Die Blindschleichenzange

Hier kannst du vier Sze­nen aus mei­nem Roman “Die Blind­schlei­chen­zan­ge” lesen.

Gummischläuche, ineinander verschlungen

Vor­ne­weg die Mut­ter, hin­ter­drein der klei­ne Bru­der, in der Mit­te die gro­ße Schwes­ter, danach die schwar­ze Kat­ze, dann ein Stück ver­schlamm­ter Stra­ße, dann ich.
Hügel­auf­wärts, rechts in die Kas­ta­ni­en­al­lee, an der Auf­fahrt zum Lun­gen­kran­ken­haus vor­bei, in den Wald hin­ein. „Auf­pas­sen!“, hat­te der Vater gesagt. „Nichts anfas­sen! Nichts essen! Nichts ein­at­men!“
Weil hier die Lun­gen­kran­ken her­um­gin­gen und ihre Krank­heit über­all hin­spuck­ten. Sie konn­ten nicht anders. Sie hat­ten immer Spuck­reiz. Und in jedem ihrer Spei­chel­tröpf­chen Mil­lio­nen Aber­mil­lio­nen Bazil­len und Bak­te­ri­en. Man muss­te es ihnen las­sen, das im Wald Her­um­ge­hen und Spu­cken, weil es ihre ein­zi­ge Lebens­freu­de war. Man muss­te aber höl­lisch auf­pas­sen, sich nicht anzu­ste­cken, nicht so zu wer­den wie sie.
Den stei­len Weg hin­auf: das konn­ten die Lun­gen­kran­ken nicht. Die Mut­ter gab uns ein Zei­chen. Wir atme­ten wie­der, stürm­ten den Weg hoch, schrien vor Erleich­te­rung, und rann­ten rann­ten rann­ten, weg von den Lun­gen­kran­ken; wäh­rend die Mut­ter, weit zurück­ge­blie­ben, sich auf eine Bank setz­te und die Augen schloss.
So fan­den wir sie, als wir zurück­kehr­ten: im rot­ge­blüm­ten Kleid, mit dem wei­ßen gehä­kel­ten Hut, son­nen­ge­bräunt. Sie schlug die Augen auf und lächel­te den Bäu­men zu. Blät­ter und Blu­men lieb­te sie, und alle, die bunt durch die Luft flo­gen: den Stieg­litz, den Gim­pel, den Storch und das Eich­kätz­chen.
Ich woll­te so ger­ne blü­hen! Oder Federn haben, um bunt durch die Luft zu flie­gen! Aber ich gehör­te zu den Boden­tie­ren. Mei­ne Knie knick­ten ein, ich fiel bäuch­lings ins Laub.
Die Mut­ter stand auf: das Zei­chen zum Wei­ter­ge­hen. Ich kam nicht hoch. Sie stan­den um mich her­um. Alle waren grö­ßer als ich, die Mut­ter, die Schwes­ter, sogar der Bru­der, obwohl er erst drei war. Ich war zwei Jah­re älter als er, aber ich konn­te nicht mehr ste­hen, ich muss­te getra­gen wer­den.
Die Mut­ter sah zu mir her und ein paar Augen­bli­cke lang glänz­te ich unter ihrem zor­ni­gen Blick. Dann wand­te sie sich ab. Ich wur­de kalt und unbe­weg­lich. Schließ­lich ging sie; und mit ihr die Geschwis­ter.
Schwe­re Luft sam­mel­te sich über mir und ich ließ den Kopf sin­ken, roch die nas­se Erde. Sie gin­gen … sie dreh­ten sich nicht um. Nur die schwar­ze Kat­ze blieb ste­hen und woll­te mir hel­fen. Sie setz­te sich und streck­te ihren Hin­ter­fuß senk­recht nach oben. Und auf ein­mal konn­te auch ich mich auf­rich­ten, auf­ste­hen und lau­fen. Und Anschluss fin­den an drei stum­me Rücken.
Durch den Lun­gen­kran­ken­wald. Am Park­platz vor­bei. Die Allee ent­lang.
Hügel­ab­wärts blieb die Mut­ter ste­hen und deu­te­te auf eine Stel­le im Stra­ßen­gra­ben: „Hier“, sag­te sie und war­te­te auf mich, damit ich wuss­te, dass ich gemeint war — aber ich wuss­te sowie­so schon, dass ich gemeint war.
Die Kat­ze stell­te die Ohren auf, duck­te sich; ihre Nase zuck­te, der Schwanz ging hin und her. Auf der ande­ren Sei­te des Stra­ßen­gra­bens raschel­te es, und die Mut­ter wen­de­te den Kopf. Im Laub ein blin­zeln­des Auge, ein Gezün­ge­le, die Wel­len­be­we­gung einer fein geschupp­ten Haut. Eine Blind­schlei­che.
Wenn zu Hau­se, an der Auf­fahrt, die Blind­schlei­chen in der Stein­mau­er lagen, war die Mut­ter ent­zückt dar­über, wie geschickt sie sich in die Spal­ten zwi­schen den Stei­nen geschmiegt hat­ten. Wie sie in der Son­ne glit­zer­ten.
Aber wenn die Mut­ter in der Früh in den Gar­ten ging, um die Wäsche auf­zu­hän­gen, moch­te sie es nicht, auf die Blind­schlei­chen zu tref­fen, die im tauf­euch­ten Gras her­um lagen. Die Blind­schlei­chen moch­ten es viel­leicht auch nicht, die Mut­ter zu tref­fen und spit­ze Schreie zu hören; aber weil bei ihnen mor­gens das Blut noch so lang­sam war, konn­ten sie nicht weg.
Die Mut­ter hat­te eine Grill­zan­ge in eine Blind­schlei­chen­zan­ge umge­wan­delt, indem sie die Zan­gen­ba­cken gepols­tert und die Grif­fe ver­län­gert hat­te. Mit die­sem Gerät konn­te die Mut­ter, ohne sich zu bücken, eine Blind­schlei­che um die Lei­bes­mit­te fas­sen und sie außer­halb des Gar­tens abset­zen.
Die Mut­ter woll­te sie aus dem Weg haben, weil sie Angst hat­te vor ihren Bewe­gun­gen, vor dem Geschlän­ge­le. Die Blind­schlei­chen woll­ten sich aber frei bewe­gen, sich schlän­geln, wie es ihre Art war. Und sie brauch­ten etwas Fes­tes unter ihrem Bauch, um sich wohl­zu­füh­len. Sie moch­ten es nicht, hoch­ge­ho­ben zu wer­den, weg von der Erde.
