
Als Gott die Geschlechter verteilt hat, bin ich zu spät gekommen. Deshalb hab ich keines. Erst dachte ich: Pech gehabt, weil mir ja etwas fehlte, später bemerkte ich dann, dass es mir gar nicht fehlt. Nur anderen fehlt es. Wenn sie mich sehen, fühlen sie sich unbehaglich. Eine Philosophin hat sogar ein Buch darüber geschrieben: Das Unbehagen der Geschlechter.
Aber ich glaube, die meisten Leute haben es nicht gelesen. Sie starren mich immer noch an und versuchen, etwas an mir zu finden, das ich nicht habe. Deshalb versuche ich, möglichst unauffällig zu bleiben. Und jetzt hat mir Prinz Almut zum Geburtstag eine Leuchtweste geschenkt!
“Oh — was mache ich damit?”, frage ich xier. “Anziehen! Dann wirst du besser gesehen. Damit du nicht angefahren wirst, wenn du im Dunkeln radelst!” “Aber ich werde doch gerade dann, wenn die Leute mich sehen, oft angefahren!” Prinz Almut lacht herzlich, dens Bauch wackelt, ich umarme xier und bedanke mich, obwohl ich die Jacke nie anziehen werde. Dabei mag ich orange. Streifen mag ich auch. Und eigentlich würde ich gerne leuchten.
Prinz Almut hat ein Gespür dafür, was Leute mögen und brauchen. Xier ist Coach, und hat sich auf Urlaubsstress spezialisiert. Dens Arbeit wird sogar von den Krankenkassen bezuschusst. Denn es kommt immer öfter vor, dass Menschen von ihrem Urlaub so gestresst sind, dass sie danach arbeitsunfähig sind.
Viele machen gar nicht richtig Urlaub, weil sie weiterhin ständig erreichbar sind. Andere sperren das Arbeitshandy in einen Safe, der sich erst am letzten Urlaubstag wieder öffnet, und haben dann den Stress, sich jetzt aber auch wirklich erholen zu müssen. Es gibt Streit mit Mitreisenden, weil es auf einmal viel mehr Zeit dafür gibt; enttäuschte Erwartungen, wenn der Berg, den man alleine besteigen wollte, von Menschen übersät ist; den Schock, in einem fremden Land zu sein, obwohl der Reiseprospekt versprochen hat, dass man sich wie zu Hause fühlen würde.
“Und was machst du mit diesen Leuten?”, fragte ich Prinz Almut. “Unterschiedlich. Manchmal bin ich die Herberge, nach der sie sich schon ihr ganzes Leben lang gesehnt haben. Oft muss ich erstmal einen Grundkurs Diversität machen. Viele glauben ja, ich würde Almut Prinz heißen. Erst wenn ich mich auf meinen Thron setze, dämmert ihnen etwas. Dann kommen die Fragen. Gestern hat wieder jemand gesagt: “Wenn Sie Prinz sind, dürfen Sie doch noch gar nicht auf den Thron!” “Tja”, meinte ich, “das ist ein Unterschied zwischen monarchistischem und anarchistischem Prinzentum! Es gibt noch ein paar mehr.”
Prinz Almut kenne ich seit zwei Jahren. Es ist allerdings das erste Mal, dass xier zu meinem Geburtstag gekommen ist. Bei meinen Geburtstagen treffen immer sehr unterschiedliche Menschen aufeinander, die ich in meinem Alltag nicht zusammen einlade, weil ich befürchte, dass sie sich nicht verstehen würden. Einmal im Jahr müssen alle miteinander klar kommen. Bis jetzt hat das geklappt.
Es klingelt, Norbert kommt die Treppe hoch, drückt mich und drückt mir etwas in die Hand, loses Papier, in dem sich etwas Festes befindet: “Tut mir Leid, ich hatte kein Klebeband mehr.” Das Einwickelpapier ist ein Kalenderblatt, eine dicke Kreuzspinne in ihrem Netz vor blauem Himmel. “Die sieht ja toll aus!” Als ich den Titel des Buches sehe, muss ich lachen. “Wer spinnt hier eigentlich?” Den Untertitel lese ich nur bis “… Genozid”, dann klingelt es wieder.
