Hier kannst du fantastische Geschichten von mir lesen oder als Audio hören.
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Gedichte in verschiedenen Sprachen
und in jedem Leertag
die Möglichkeit,
von meinen Texten zu träumen.
Entkommen

Ein großer Umzugswagen stand vor der Tür. Aus dem Eingang kam jemand und hielt einen riesigen Bildschirm mit beiden Händen umspannt: es war meine Kollegin Julia. “Da bist du ja!”, rief sie mir zu. “Alles muss raus!” Als ob es sich um einen Schlussverkauf handeln würde. “Warum denn?”, fragte ich sie. Aber sie hatte mir schon den Rücken zugedreht und steuerte ein rotes Auto an, das schräg vorm Haus parkte; auf den Vordersitzen saßen zwei mir unbekannte Männer in Anzügen. Julia verstaute den Bildschirm auf dem Rücksitz und stieg selber auch mit dazu. Sie hatte die Tür noch nicht zugezogen, da startete das Auto schon, fuhr auf mich zu und an mir vorbei, jagte die graue Straße entlang, bis es nur noch ein roter Punkt war. Ich blieb benommen zurück. Ich war doch nur zwei Wochen im Urlaub gewesen.
Die Eingangstür stand offen. Der Boden war mit Briefen übersät. Ich hielt erschrocken inne. Es hatte zu meinen Aufgaben gehört, die Briefe zu sortieren, und jetzt lagen sie hier achtlos verstreut, mit Staub und Fußspuren bedeckt. Da wo früher die Briefkästen ihren Platz gehabt hatten, klaffte jetzt ein Loch; die Kästen selbst, stark verbeult, von wer weiß welcher Kraft aus der Verankerung gerissen, lagen wie hingeschleudert. Darya war mit der großen Schaufel zugange, mit der sie im Winter das Eis vom Gehweg kratzte; sie schob einen Briefkasten vor sich her. Ich wollte sie ansprechen, aber sie sah mich nicht, und dann packte sie den Briefkasten und warf ihn in den Container, der in der Ecke stand. Es schepperte und dröhnte, mir stockte der Atem, ich flüchtete auf der Treppe nach oben.
Dort versuchte Moritz, einen Aktenschrank in den Aufzug zu schieben. Ein Rad war in den Rillen hängengeblieben, ich packte mit an, und gemeinsam schafften wir es. “Danke”, Moritz nickte mir zu und drückte auf das E für Erdgeschoss. “Was ist denn hier los?”, fragte ich ihn. Er musterte mich. “Weißt du es noch nicht?”, sagte er schließlich. “Anordnung des höchsten Ministeriums. Sofortige Evakuierung.” “Aber — warum?” “Alles muss hier anders werden.” Die Aufzugtür glitt zu, ich starrte die silberne Fläche an.
Ich hatte Angst davor, in mein Büro zu gehen. Es war nur ein Job, aber ich war schon ein paar Jahre hier und hatte mich daran gewöhnt, 20 Stunden in der Woche Briefe zu sortieren, Mails weiter zu leiten, Dokumente aus den Aktenordnern zu ziehen und in ein bestimmtes Büro zu bringen oder sie umgekehrt abzuholen und wieder einzuordnen. Einmal sollte ich einen Vortrag über meine Arbeit halten, er wurde von den Kolleg*innen höflich beklatscht. Mit meinen Kolleg*innen ging ich ab und zu zum Mittagessen, meistens aber nicht. Es war eine gemütliche Arbeit, die Hälfte der Zeit konnte ich an meinen eigenen Geschichten schreiben, ohne dass das jemals negativ auffiel, im Gegenteil.
Es war mir immer so vorgekommen, als wäre es erwünscht, dass ich nicht allzu viel arbeitete. Manchmal kam mir das, was ich zu tun hatte, geradezu unsinnig vor. Ich hatte zum Beispiel die Aufgabe, alle ungespitzten Bleistifte aus allen Büros in allen Abteilungen einzusammeln, im Werkstattraum zu spitzen und dann wieder zu verteilen, wobei ich das erste Mal noch den Fehler begangen hatte, sie wahllos zu verteilen, was zahlreiche Beschwerden nach sich gezogen hatte, und eine sehr umständliche Neuverteilungsaktion, sodass ich mir das nächste Mal auf jedem Bleistift mit einem Postit vermerkte, aus welchem Büro und von welchem Schreibtisch er stammte. Seither hatte sich niemand mehr über mich beschwert, weil ich etwas Wesentliches gelernt hatte.
Bei meinem ersten Personalgespräch zwei Wochen später wusste ich bereits, dass es in diesem Gebäude keinen Abfall gab, weil alles wiederverwertet wurde. Die Bleistiftspäne wurden zu einem Zusatz für Katzenfutter vermahlen. Dadurch wurde den Katzen Graphit zugeführt, was sie bei regelmäßiger Einnahme unfruchtbar machte, ohne ihnen ansonsten zu schaden.
“Wie geht es Ihnen in unserer Firma?”, fragte mich Tara Tel. Es war meine erste Begegnung mit dem Präsidenten. Er hatte sehr hoch aufgetürmte blonde Haare, die seinen Kopf wie eine Aura überragten und an den Kronleuchter heran reichten, der sich in dem Augenblick, in dem ich die Tür öffnete, einschaltete, sodass ich geblendet war von der hell erleuchteten Gestalt im langen karmesinroten Gewand, die den Raum vom Boden bis zur Decke zu durchmessen schien.