Ich moch­te es auch nicht, am Stra­ßen­gra­ben zu ste­hen, neben der Mut­ter im rot­ge­blüm­ten Kleid, die auf eine Stel­le deu­te­te. Ich hät­te mich ger­ne in den Spal­ten zwi­schen den Stei­nen ver­kro­chen. Aber da sag­te sie schon: „Hier habe ich dich gefun­den. Als du noch ganz klein warst.“
Hier also. Ein beto­nier­tes Halb­rund; dar­in Geröll, Laub, Zwei­ge; tro­cke­ne Nadeln, ver­hut­zel­te Brom­bee­ren und feuch­te Schlamm­schlie­ren – hier war ich her.
Die Backen der Blind­schlei­chen­zan­ge leg­ten sich, kalt und weich, an Bauch und Rücken; sie drück­ten zu, hoben mich hoch ins glei­ßen­de Nichts. Die Vögel schrill­ten, mei­ne Fin­ger spreiz­ten sich. „Wer­mut­Wer­mut­Wer­mut“, zähl­te ich in mir drin, und wie bei die­sem unmä­ßig bit­te­ren Tee half das Zäh­len, es aus­zu­hal­ten: „Wer­mut Wer­mut Wer­mut“.
Manch­mal, wenn die Mut­ter die Blind­schlei­chen hoch hob – die Zan­ge glänz­te in der Son­ne — wur­de das Blind­schlei­chen­blut schnel­ler und die Schlei­che beweg­te Kopf und Schwanz. Das, was sie eben bewe­gen konn­te. Sie kroch in der Luft. Aber was am Boden ele­gant aus­sah, wirk­te an der hoch geho­be­nen Blind­schlei­che lächer­lich, hilf­los: Bewe­gun­gen ins Lee­re hin­ein. Denn ganz gleich, ob sie starr blie­ben oder zap­pel­ten: alle Blind­schlei­chen, die im Weg waren, wur­den außer­halb des Gar­tens abge­setzt.
„Wer­mut Wer­mut Mut Mut“ Ich hielt still und brems­te mein Blut, weil Zap­peln sinn­los war. Ich tat so, als wür­de es mir nichts aus­ma­chen, vom Boden weg geho­ben und durch die Luft geschwenkt zu wer­den. Dabei hing ich an der Mut­ter­zan­ge mit einer wun­den Wut und vol­ler Sehn­sucht nach Befrei­ung. Und ich schäm­te mich. Ich wuss­te aber nicht, war­um.
Die Zan­ge schwenk­te mich. „Wer­mut Wer­mut- “ Sie ließ los. Ich fiel auf den Boden zurück, ver­kroch mich.
„Dich habe ich im Stra­ßen­gra­ben gefun­den.“ Sie sag­te es hin und wie­der, die Mut­ter. Manch­mal böse, manch­mal auch leicht­hin, so, als ob es nichts bedeu­te­te. Aber es bedeu­te­te, dass etwas mit mir nicht stimm­te. Und dass ich des­halb ruhig sein soll­te. Weni­ger Recht hat­te. Es bedeu­te­te auch, dass ich nicht ganz zur Mut­ter gehör­te. Dass sie mich jeder­zeit zum Stra­ßen­gra­ben zurück­brin­gen konn­te.
Schließ­lich hat­te ich die Mut­ter gefragt, wo sie mich gefun­den hat­te. Hier also. Hier war ich ent­stan­den. In die­ser hal­ben Röh­re zwi­schen Stra­ße und Wald. Ganz klein. Ein Stein­derl, ein Klum­perl, ein Zwei­gerl mit Brom­beer­kopf.
Die Kat­ze sprang mit einem Satz über den Stra­ßen­gra­ben, hieb ihre Kral­len in die Rin­de einer Tan­ne. „Und ich?“ frag­te der Bru­der. „Wo hast du mich gefun­den?“
„Dich haben wir nicht gefun­den“, beschied die Mut­ter, „du bist im Kran­ken­haus gebo­ren wor­den.“
„Nein.“ Der Bru­der zupf­te die Mut­ter am Kleid: „Du erzählst Schmäh.“
Aber die Mut­ter wie­der­hol­te: „Du bist im Kran­ken­haus gebo­ren wor­den.“
Das Bru­der­ge­sicht ver­zog sich, Trä­nen lie­fen aus Augen und Nase, er plärr­te.
„Was hat er denn schon wie­der“, sag­te die Mut­ter, rat­los, in den Him­mel hin­ein. Sie sah uns nicht an, erwar­te­te kei­ne Hil­fe von uns. Ohne­hin gibt es kei­ne Hil­fe für eine Mut­ter.
Die Kat­ze umkrall­te die Tan­ne und klet­ter­te an ihr hoch; sie ging ger­ne mit spa­zie­ren, aber das Ste­hen­blei­ben moch­te sie nicht, die­ses Men­schen­her­um­ge­ste­he.
Schließ­lich nahm die Mut­ter ein Taschen­tuch und wisch­te dem Bru­der das Nas­se aus dem Gesicht.
Die Schwes­ter warf ihre lan­gen Haa­re zurück und wur­de huge­not­tisch. Das mach­te sie, seit sie zehn war, und in die Haupt­schu­le ging, und dort eine neue Leh­re­rin hat­te. Die Leh­re­rin hat­te die Schwes­ter gefragt, ob sie von den Huge­not­ten abstam­men wür­de, bei dem Fami­li­en­na­men. Die Schwes­ter hat­te „Ja“ gesagt und kam auf­ge­regt nach Hau­se. Aber die Mut­ter sag­te „Nein“, und der Vater sag­te auch „Nein“. Der Bru­der und ich zähl­ten nicht. Also blieb die Schwes­ter die ein­zi­ge in der Fami­lie, die von den Huge­not­ten abstamm­te.
Jetzt riss sie vom Hasel­nuss­strauch einen Zweig ab und fächel­te sich damit. „Huge­not­ten wer­den immer hoch oben gebo­ren“, erklär­te sie, „auf Baum­spit­zen, auf Berg­gip­feln.“
Die Schwes­ter schau­te zu den Ber­gen hin, ich starr­te in den Stra­ßen­gra­ben und dem Bru­der lief der Rotz aus der Nase. Spä­ter erzähl­te er mir den Grund dafür: Im Kran­ken­haus waren doch die Lun­gen­kran­ken, vor denen der Vater uns immer warn­te. Der Boden war dort glit­schig vor Spu­cke und in den Bet­ten wim­mel­ten Bazil­len und Bak­te­ri­en.