Fiona. Wir haben uns schon länger nicht mehr getroffen. Als ich sie sehe, verengt sich mein Hals, ich muss mich anstrengen, um Luft zu bekommen. “Schön, dass du da bist!” Meine Stimme klingt heiser. Sie sagt nichts, bemüht sich zu lächeln und streckt mir einen riesigen Blumenstrauß entgegen. “Danke, da suche ich gleich eine Vase für!” Ich bin erleichtert, dass ich davon huschen kann.
Als ich mit den Blumen in der Vase ins Sofazimmer komme, verteilt Latifa den Schokoladenkuchen, den sie gebacken hat, und das Nachbarkind starrt Prinz Almut an: “Meine Mama hat gesagt, du bist kein Mann und keine Frau, sondern so etwas wie ein Mann und eine Frau gleichzeitig. Wie geht das denn?” Alle schauen Prinz Almut an, die schließlich erklärt: “Ich habe einfach alles gemacht, was ich gerne machen wollte, und das waren dann Frauensachen und Männersachen und schwupps, schon war ich beides. Und noch viel mehr.” Toni schaut xier mit großen Augen an. “Bist du deshalb so dick?” Prinz Almut lacht herzlich: “Die beste Erklärung für meine Körperfülle, die ich je gehört habe. Danke!” Xier schüttelt die kleine Hand und kommt auf mich zu.
Nina platzt herein. Ich kenne sie nicht so gut, habe sie aber spontan eingeladen, als ich sie neulich beim Fahrradhändler traf. “Britta hat gesagt, dass du alles liest. Also, das ist ganz neu raus gekommen und wurde in der Zeitung euphorisch besprochen.” “Danke.” Ohne große Hoffnung zerreiße ich das Geschenkpapier.
“Darf ich mal?” Prinz Almut nimmt das Buch, liest laut: “Das große Schweigen. Warum wir immer noch viel zu wenig über den Holocaust wissen und sprechen”. Xier blättert es durch: “Ich vermisse eigentlich ein Buch über das aktuelle Schweigen in Deutschland.” Alle schweigen betreten, was der Situation etwas Absurdes gibt, nur Nina fragt nach einer Weile: “Was meinst du denn?” “Das Schweigen über den Völkermord an den Palästinenser*innen, an dem Deutschland mitschuldig ist und …” Xenia räuspert sich: “Wir als Deutsche dürfen nicht …” “Bin ich gar nicht!”, ruft Prinz Almut. “Dann wirst du das nie verstehen können”, erklärt Nicole. “Was denn, dass die Verbrechen, die die Deutschen begangen haben, ein Freibrief dafür sind, die Palästinenser*innen zu malträtieren?”
Tan-Li stößt einen schrillen Lacher aus, Fiona bedeckt ihr Gesicht mit den Händen, Nina sagt verlegen: “Wir wollen doch jetzt Geburtstag feiern”, und schaut mich an. Eigentlich wäre es eine gute Gelegenheit, um zu diskutieren, aber ich habe die Befürchtung, dass es schief geht. Thomas Akabu geht es wohl auch so. “Ich mach neuen Kaffee”, ruft er und zwinkert mir zu, als er Richtung Küche geht. Ich bemerke, dass Rona, der Cockerspaniel von Rena, die Vorderpfoten auf den Couchtisch gestemmt hat und die Sahneschüssel ausleckt. Wenigstens eine, die die Situation auskosten kann.
“Du hast das Buch nicht verstanden”, lässt sich Fiona mit müder Stimme vernehmen: “In der Holocaust Aufarbeitung geht es eben nur um den Holocaust, und nicht um etwas anderes.” Jetzt schaltet sich Norbert ein: “Du meinst, die Deutschen brauchen für jedes Volk, das Genozid erleidet, eine eigene Schulung? Es wäre doch praktisch, von einer Situation auf die andere schließen zu können. Dann müsste man nicht immer von neuem lernen.” “Wer lernt hier nichts? Hast du dich schon einmal mit deinem Antisemitismus auseinander gesetzt?” “Und außerdem verschwindet der Akkusativ aus unserer Sprache”, wirft Latifa ein. “Neulich lese ich im Bioladen: Tofu mit Kräuter. Stellt euch das vor, ohne N!”
“Tut mir Leid”, sagt sie später zu mir, “aber noch ein Antisemitismus Vorwurf hätte ich nicht ertragen. “Schon gut”, beruhige ich sie, “mir war es auch lieber so. Ich weiß nicht, ob eine Diskussion etwas gebracht hätte.” Ich habe vor meinem Geburtstag alle Demoschilder weg geräumt, und die Aufkleber auch. Dann dachte ich, das ist ja lächerlich, und habe alles wieder hingestellt. Aber als ich an Fiona dachte, habe ich ein Tuch über die Schilder gehängt.
