und erwar­tet immer, dass alle die Wahr­heit sagen. Sie ist nicht geübt dar­in, Lügen zu durch­schau­en.” Prinz Almut nickt. “Und an Lügen, die einen Teil unse­rer Iden­ti­tät aus­ma­chen, hal­ten wir am stärks­ten fest.”

“Ich hab jetzt nicht alles ver­stan­den”, sagt Nina, “aber ich wür­de schon ger­ne mehr dar­über wis­sen.” “Pri­ma!” Ich hole den Fly­er von der Mahn­wa­che und drü­cke ihn ihr in die Hand. “Du kannst mich ger­ne fra­gen, ich kann dir Bücher lei­hen, Ver­an­stal­tungs­hin­wei­se schi­cken …” “Äh … ja, war­um nicht?” Sie lächelt mich an, steckt den Fly­er in ihre Hosen­ta­sche und schließt sich den Tan­zen­den an.

Prinz Almut und ich blei­ben noch eine Wei­le sit­zen, dann rufe ich, “Aber man kann doch kein fried­li­cher und gerech­ter Mensch sein und gleich­zei­tig die Idee unter­stüt­zen, dass ein Volk mehr Recht hat zu exis­tie­ren und zu über­le­ben als ein ande­res! Ich muss Fio­na über­zeu­gen, wie­der eine FAUN zu wer­den. Aber wie?” “Mit Geschich­ten”, sagt Prinz Almut. “Geschich­ten?”, zweif­le ich. “Nein, die bewir­ken nichts. Fio­na wird sie absurd fin­den.” “Na und? Es ist ja auch absurd, dass Gott die Geschlech­ter ver­teilt haben soll. Trotz­dem ver­ste­hen mit die­ser Geschich­te alle, was Sache ist.”

Ich muss grin­sen. “Also gut, Geschich­ten.” Vor dem Fens­ter sitzt eine Mei­se im Blu­men­kas­ten, pickt am Lieb­stö­ckel, und fliegt mit dem Samen davon.