Die Mut­ter gab das Zei­chen zum Wei­ter­ge­hen, und so gin­gen wir: vor­ne­weg die Mut­ter, hin­ter­drein der ver­rotz­te Bru­der, in der Mit­te die hoch­ge­bo­re­ne Schwes­ter, dahin­ter die schwar­ze Kat­ze, dann ein Stück ver­schlamm­ter Stra­ße, dann ich.
Ein paar Tage spä­ter ging ich allein zum Stra­ßen­gra­ben, schob die Stei­ne zur Sei­te, durch­wühl­te das Laub: hoff­te auf ein ande­res Men­schen­zweig­lein, ein Stra­ßen­gra­ben-Geschwis­ter.
Als ich acht war, zog ich eine Schub­la­de auf und fand in einer dicken Map­pe mei­ne Geburts­ur­kun­de, auf der stand, dass ich im Maria-Hilf-Kran­ken­haus zur Welt gekom­men war. Schnell schob ich die Schub­la­de wie­der zu; ich rede­te mit nie­man­dem dar­über; mir war den gan­zen Tag schwin­de­lig.
Die Geburts­ur­kun­de half mir nicht. Die Mut­ter konn­te mich trotz­dem mit der Blind­schlei­chen­zan­ge packen und im Stra­ßen­gra­ben abset­zen.
Manch­mal rech­ne­te ich damit. Manch­mal traf es mich unvor­be­rei­tet. Und manch­mal war die Mut­ter gar nicht da, und trotz­dem hob mich etwas hoch und ließ mich zap­peln.
Ich kam nicht weg von der Mut­ter­zan­ge. Sie war eine stär­ke­re Ver­bin­dung als eine Umar­mung.
Mit 16 warf ich der Mut­ter vor: „Im Maria-Hilf-Kran­ken­haus bin ich zur Welt gekom­men, da stehts drin, in mei­ner Geburts­ur­kun­de, und du hast immer gesagt, ich käm ausm Stra­ßen­gra­ben!“
Die Mut­ter schau­te nur kurz vom Kreuz­wort­rät­sel auf: „Wenn du meinst“, sag­te sie, „dann bist halt im Maria-Hilf-Kran­ken­haus gebo­ren.“
Aber was soll­te ich mit einem Non­nen-Kran­ken­haus! Mit Neon­röh­ren und Nabel­schnur! „Das könn­te dir so pas­sen“, schrie ich die Mut­ter an, „mir so einen Scheiß Kreiß­saal anzu­dich­ten! Du weißt genau, dass ich aus dem Stra­ßen­gra­ben bin! Das hät­test ger­ne, dass ich aus dir her­aus­ge­kom­men wär! Dabei hab ich nix, aber auch gar nix mit dir gemein­sam!“
Die Mut­ter füll­te ihr Rät­sel aus; sah nicht auf, sag­te nichts. Weil einer Mut­ter nicht zu hel­fen ist.
Und ich stand da, mit hän­gen­den Schul­tern, und schäm­te mich, weil mei­ne Wut mich nicht trug. Weil sie sich auf­lös­te und ich weich und wab­be­lig wur­de.
Schließ­lich habe ich mich dem Stra­ßen­gra­ben zuge­wandt. Und gemerkt, dass ich mit ihm tat­säch­lich enger ver­wandt bin als mit der Mut­ter.
Jetzt bin ich selbst ein Stra­ßen­gra­ben. Ich blei­be neben der Stra­ße, neben der Spur, und lass die Was­ser durch mich hin­durch rau­schen: Gewit­ter­re­gen­flu­ten, Sturz­bä­che von geschmol­ze­nem Schnee; ein Wal­len, Tosen, Flie­ßen, über­all Strö­men. Dann Son­nen­hit­ze, Rinn­sa­le, die ver­si­ckern, Schlamm, Tro­cken­heit. Was mit­ge­spült wur­de, lagert sich ab. Das Gesam­mel­te zer­brö­selt, zer­fällt oder ver­krus­tet zu Mus­tern. Schließ­lich ein Wol­ken­bruch, ein Was­ser­sturm, der alles löst und mit sich reißt, durch mich hin­durch; bis ich mit allen Was­sern gewa­schen bin.

Eine Tür hoch wie ein Baum. Der Vater hielt sie uns auf – der Schwes­ter, dem Bru­der und mir. Drin­nen ein dicker Vor­hang. Wir such­ten die Lücke zwi­schen sei­nen Hälf­ten und schlüpf­ten ins Dun­kel. Hand an den Kopf, an den Bauch, lin­ke Schul­ter, rech­te Schul­ter: alles noch da.
Es wur­de ein biss­chen hel­ler. Vor uns stan­den Leu­te. Die Sitz­plät­ze alle besetzt, wie immer. Ganz vor­ne Licht. Da rede­te einer so laut, dass man es auch hier hin­ten hör­te. Ver­ste­hen konn­te ich es nicht.
Die Hand ins kal­te Wasch­be­cken hin­ein, mit dem Was­ser übers Gesicht gewischt: Ah! Es schüt­tel­te mich. Und noch­mal: Ah! Und Ah!
Bis die Vater­hand mich weg­zog und kurz fest­hielt, bevor die Vater­hän­de sich wie­der anein­an­der leg­ten, so, dass jeder Fin­ger an sei­nem Zwil­ling lehn­te und ihm gleich­lang war. Ich tat es dem Vater nach. Die Fin­ger­spit­zen soll­ten nach oben zei­gen. Man durf­te sie an der Nase able­gen. Vor dem Mund ent­stand eine klei­ne Höh­le; ich hauch­te Wär­me hin­ein.
Vor mir Hosen­bei­ne, Strumpf­bei­ne, Röcke, Män­tel­rü­cken, Jacken­rü­cken, gebeug­te Köp­fe. Musik füll­te mei­ne Ohren, den Kopf, die Brust, und drang bis zu den Knien – nur die kal­ten Füße konn­te sie nicht errei­chen.
Auf dem Fuß­bo­den gab es rote und graue Karos. Hoch oben waren bun­te Fens­ter und Bil­der. „Nur Nar­ren­hän­de bema­len Tisch und Wän­de“, sag­te die Groß­mutter. Hier hat­te die Nar­ren­hand sogar die Decke ange­malt.