Die Auseinandersetzungen mit ihr waren so schrecklich. Ihre Sätze klingen mir immer noch im Ohr: “Die Hamas muss weg!” oder “Ja, es gab die Nakba! Aber wahrscheinlich müssen bei jeder Staatsgründung welche weichen.” Solche Aussagen machen mich hilflos, weil ich Fiona darin nicht wiedererkenne. Sie, die sich für Menschenrechte einsetzt und Asylsuchende vor Abschiebung schützt, lässt keinerlei Sympathie für Palästinenser*innen erkennen. Jahrelang hat sie sich dafür engagiert, dass Geflüchtete nicht in Lagern leben müssen, aber die viel schlimmeren Lebensbedingungen unter israelischer Besatzung lassen sie kalt und für den Widerstand dagegen bringt sie kein Verständnis auf. Wie passt das in ein und denselben Menschen hinein?
Ach, ich möchte mit Fiona befreundet bleiben! Und ich dachte, wir hätten eine stabile Grundlage dafür. Aber im Moment fühlt sich unsere Freundschaft wie ein Stapelturm an, den ein Anstoß ins Wanken gebracht hat.
Bei unserem letzten Telefonat konnten wir einander kaum ausreden lassen. “Warum findest du das nicht schrecklich”, warf ich ihr vor, “dass Deutschland angeklagt ist, einen Genozid -” “Ob es Genozid ist, muss erst überprüft werden. Außerdem, es gibt Schlimmeres, mit viel mehr Toten, im Sudan, im Kongo …” “Da gibt es aber nicht so eine direkte Mitverantwortung von Deutschland. 30 Prozent der Waffenlieferungen…” “Man muss auf den 7. Oktober reagieren. Dieses Massaker -” “Ich kann es nicht fassen, dass du nur die Sichtweise der Israelis übernimmst!”
“Da liegst du falsch, ich bin für beide Seiten. Sowohl als auch. Aber du musst doch zugeben, dass der 7. Oktober ein einzigartig schreckliches Massaker war.” “Es war das schlimmste Massaker, das die Israelis von palästinensischer Seite erlitten haben”, stimmte ich ihr zu. “Verübt haben sie aber sehr viel schlimmere Massaker, und das auch schon lange vor dem 7. Oktober.” Fiona war so außer sich, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Geschrien und geweint hatte sie, und ich wusste noch nicht einmal, warum. Ich hatte ja nichts Neues gesagt.
Es war Fionas Vorschlag gewesen, nicht mehr darüber zu reden. Mir wäre eine Verständigung lieber gewesen, aber ich wusste auch keinen anderen Ausweg. Wir schrieben uns nur noch Belangloses oder Erzählungen von der Arbeit. Als sie mir dann eine Einladung zur Friedensdemo schickte, habe ich mich gefreut. Gemeinsam für Frieden demonstrieren schien mir eine gute Annäherung zu sein.
Doch dann musste ich mich zum ersten Mal für sie fremdschämen. Als während der Kundgebung ein Palästinenser ans Mikro tritt, klatscht sie nicht einmal höflichkeitshalber zur Begrüßung. Er hat noch kein Wort gesagt, schon schlägt ihm Abneigung von Fiona und vielen anderen entgegen. Und während er etwas zur grauenhaften Situation in Gaza erzählt, reagiert Fiona auf ihn, als wäre er ihr Feind.
Ich vermisse Fiona. Selbst jetzt, als sie nur drei Meter entfernt an meinem Schreibtisch steht, wo auf einem roten Tuch die Geschenke liegen, ist sie so weit von mir entfernt, als würden sich Berge zwischen uns erheben. Und tatsächlich liegen zwei Länder zwischen uns: Israel und Palästina. Fiona hebt die Leuchtweste hoch, lacht und sagt zu Rena: “Die wird xier nie anziehen.” Dieser Satz, der mich sonst amüsiert hätte, weil Fiona mich so gut kennt, macht mich auf einmal wütend und traurig. Ich habe das Gefühl, Prinz Almut verteidigen zu müssen, und als Fiona weitergeht, um sich Tee nachzuschenken, eile ich zum Schreibtisch und nehme die Leuchtweste an mich, als ob sie in Gefahr wäre.