„Groo­ßerGoott wir loo­ben dich“, san­gen sie vor­ne. Hier hin­ten wur­de zöger­lich mit­ge­macht. Allein der Vater sang sehr laut: „Groo­ßerGoott-“ Dann rede­te wie­der einer: Mar­tha soll­te etwas nicht tun: „Mar­tha tu mir nie donapro­no­bis.“
Still­ste­hen, nach vor­ne gucken. Alles ande­re hat­te der Vater ver­bo­ten: Auf einem Bein von Karo zu Karo hüp­fen. Die gedop­pel­te Fin­ger­spit­zen­lan­ze der Schwes­ter zwi­schen die Rip­pen sto­ßen. Mit der hoh­len Hand aus dem Wasch­be­cken schöp­fen und dem Bru­der Eisig­kal­tes in den Nacken schüt­ten.
Alles pas­sier­te dort vor­ne, hier hin­ten nichts. Nur ein­mal kam der Mann mit dem lan­gen Ste­cken vor­bei. Er hielt ihn waag­recht; am Ende bau­mel­te ein Spar­schwein aus Stoff. Die Flä­che oben­drauf war glatt und gol­den, mit einem Schlitz dar­in. In den Schlitz steck­ten alle Geld rein. Der Bru­der, die Schwes­ter und ich, wir woll­ten auch Geld rein­ste­cken und der Vater gab jedem von uns ein Stück. Wir freu­ten uns, dass wir end­lich etwas tun konn­ten. Der Vater freu­te sich, dass wir dem Mann Geld in sein Spar­schwein ste­cken woll­ten. Er strei­chel­te uns über die Haa­re und sah aus, wie wenn die Groß­mutter ihm ein Stück Apfel­stru­del hin­stell­te.
Dann pas­sier­te wie­der lan­ge nichts. Still­ste­hen, Nichts­tun. Die­ses Erwach­se­nen­her­um­ge­ste­he. Aber man muss­te es dem Vater las­sen, die­ses War­ten im Dun­keln am Sonn­tag; weil er auf etwas Schö­nes war­te­te. Wäh­rend ich mich lang­weil­te, sah er zufrie­den aus, und sei­ne Augen leuch­te­ten. Ich lehn­te mich vor­sich­tig an ihn, drück­te mein Gesicht an den rau­en Stoff sei­ner Hose, roch sein Haar­was­ser und war kurz­zei­tig getrös­tet.
Abends, wenn er im Schau­kel­stuhl saß, durf­te ich den Vater käm­men. Ich stell­te mich auf den Hocker und fuhr mit dem Kamm durch sei­ne Haa­re wie durch ein schwar­zes Gewäs­ser. Hier­hin und dort­hin warf ich die Wel­len, und ließ das Was­ser hoch sprit­zen. Die Was­ser­sträh­nen gehör­ten zum Vater; sie hat­ten aber auch ein Eigen­le­ben, etwas Unge­stü­mes. Sie lieb­ten es, von mir zer­zaust zu wer­den.
Ich schau­te am Vater hoch: jetzt lagen sei­ne Haa­re glatt und geschei­telt. Der Vater blieb nicht lan­ge wild. Wenn ich mit dem Käm­men fer­tig war und vom Hocker klet­ter­te, nahm er den Kamm und strich die Haa­re wie­der dort­hin, wo sie vor­her gewe­sen waren.
Wenn die Mes­se nur nicht so lan­ge gedau­ert hät­te! Wenn ich wenigs­tens gewusst hät­te, was sie hier rede­ten! Aber der Vater erzähl­te nie davon. Er mur­mel­te nur für sich.
Die Groß­mutter mein­te, er wür­de bee­ten. Sie mach­te das abends mit uns, wenn wir bei ihr über­nach­te­ten: Wir lagen dabei im Bett, die Rosen der Groß­mutter wuch­sen im Beet und Gott hat­te anschei­nend auch ein Beet, in das man Wor­te legen konn­te, die dann zu ihm in den Him­mel hoch blüh­ten. Bee­ten war Reden mit Gott; erzäh­len, wie der Tag war. Was gut gewe­sen war, was schief gegan­gen war. Ihn um etwas bit­ten, einen Wunsch sagen. Und manch­mal pflück­te er so einen Wunsch und erfüll­te ihn.
Viel­leicht stan­den die Leu­te alle hier, weil sie hoff­ten, dass Gott ihre Wün­sche erfüll­te. „Groo­ßerGott wir loo­ben dich.“ Viel­leicht gab es einen gro­ßen und einen klei­nen Gott. Der gro­ße Gott kam hier­her, weil er viel Platz brauch­te. Der klei­ne Gott besuch­te die Leu­te zu Hau­se; er konn­te aber nur die klei­nen Wün­sche erfül­len.
Jetzt stell­ten sich alle Erwach­se­nen an, um nach vorn zu gehen, und Gott ihre gro­ßen Wün­sche zu sagen. Auch der Vater ging. Kaum hat­te er uns den Rücken gekehrt, lös­te ich die Schür­zen­schlei­fe der Schwes­ter und der Bru­der setz­te sich auf den Boden, weil er nicht mehr ste­hen konn­te. Die Schwes­ter woll­te mich zwi­cken; ich ver­steck­te mich hin­ter einer dicken Frau, die böse zisch­te: „Ja, habt‘s ihr kei­ne Manie­ren!“
Dann kam der Vater wie­der. Er hat­te dem gro­ßen Gott sei­ne Wün­sche erzählt und sah zuver­sicht­lich aus. Aber der Groß­va­ter sag­te: „Es gibt kei­nen Gott.“ Auch die Groß­mutter glaub­te nicht an Gott. Sie bee­te­te nur zu ihm, weil sie es sich nicht abge­wöh­nen konn­te. „Scha­det ja nicht“, sag­te sie, „wenn es eh kei­nen Gott gibt. Und wenn es viel­leicht doch einen gibt, na, dann haben wir wenigs­tens gebee­tet.“
„Wenn es kei­nen Gott gibt, wer erfüllt dann die Wün­sche?“, frag­te ich sie.
„Irgend­ein ande­res Wesen.“ Die Groß­mutter mach­te eine aus­la­den­de Hand­be­we­gung zum Him­mel, wo es anschei­nend vie­le gab, die Wün­sche erfül­len konn­ten.
Hier in der Kir­che waren Wol­ken an die Decke gemalt und Men­schen in lan­gen Klei­dern; oder waren das die ande­ren Wesen? Kamen die Leu­te auch wegen ihnen in die Kir­che oder nur wegen Gott?
Der Vater kam wegen Gott. Der Groß­va­ter woll­te ihm das aus­re­den. „Es gibt kei­nen Gott“, sag­te er nach dem Essen, immer erst nach dem Essen, „kannst du das nicht ein­se­hen, Hans? Schau, wenn es einen Gott gäbe, wür­de er sich zei­gen. Zum Bei­spiel wür­de er jetzt wie ein Blitz in die Lam­pe fah­ren.“ Er deu­te­te auf die Küchen­lam­pe: ein glä­ser­ner Lam­pen­schirm, der von der Decke hing, mit einer Glüh­bir­ne dar­in, die gedul­dig auf den Blitz­strahl Got­tes war­te­te.
Alle schau­ten auf die Lam­pe: der Bru­der, die Schwes­ter, die Mut­ter, die Groß­mutter, der Groß­va­ter und ich. Die gan­ze Groß­el­tern­kü­che schau­te auf die Lam­pe. Der Diwan, der Koh­len­herd, die Abwasch. Die Kre­denz, der Tisch, die Salat­schüs­sel, aus der wir die Fiso­len­boh­nen geges­sen hat­ten, der Topf mit dem übrig geblie­be­nen Schwei­ne­fleisch. Die leer geges­se­nen Tel­ler, die Mes­ser und Gabeln. Auch die klei­nen Löf­fel, die noch nicht benutzt waren und ganz blan­ke Gesich­ter hat­ten. Wir alle schau­ten zur Küchen­lam­pe hoch, um zu sehen, ob der Blitz in sie fah­ren wür­de.
Nur der Vater schau­te nicht hin. Er mur­mel­te: „Gott zeigt sich – aber nicht so, wie du es willst.“ Das Vater­ge­sicht war rot gewor­den bis zum Hemd­kra­gen.
„Du musst das doch ver­ste­hen“, sag­te der Groß­va­ter begü­ti­gend, „dass die Men­schen sich Gott nur aus­ge­dacht haben – frü­her, als sie es nicht bes­ser wuss­ten. Und jetzt ist es an der Zeit, die­sen Glau­ben abzu­le­gen wie einen alten Man­tel, der zu eng gewor­den ist. Uns zu befrei­en von die­ser Unter­wür­fig­keit, von die­sem Auf­schau­en zu einem, der vor­gibt, was gut und was böse ist.“
„Und außer­dem“, sag­te die Mut­ter, „ist kein Apfel­saft mehr da.“ Der Vater und der Groß­va­ter spran­gen gleich­zei­tig auf, um wel­chen aus dem Kel­ler zu holen; freund­lich strit­ten sie dar­um, wer gehen durf­te; schließ­lich durf­te der Vater, weil er die jün­ge­ren Bei­ne hat­te.
Der Vater mit sei­nen jun­gen Bei­nen und dem Got­tes­man­tel stand uner­müd­lich in der Kir­che; ich hät­te lie­ber Apfel­saft geholt. Die gewun­de­ne Stie­ge hin­un­ter, den Kel­ler­ge­ruch gero­chen: Sei­fen­lau­ge, Koh­le, Erde. Mit bei­den Hän­den in der Sand­kis­te gewühlt, eine Kar­rot­te aus­ge­gra­ben und wie­der ver­senkt. Das glat­te Rund eines Ein­sie­de­gla­ses vol­ler Para­dei­ser mit dem Fin­ger nach­ge­fah­ren.
„Der Hans ist doch sonst so ver­nünf­tig“, sag­te der Groß­va­ter, wäh­rend der Vater im Kel­ler war. „Ein geschei­ter Mensch, wirk­lich gescheit. Wenn er es nur nicht so mit der Reli­gi­on hät­te!“
„Ist doch wurscht, Papa“, sag­te die Mut­ter, die am Sonn­tag­mor­gen immer zu Hau­se blieb, und der es genüg­te, ein paar fla­che Göt­ter im Geld­ta­schl zu haben: den Hei­li­gen Anto­ni­us, die Hei­li­ge Katha­ri­na und den Franz von Assi­si. Sie ging nur zu Weih­nach­ten in die Kir­che, allei­ne, um Mit­ter­nacht; und hin­ter­her schwärm­te sie: „Die­se Musik! Ein Sana­to­ri­um.“
Wenn der Vater mit dem Apfel­saft zurück­kam, wur­de er von allen nett behan­delt und bekam ein beson­ders gro­ßes Stück Apfel­stru­del, zum Trost, weil sein Gott sich nicht gezeigt hat­te.
Jetzt muss­ten wir ein Knie auf den kal­ten Kir­chen­bo­den legen. Das ande­re durf­te oben blei­ben, dar­auf stütz­ten sich die gefal­te­ten Hän­de. Ich wähl­te zum Able­gen immer ein rotes Karo, weil die roten wei­cher waren als die grau­en.
Wenn ich groß war, wür­de ich es wie die Groß­mutter machen. Das Bee­ten im wei­chen Bett moch­te ich; ich hat­te ger­ne jeman­den, mit dem ich spre­chen konn­te und der mei­ne Wün­sche erfüll­te. Ein Wesen, das viel­leicht nur aus Luft und Wol­ken bestand, aber trotz­dem für mich da war und mir zuhör­te.
Jetzt durf­ten wir wie­der auf­ste­hen. Ich rieb mir das rote Knie. Dann sag­ten alle zusam­men: „Abend“, immer wie­der: „Abend“, als Ant­wort auf etwas, was jemand da vor­ne sag­te. Viel­leicht war es eine Ver­ab­re­dung mit Gott: „Am Abend spre­chen wir uns wie­der.“ Viel­leicht bedeu­te­te es auch etwas ande­res. Ich trau­te mich nicht, den Vater danach zu fra­gen. Wenn man ihn das Fal­sche frag­te, brüll­te er.
Nur beim Groß­va­ter brüll­te er nicht, obwohl der immer wie­der ver­such­te, ihm Gott aus­zu­re­den. Der Groß­va­ter gab nicht auf, weil er schon erlebt hat­te, dass sich mäch­tig was ver­än­dern kann. Als er jung war, gab es einen Kai­ser und der Groß­va­ter war Unter­tan und muss­te jeden Tag 12 Stun­den arbei­ten. Jetzt gab es einen Krei­sky, der ein Sozia­lis­ten­bru­der war und der Groß­va­ter muss­te gar nicht mehr arbei­ten. Der Groß­va­ter hat­te mit dafür gestrit­ten, dass es so gekom­men war, und er mein­te, dass man nur genug mit dem Vater reden muss­te, dann wür­de der den Got­tes­man­tel schon aus­zie­hen.