Fiona schneidet zwei Stücke Kuchen ab, geht mit den beiden Tellern zu den Stühlen am Fenster und setzt sich zu Luis, mit dem sie schon seit Jahren in einer Hausgemeinschaft wohnt. Wer weiß, vielleicht gehen sie nachher zusammen nach Hause und reden darüber, wie seltsam ich geworden bin.
Es war immer schwer, ausgegrenzt zu werden, aufgrund dessen, was ich nun einmal bin. Und jede weitere Ausgrenzung stößt an die Wunde der ursprünglichen. Es wäre einfacher gewesen, mich an den Linken-Mainstream anzupassen. Mich nicht zu engagieren, sondern mich Fiona anzuschließen, die Ausgewogenheit für das wichtigste Gebot der Zeit hält. Sie hat zu mir gesagt, dass Aufregung nichts nützt, alles müsste ruhig und gründlich geprüft und überlegt werden. “Was hast du auf einmal mit Palästina?”, fragte sie mich. “Das hat dich doch früher auch nicht interessiert.”
Tatsächlich war es ein Unrecht, das nur am Rande meiner Wahrnehmung existierte. Erst das Schweigen in Deutschland, zur offenen Ankündigung eines Genozids, zu den Bombardierungen, den massiven Verletzungen des Völkerrechts, haben mich so getroffen. Und als ich einmal das Buch “Breaking the Silence” angefangen hatte, in dem israelische Soldat*innen von den täglichen Demütigungen der Palästinenser*innen, den Schikanen und Verbrechen der eigenen Armee berichten, habe ich immer weiter gelesen und Infos von verschiedenen Kanälen gesammelt.
Und ich habe mich geschämt, dass ich das Thema vorher so ausgeklammert habe, nur weil es mir kompliziert erschien. In Wirklichkeit ist es nicht komplizierter als andere Themen, es ist nur viel schwieriger, sich für Palästinenser*innen einzusetzen als für andere unterdrückte Gruppen. Weil Palästinenser*innen von vielen Linken, und von Rechten sowieso, in erster Linie als Täter*innen gesehen werden.
Ich schneide mir auch ein Stück vom Schokoladenkuchen ab. Damals hat Fiona gerade mit Nicole angebandelt. Aber ich hab diese Entwicklung auch ein bisschen vor ihr geheim gehalten. Weil ich schon das Gefühl hatte, dass sich da was bei ihr sträubt. Denn sie ist ja nicht alleine mit ihrer Haltung. Ihre ganze Hausgemeinschaft, alle mehr oder weniger politisch aktiv, hält sich von Palästina Demonstrationen fern. In Italien gab es einen Generalstreik für die Beendigung des Genozids und hier in Deutschland fehlt einem großen Teil der Linken das selbstverständliche auf der Seite der Schwachen stehen, wie in allen anderen politischen Konflikten. “Und was bedeutet das denn”, sage ich laut.
Alle sehen mich an, Gespräche verstummen. Erst jetzt bemerke ich, dass ich die Leuchtweste angezogen habe. Und als ich an ihr zerre, um sie auszuziehen, fängt die Weste an zu blinken! Egal, denke ich und rede weiter: “Wenn so viele einem Genozid zusehen ohne dagegen einzutreten? Die Opfer Terroristen nennen und ihr Leid verharmlosen und die Täter*innen straffrei ausgehen lassen, weil sie ihre Verbrechen zur Verteidigung brauchen? Was bedeutet das für uns alle, für unser Zusammenleben?”
Meine Geburtstagsgäste sehen mich erstaunt an, weil ich sonst keine Reden halte, aber jetzt bin ich nicht mehr zu bremsen: “Wir müssen diese Fragen stellen, wir haben Verantwortung angesichts dieses Völkermords. Denn jede Handlung ist politisch, das Protestieren genauso wie das Schweigen.”
Ich habe vor Aufregung begonnen, den Kuchen auf meinem Teller zu kneten, sodass Brocken davon zu Boden fallen. Der Hund stürzt sich darauf, Rena schreit: “Nein, Rona! Du stirbst, wenn du Schokolade isst!”
Alle geraten in Bewegung, Rona wird gepackt, ihr Maul gequetscht und geschüttelt, damit sie alles ausspuckt, der Hund jault, es dröhnt, weil jemand den Staubsauger eingeschaltet hat, Rena packt mich an der Schulter: “Hast du Kohletabletten?” “Nein, tut mir Leid…” “Oh, Gott, hat jemand ein Auto? Heute ist noch dazu Samstag, wir müssen zum Notdienst!”