Und wenn der Pfar­rer genug gere­det hat­te, dann war die Mes­se end­lich aus. Ich war als ers­te drau­ßen, hin­ter mir die Schwes­ter und der Bru­der. Wir rann­ten die Stie­ge run­ter und hüpf­ten so fest auf dem wei­ßen Kies, dass es bis in die Knie hin­ein knirsch­te. Wir spiel­ten Fan­gerl um den run­den Brun­nen her­um, klet­ter­ten auf den stei­ner­nen Löwen, stri­chen ihm über die star­ren Locken und press­ten uns an sei­nen brei­ten Rücken.
Alle kamen aus der Kir­che; der Hof füll­te sich mit Men­schen. Der Vater grüß­te und rede­te nach links und nach rechts; wir war­te­ten ein biss­chen; dann zogen wir ihn am Rock, und er folg­te uns wil­lig zum Auto.

„Magst mit?“ frag­te die Mutter.
Sofort setz­te ich mich auf den Stu­fen­ab­satz und zog mir die Schu­he an. Ich frag­te nicht, wohin. In mir hüpf­te ein roter Ball. Ich durf­te mit. Nicht die Schwester. 
Wir fuh­ren ins Nach­bar­dorf, stell­ten das Auto dort ab, wo sonst der Vater für den Kirch­gang park­te. Zwei Non­nen gin­gen an uns vor­über und ver­schwan­den hin­ter den Klos­ter­mau­ern. Gleich neben dem Stift war der Stifts­kel­ler: das Schild zeig­te schräg nach unten. Auf dem Schild saß eine Amsel und flö­te­te. Als wir näher kamen, flog sie davon, in den Him­mel hin­ein; und wir gin­gen eine lan­ge Stie­ge hinunter.
Der Ein­gang war hoch genug, trotz­dem zog die Mut­ter den Kopf ein, als sie die Tür öff­ne­te; so als ob wir einen gebu­ckel­ten Ort betre­ten wür­den. Einen Schiffs­bauch. Schiffskeller. 
Ziga­ret­ten­qualm. Dicke Tische wie auf der Alm. Zwei Spiel­au­to­ma­ten blink­ten. Die Musik­box spiel­te. Ich wuss­te sofort, dass hier eine ganz ande­re Welt war. Auch eine Art Klos­ter. Ähn­lich ver­bor­gen und fremd. Aber zudem noch rau und verheißungsvoll.
Alle saßen an der The­ke; die Köp­fe dreh­ten sich zu uns her, wie bei den Kühen, wenn man in einen Stall kam. Lau­ter Män­ner-Köp­fe. Einer sag­te etwas, die ande­ren nick­ten. Schwei­gend starr­ten sie uns an. Viel­leicht saßen sie schon seit Jah­ren hier auf­ge­reiht und käu­ten wider; und waren es nicht gewohnt, dass jemand Neu­es dazukam.
Die Mut­ter schau­te zu den Män­nern hin­über und grüß­te; sie wirk­te plötz­lich leich­ter, zier­li­cher. Als ob ein Wind sie davon­tra­gen könnte.
Es kamen gemur­mel­te Grü­ße zurück, wie eine Erlaub­nis; und wir setz­ten uns. Kur­ze Zeit spä­ter stell­te der Wirt zwei vol­le Wein­glä­ser vor uns ab: „Vom Stader Matthias.“
Die Mut­ter lächel­te fremd­län­disch hin­über ins ande­re Gebiet. Ein Mann lös­te sich aus der Rei­he und schlen­der­te auf uns zu.
Er kam näher, wur­de grö­ßer, mas­si­ver, setz­te sich. Stell­te sein Wein­glas zu unse­ren. Es kam mit einem lei­sen „Tock“ auf dem Tisch an. Der Wein leuch­te­te in allen drei Glä­sern gleich rot.
„Na, zwei Frau­en so ganz allei­ne hier?“ 
Ich starr­te den Mann an. Es war das ers­te Mal, dass mich jemand den Frau­en zuord­ne­te. Ich schwank­te zwi­schen Stolz und Scham.
Die Mut­ter plausch­te mit ihm. Vor­sich­tig nahm ich einen Schluck Wein. Ich hat­te schon mal wel­chen gekos­tet, aber noch nie ein gan­zes Glas für mich gehabt. Er glit­zer­te in mir. Ich trank noch mehr. Der Wein leg­te ein Fluss­sys­tem an: Ich konn­te spü­ren, wie er in Mäan­dern bis in die Füße lief; und, ent­ge­gen der Schwer­kraft, in den Kopf hinein.
Ich schiel­te zur Mut­ter. Die schau­te auf den Mann. Ich nipp­te wei­ter vom Wein. Es wur­de lus­tig in mir.
„Sagen wir ruhig ‚Du‘“, sag­te der Mann, „Mat­thi­as.“
„Mar­got“, stell­te die Mut­ter sich vor. Der Mat­thi­as-Mann leg­te den Arm um sie. Eine Mar­got blüh­te aus der Mut­ter her­aus, neig­te sich zum Mat­thi­as, fand bei ihm Halt im schwan­ken­den Schiffskeller. 
Wir waren unter­wegs auf hoher See, fuh­ren in den Him­mel hin­ein, die Schluch­ten hin­un­ter. Ein Schwin­del, ein Über­mut. Ich hielt mich an mei­nem Glas fest. In mir brei­te­te sich das Rot aus, Wein wur­de Blut.
„Trinkt von mei­nem Blut“, sag­te Jesus, der vom Klos­ter neben­an herüberströmte. 
„Sei mir eine fes­te Burg“, ant­wor­te­te ich. Aber auch er schwank­te auf den Schiffskellerwellen.
In der Kir­che durf­te ich das Blut Jesu nicht trin­ken; das durf­ten nur Erwach­se­ne, weil es Wein war. Aber jetzt durf­te ich es doch. Ich trank all das Blut aus Jesus her­aus, bis er ganz weiß war und in Schei­ben zer­fiel. Jede Schei­be wur­de auf eine Zun­ge gelegt. 
Mein Mund schloss sich über der beleg­ten Zun­ge; Jesus kleb­te am Gau­men. Er war pap­pig. Ich konn­te ihn nicht hin­un­ter­spü­len; mein Glas war plötz­lich leer.
Mat­thi­as mach­te eine Hand­be­we­gung; eine Auf­for­de­rung zum Tanz. Und wirk­lich, der Wirt kam ange­tanzt und stell­te ein neu­es Glas Wein vor mich hin. 
Eine Bür­de. All das Rot. Mir war übel.
Da sag­te die Mut­ter: „Gib ihr nichts mehr, sie ver­trägts doch nicht!“, und aus schö­nem Trotz ergriff ich das Glas und pros­te­te Mat­thi­as zu.
Er lach­te; Mar­got zuck­te mit den Schultern. 
Ich nipp­te nur, stell­te das Glas wie­der hin. Angst rühr­te sich in mir. Die Mut­ter, sie soll­te mir den Wein weg­neh­men und mit mir fort gehen. Ich konn­te nicht mehr.
Aber die Mut­ter war davon­ge­flos­sen. Es saß nur mehr Mar­got da, mit frem­dem rot­wei­ni­gen Gesicht, eine Gal­li­ons­fi­gur mit unbe­kann­tem Ziel.
Ich woll­te die Mut­ter wie­der haben. Ich nahm einen Schluck Wein, ließ ihn im Mund, bis er ganz sau­er war; schluck­te und es krib­bel­te. Ich woll­te wie­der glit­zern; statt­des­sen ver­trock­ne­te ich. Der Stifts­kel­ler schrumpf­te zu einem Schiff in einer Wein­fla­sche, und ich war mit eingesperrt. 
End­lich stran­de­te Mar­got. Die Mut­ter schau­te auf die Uhr, mit Ehe­frau­en­au­gen: „Schon so spät!“
Ich stand gleich auf, gehor­sam, schau­te den Wein nicht mehr an, Mat­thi­as auch nicht. Mir war schlecht, ich fühl­te mich pap­pig. Der Boden gab unter mei­nen Füßen nach; ich stand auf einer Zun­ge. Über mir wölb­te sich ein wei­ßer Gau­men, blutleer. 
Wir gin­gen lan­ge lan­ge die Stie­ge hoch. Mei­ne Füße blei­schwer. Ich woll­te weinen.
Im Auto sag­te die Mut­ter: „Was erzäh­len wir denn jetzt daheim?“, und sofort war ich wacher. Wir hiel­ten an einer Ampel, die Mut­ter schau­te zu mir hin; wir sahen uns an wie zwei Frau­en auf gehei­mer Mission. 
„Wir waren bei einem Geburts­tag“, sag­te ich.
„Gute Idee“, mein­te die Mut­ter, „und zwar bei …“
„Ulla“, ergänz­te ich, „sie wohnt in Struck; gleich am Orts­ein­gang. Wir haben Ver­ste­cken gespielt. Ich hab mich im Kel­ler ver­steckt, hin­ter dem Regal mit den Ein­sie­de­glä­sern, und nie­mand hat mich gefunden.“
„Sehr gut.“ Die Mut­ter lächel­te. Wir waren jetzt in der­sel­ben Geschich­te, ver­bar­gen uns hin­ter den Ein­sie­de­glä­sern – ein­ge­leg­te Gur­ken, Boh­nen, Para­dei­ser — und schau­ten zwi­schen ihnen hin­durch auf den Stifts­kel­ler. Wir sahen das Glit­zern der Wel­len, den Bug des Schif­fes auf rau­schen­der Fahrt. Der Vater aber wür­de nur das Gemü­se sehen. 

Den Abfall hol­te die Frau Franz. Sie war eine Frau, sah aber aus wie ein Franz. Sie war häß­lich; es blieb ihr nichts ande­res. Es gab nur eine robus­te Män­ner­schön­heit und eine zier­li­che Frau­en­schön­heit und für so eine wie Frau Franz war nichts an Schön­heit übrig.
Sie hat­te einen zer­wu­sel­ten Locken­kopf, mäch­ti­ge Ober­ar­me, und trug, wie die ande­ren Arbei­ter in der Fabrik, eine Arbeits­mon­tur, die meis­tens mit Russ und Öl ver­schmiert war.
Sie war fürs Put­zen ein­ge­stellt. Sie putz­te aber nur in der Hal­le; wenn sie damit fer­tig war, arbei­te­te sie an den Maschi­nen mit. Sie soll­te auch die Büros put­zen; das tat sie nie. Des­halb muss­ten die Sekre­tä­rin­nen das tun: zwei Frau­en, die auch so aus­sa­hen, und die nur wider­wil­lig ihre lackier­ten Fin­ger­nä­gel ins Sei­fen­was­ser tauch­ten. Die Sekre­tä­rin­nen beschwer­ten sich beim Vater über Frau Franz.
Der Vater sprach mit der Frau Franz, aber es änder­te sich nichts. Er konn­te sich nicht durch­set­zen. Wenn er beim Mit­tag­essen davon erzähl­te, mein­te die Mut­ter: „Dann musst du ihr halt kün­di­gen.“ Der Vater konn­te nicht kün­di­gen. Er konn­te schrei­en und schimp­fen und mit der Faust auf den Tisch hau­en – aber kün­di­gen konn­te er nicht. Alle Leu­te, die er vor Jah­ren ein­ge­stellt hat­te, arbei­te­ten immer noch für ihn; sie kann­ten uns Kin­der seit der Geburt.
Die Frau Franz blieb also und hol­te regel­mä­ßig den Abfall ab, den wir zuvor in eine Schach­tel gewor­fen hat­ten. Die Schach­tel stand neben der Stie­ge unter dem Dach­vor­sprung und war so groß wie ich. Es gab hun­der­te von die­sen Schach­teln in der Fabrik, weil die Ölöfen dar­in trans­por­tiert wur­den. Frau Franz brach­te eine lee­re Schach­tel mit, schubs­te die vol­le auf die Sack­kar­re und fuhr sie über die Stra­ße und hin­ters Fabrik­ge­län­de. Dort kipp­te sie sie aus und ver­brann­te den Abfall.
Wenn ich Essen über­ge­las­sen hat­te und die Mut­ter es weg­wer­fen muss­te, sag­te sie immer: „Wenn die Frau Franz das sieht!“ Sie füll­te das Essen in ein Plas­tik­sa­ckerl, und steck­te das in ein zwei­tes Plas­tik­sa­ckerl; genau wie bei den lee­ren Wein­brand­boh­nen-Packun­gen.
Dabei waren die Sackerln kein Schutz vor Frau Franz, weil sie im Abfall her­um­sto­cher­te, damit er bes­ser brann­te. Mit ein wenig Schür­ha­ken-Geschick­lich­keit konn­te sie her­aus­be­kom­men, was wir ver­der­ben lie­ßen, was wir kaputt gemacht hat­ten; wel­ches Sham­poo wir ver­wen­de­ten und wie­vie­le Unter­ho­sen mir zu klein gewor­den waren. Die Din­ge, die man los sein woll­te, waren erst noch den prü­fen­den Bli­cken von Frau Franz aus­ge­setzt. Sie war die letz­te Instanz.