Nicoles Stimme schrillt: “Was führst du dich so auf?” Ich bin erschrocken darüber, wie sie mit Rena redet, aber dann wird mir klar, sie meint mich. “Alle finden die humanitäre Katastrophe in Gaza schrecklich. Wir wissen, dass Israel vom guten Weg abgekommen ist. Deshalb braucht man aber nicht so einen Aufstand zu machen, und israelische Künstler auszuladen, das ist das Allerletzte, das erinnert an Bücherverbrennungen!”
“Aber, in Gaza”, stottere ich, “das erinnert nicht nur an Bücherverbrennungen, das sind wirklich welche! Alle großen Bibliotheken wurden verbrannt, die Schulen und Universitäten …” Ich suche Fionas Blick, aber sie hat sich abgewendet. “Eine Terrororganisation”, weist Nicole mich zurecht, “muss man bekämpfen. Mir tut es wirklich leid um die Leute in Gaza, aber …”
“Ach, lass sie doch!”, sagt Fiona zu ihr, und es klingt, als ob bei mir nichts mehr zu retten wäre. Das macht mich wütend. “Wer macht denn den Terror?”, schreie ich. “Israel hat den Waffenstillstand gebrochen, schon wieder, und hat immer noch 10.000e Geiseln, auch Kinder, die gefoltert werden. Und die Leichen, die sie zurückgeben, denen fehlen Organe …”
Fiona hat ihre Jacke an. “Tut mir Leid, wir müssen”, sagt sie. “Bleib doch noch”, bitte ich sie, aber es klingt nicht überzeugend. “Ich muss Luis helfen.” Sie hakt ihn ein, er hüpft die Treppe auf einem Bein hinunter. Was hat er? Habe ich etwas nicht mitbekommen? Bin ich vielleicht wirklich ignorant, kann Luis nicht wahrnehmen und das Leid der Israelis auch nicht? Und wer weiß, was ich an Fiona übersehen habe, in all den Jahren.
“Organe!”, zischt Nicole, “du glaubst auch alles.” Sie folgt Fiona und Luis. Ich sage nichts, weil ich mir meiner Quellen sicher bin. Unter anderem ein israelischer Arzt, der berichtet hat, dass seit der ersten Intifada bei jeder Auseinandersetzung mit Palästinenser*innen das Angebot an Organen erheblich steigt.
Ich sehe die drei in der Treppenschlucht verschwinden und denke an die vielen Organ-Verpflanzungen, an all die palästinensischen Herzen, die Lungen, die Nieren und die Gedärme, Teile von Ermordeten, denen auch im Tod keine Ruhe gegönnt wird, und die nur die Chance haben, in israelischen Körpern weiter zu leben, und an die Israelis, die wahrscheinlich nichts davon wissen, dass sie palästinensische Anteile in sich tragen.
Und ich wusste nichts davon, was für Anteile Fiona in sich trug. Jahrelang waren wir auf denselben Demos, haben die gleichen Petitionen unterschrieben, waren mehr oder weniger einer Meinung, und auf einmal klafft ein Abgrund zwischen uns. Ein Gespenst war aufgetaucht und hatte mir Fiona abspenstig gemacht.
Xenia umarmt mich. “Ich geh mit ihnen”, sagt sie entschuldigend, und fügt ein halbherziges: “Wir sehen uns!” hinzu. Traurig bleibe ich in der offenen Tür stehen. “Es tut mir so Leid!”, ruft Nina, “dass mein Geschenk so viel ausgelöst hat!” “Du kannst nichts dafür”, sage ich. “Es war alles vorher schon da.”
Etwa die Hälfte meiner Geburtstagsgäste hat sich verabschiedet; vielleicht um Rena und Rona zu unterstützen, oder weil sie nicht über das Thema sprechen wollen. Vielleicht fanden sie mich auch peinlich. Zum Glück habe ich Übung darin, peinlich zu sein.