Man­ches warf ich des­halb erst gar nicht in den Müll: Das Eng­lisch­buch der Schwes­ter, auf dem ich Tin­te ver­schüt­tet hat­te. Der Gür­tel der Mut­ter, der beim Kampf der Tita­nen ent­zwei geris­sen war. Das Ein­wi­ckel­pa­pier der Scho­ko­la­de, die ich im Kauf­la­den gestoh­len hat­te. Ich muss­te sie anders los­wer­den.
Meis­tens warf ich ver­rä­te­ri­schen Müll, zusam­men mit Laub und Zwei­gen, in die Schlucht. Zwi­schen der Gara­ge und dem Nach­bar­grund­stück gab es einen Abgrund, ein paar Meter tief. Das war unse­re Schlucht. In ihr konn­te man Din­ge ver­schwin­den las­sen. Aber auch das war nicht ganz sicher. Denn es gab einen Zugang zur Schlucht, und wenn Frau Franz nach Hau­se ging, kam sie dar­an vor­bei. Er war zwar von dor­ni­gem Gestrüpp ver­sperrt; davon wür­de sich Frau Franz jedoch nicht auf­hal­ten las­sen, wenn sie auf der Suche nach Geheim­nis­sen war.
Bis jetzt hat­te sie aller­dings noch nie etwas aus­ge­plau­dert. Viel­leicht, weil sie selbst ein Geheim­nis hat­te. Mile­na behaup­te­te das.
Eines Tages traf ich die Frau Franz, als ich zum Eis­lau­fen ging. Das Tor zum hin­te­ren Fabriks­ge­län­de stand offen. Das Müll­feu­er brann­te und hat­te rings­um den Schnee auf­ge­fres­sen und mit hei­ßer Zun­ge den Hang hoch geleckt. Es qualm­te schwarz und roch gif­tig. Und da stand Frau Franz, in der Arbeits­mon­tur, das Feu­er leuch­te­te ihr ins Gesicht und die Flam­men schie­nen in ihren Haa­ren wei­ter zu fla­ckern.
Sie bemerk­te mich und wink­te mir. Ich zöger­te; dann ging ich zum Feu­er und stell­te mich neben sie. Ein Augen­gruß ging zwi­schen uns hin und her.
„Gehst Eis lau­fen?“
Ich nick­te. Sie warf neu­en Abfall ins Feu­er; es sack­te zusam­men und stieß dicke, dunk­le Rauch­wol­ken aus, wie der Vul­kan in mei­nem Erd­kun­de­buch. Frau Franz sto­cher­te in den Glut­nes­tern, dann riss sie ein Stück Pap­pen­de­ckel in Strei­fen und brach­te damit wie­der Flam­men her­vor.
Ich sah sel­ten offe­nes Feu­er. Eigent­lich konn­te ich mich nur an zwei Mal erin­nern: als der Wald dicht hin­ter unse­rem Haus gebrannt hat­te und der Feu­er­wehr­mann es vom Fens­ter im ers­ten Stock aus gelöscht hat­te. Und als der Weih­nachts­baum Flam­men gefan­gen hat­te. Die Mut­ter warf ihn zum Fens­ter hin­aus, am nächs­ten Mor­gen lag sein schwar­zes Gerip­pe im Schnee.
Alle ande­ren Feu­er, die grö­ßer waren als eine Ker­zen­flam­me, wur­den vom Vater in Metall­käs­ten ein­ge­sperrt oder waren ganz ver­bo­ten. Alles, was der Vater erfand und kon­stru­ier­te, hat­te mit Feu­er zu tun: Ölöfen, Akten­ver­bren­ner, Kami­ne, Grill­ge­rä­te, meter­ho­he Fabrik­schorn­stei­ne. Gleich­zei­tig hat­te er eine wür­gen­de Angst vorm Feu­er. Jeden Tag fühl­te er sich davon bedroht. Nur die Frau Franz durf­te ein offe­nes Feu­er haben. War­um aus­ge­rech­net sie?
„Es wird bald tau­en“, sag­te sie, „ich spür’s in den Kno­chen.“
„Wo?“, frag­te ich, weil ich nichts spür­te.
„Hier“, sie hielt mir ihre schwie­li­ge lin­ke Hand hin, „und hier.“ Sie klopf­te sich auf den Hin­tern.
Ich wur­de rot, schau­te schnell weg. Sie war unver­schämt.
Mile­na hat­te erzählt, dass Frau Franz mit einer Frau zusam­men wohn­te. Sie hat­ten ein Haus am Ende des Nach­bar­dor­fes und leb­ten dort per­vers. „Wie Mann und Frau – ver­stehst du?“
Ja, ich ver­stand. Es bedeu­te­te, dass sie mit­ein­an­der ins Bett gin­gen, Sex hat­ten. Nur, wie das bei zwei Frau­en funk­tio­nier­te, das wuss­te ich nicht. Im Wör­ter­buch stand bei „per­vers“: „Anders­ar­tig ver­an­lagt, beson­ders in sexu­el­ler Hin­sicht“.
Ver­stoh­len beob­ach­te­te ich Frau Franz: konn­te man das erken­nen, dass sie in sexu­el­ler Hin­sicht beson­ders war? Anders­ar­tig, ja, das sah man. Nicht artig.
Wie die ande­re Frau wohl aus­sah? Ich stell­te mir eine zwei­te Frau Franz vor, auch in der Mon­tur, und nach der Arbeit mach­ten sie ein Lager­feu­er in ihrem Gar­ten; mit Holz, das sie selbst im Wald geschlä­gert hat­ten. Es krach­te und knack­te; die Fun­ken sto­ben hoch in den Him­mel hin­ein.
Viel­leicht durf­te Frau Franz des­halb hier Feu­er machen: weil sie beson­ders war. Aus der Art geschla­gen. Mir gefiel die­se fran­zi­ge Feu­er­frei­heit.
„Ich mag es, wenn es brennt“, sag­te ich.
Frau Franz lach­te: „Gut so“
Ich war auf ein­mal ganz leicht; wink­te und lief zum Tor hin­aus. Die Schlitt­schu­he fest an mich gedrückt, rann­te ich den gan­zen Weg bis zum Mühl­teich, und war wie berauscht.