“Habe ich etwas falsch gemacht?”, Ich lasse mich neben Prinz Almut aufs Sofa sinken. “Du warst ganz authentisch”, gibt xier zur Antwort. Trotzdem fühle ich mich elendig. “Wird sich das alles einmal ändern? Ich meine, wird es so, wie Omar El Akkad geschrieben hat: “Eines Tages werden alle schon immer dagegen gewesen sein”?” “Nein, ich glaube nicht. Diejenigen, die sich jetzt nicht für Palästinenser*innen einsetzen, werden einfach so weiterleben wie vorher, genauso, wie diejenigen, die sich vor 80, 90 Jahren nicht für jüdische Menschen eingesetzt haben. Und das wird viel einfacher als damals sein, denn der Genozid an den Palästinenser*innen wird nie so verurteilt werden wie der Holocaust.”
Alejandra dreht die Musik auf, beginnt mit Ihsan und Norbert zu tanzen, Thomas Akabu räumt die Kuchenteller ab. Es wird viel Essen übrig bleiben. “Warum sehen unsere Freund*innen nicht das, was wir sehen?” Xier legt den Arm um mich, ich lasse meinen Kopf auf dens Schulter sinken. Xier sagt nichts, ich erwarte auch keine Antwort, wir haben so oft darüber geredet, und haben so viele Erklärungen gefunden und letztendlich keine. “Es tut so weh, alles.” “Ja. Und das ist wahrscheinlich auch ein Grund für das Schweigen zum Völkermord: diese Schmerzen nicht spüren zu wollen, und die Ohnmacht.” Xier streicht mir übers Haar, seufzt.
“Warum rührt jemand wie Fiona mit so einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit keinen Finger angesichts der Straflosigkeit bei allen Verbrechen, die Israel begeht? Für alle Unterdrückten würde sie sich einsetzen, nur für die Palästinenser*innen nicht.” “FAUNAP”, sagt Prinz Almut, dens ein Faible für Akronyme hat. “Was?”, frage ich verwirrt. “Für Alle UNterdrückten Außer Palästinenser*innen: FAUNAP”
“FAUNAP. Gute Idee, einen Namen dafür zu haben.” “Was ist FAUNAP?”, fragt Nina und setzt sich in den Sessel neben uns. “Das sind Menschen, die sich für Unterdrückte einsetzen, aber Palästinenser*innen nicht zu den Unterdrückten zählen, und die jüdische Israelis bzw jüdische Menschen allgemein nicht den Mächtigen zuordnen. Sie bleiben ewig Opfer. Deshalb können die Opfer dieser Opfer keine Opfer sein, sondern müssen als Täter*innen gesehen werden.”
Nina runzelt verwirrt die Stirn. “Aber das ist doch total verdreht!” “Die ganze Konstruktion ist ein Lügengebäude!”, bricht es aus mir heraus. “Und ich verstehe nicht, dass gerade Fiona, der Ehrlichkeit so wichtig ist — oder”, fällt mir dann ein, “vielleicht gerade deshalb. Sie erfindet zum Beispiel nie Ausreden und erwartet immer, dass alle die Wahrheit sagen. Sie ist nicht geübt darin, Lügen zu durchschauen.” Prinz Almut nickt. “Und an Lügen, die einen Teil unserer Identität ausmachen, halten wir am stärksten fest.”
“Ich hab jetzt nicht alles verstanden”, sagt Nina, “aber ich würde schon gerne mehr darüber wissen.” “Prima!” Ich hole den Flyer von der Mahnwache und drücke ihn ihr in die Hand. “Du kannst mich gerne fragen, ich kann dir Bücher leihen, Veranstaltungshinweise schicken …” “Äh … ja, warum nicht?” Sie lächelt mich an, steckt den Flyer in ihre Hosentasche und schließt sich den Tanzenden an.
Prinz Almut und ich bleiben noch eine Weile sitzen, dann rufe ich, “Aber man kann doch kein friedlicher und gerechter Mensch sein und gleichzeitig die Idee unterstützen, dass ein Volk mehr Recht hat zu existieren und zu überleben als ein anderes! Ich muss Fiona überzeugen, wieder eine FAUN zu werden. Aber wie?” “Mit Geschichten”, sagt Prinz Almut. “Geschichten?”, zweifle ich. “Nein, die bewirken nichts. Fiona wird sie absurd finden.” “Na und? Es ist ja auch absurd, dass Gott die Geschlechter verteilt haben soll. Trotzdem verstehen mit dieser Geschichte alle, was Sache ist.”
Ich muss grinsen. “Also gut, Geschichten.” Vor dem Fenster sitzt eine Meise im Blumenkasten, pickt am Liebstöckel, und fliegt mit dem Samen davon.