“Sehr — gut”, stotterte ich. “Haben Sie Verbesserungsvorschläge?” Tatsächlich hatte ich einen; war aber überrascht, dass ich danach gefragt wurde. “Ja … Wenn Sie gestatten … also, ich könnte die Bleistifte an Ort und Stelle spitzen und die gesammelten Späne in die Werkstatt bringen, dadurch würde ich einen Arbeitsgang einsparen.”
Tara Tel nickte: “Möchten Sie das verändern — oder möchten Sie eine Gehaltserhöhung?” “Tja, also, wenn Sie so fragen …” Er lächelte gütig. Seither hatte ich ihn nie wieder gesehen, aber tatsächlich eine Gehaltserhöhung auf meinem Konto feststellen können. Dem Ratschlag einer Freundin, ich solle noch einmal eine Verbesserung vorschlagen, dann würde ich noch mehr Gehalt bekommen, bin ich aber nicht gefolgt, es erschien mir zu riskant.
Mir blieb auch immer unklar, wofür die Firma, für die ich arbeitete, eigentlich zuständig war. Der Name — WWW Weltweit Wirksame Wartungsarbeiten — schien darauf hin zu deuten, dass es sich um elektronische Dienste handelte; in den meisten Anfragen aber, die ich bis jetzt weiter geleitet hatte, war es um Geräte des täglichen Gebrauchs gegangen.
Ich musste die Mails und Briefe nach Dringlichkeit ordnen, wobei es keine klaren Kriterien dafür gab. Es schien so, als ob die Wartungsarbeiten so spät oder so unaufmerksam durchgeführt wurden, dass die Geräte bereits reparaturbedürftig waren. Einer berichtete, dass sein Toaster schon seit drei Jahren Funken schlug, während eine andere dringend um die Wartung der Heizung bat, die kaum noch Wärme von sich gab, und sie habe doch ein krankes Kind zuhause. Ich musste die dringendsten Anfragen weiterleiten, und alle anderen mit Bedauern auf später vertrösten. Jede Antwort endete mit den Worten: “Von persönlichem Besuch wird abgeraten”.
Ich leitete die Heizung weiter und verschob den Toaster. Warum hatte er sich nicht schon längst einen neuen gekauft? Ich hatte ein bisschen schlechtes Gewissen diesem Mann gegenüber, konnte aber meine Entscheidung gut begründen. Ich durfte nur eine begrenzte Anzahl an Anfragen weiterleiten. Als ich Monate später die Heizungsanfrage noch einmal erhielt, begann ich am Sinn meiner Arbeit zu zweifeln.
Ich versuchte, mit Kolleg*innen darüber zu sprechen, sie wichen mir jedoch aus. Mein Unbehagen wuchs, und ich überlegte sogar zu kündigen. Aber so eine bequeme Arbeit würde ich nie wieder bekommen. Schließlich fand ich mich damit ab, dass vieles schleierhaft blieb. Ich verstand auch nicht, wie die Firma mit dem Verschieben von Wartungsarbeiten Geld verdienen konnte. Freilich wusste ich, dass die Leute schon, wenn sie ein Gerät kauften, für die Wartung bezahlten, aber warum hatte es sich noch nicht herumgesprochen, dass sie für ihr Geld nichts bekommen würden?
Wartungsarbeiten waren nicht nur die Aufgabe des Unternehmens, sondern auch etwas, was den Betrieb selbst regelmäßig befiel wie eine unerklärbare Krankheit. Einmal kam ich zur Arbeit und fand alle auf dem Flur, um die Küche herum. Sie tranken Tee und schwätzten. Auf meine Nachfrage hieß es: “Wir haben Wartungsarbeiten”. “Wo denn?”, fragte ich, und wurde nachsichtig belächelt. Zwei Kolleginnen schmückten die Verstrebungen des Treppengeländers mit den dutzenden Teebeuteln, die bereits verbraucht worden waren; der Tee tropfte in verschiedenen Rhythmen aus den Beuteln, was etwas Meditatives hatte.
Plötzlich kam Bewegung in die Menge, einige drängten sich in den Fahrstuhl, die anderen nahmen die Treppe nach oben. Ich schloss mich ihnen an und kam zu einer Dachterrasse, die zur Hälfte überdacht war. Es war Winter, die Türen ins Freie waren geschlossen, durch die bodentiefen Fenster ringsum konnten wir die Stadt unter uns sehen. Den Containerhafen, den Müllberg, der mit bunten Wimpeln geschmückt war, den Triumphbogen, der auf das Westtor aufgesetzt worden war und der Tag und Nacht beleuchtet wurde.
Plötzlich begann ein Summen, alle nahmen eine feierliche Haltung ein, und fingen an zu singen, ein Lied in einer Sprache, die ich nicht kannte. Es klang sehr traurig, ich hätte am liebsten geweint. Ich musste an die Frau mit der kaputten Heizung und dem kranken Kind denken, und an all die vielen anderen, denen, scheinbar willkürlich, nicht geholfen wurde, und stellte mir vor, dass dies der Trauergesang für sie war, und das einzige, was ich für sie tun konnte. Ich sang den Refrain mit; und nachdem ich es bei ähnlichen Gelegenheiten immer wieder gehört hatte, konnte ich das Lied, von dem ich kein einziges Wort verstand, mittlerweile auswendig.
Sonst passierte nichts mehr an diesem Tag, es erschienen auch keine Handwerker, und ich hatte den Verdacht, dass diese Wartungsarbeiten hauptsächlich mit Warten zu tun hatten. Denn wir standen nur herum und durften unsere Büros nicht betreten. Am nächsten Tag nahm alles seinen gewohnten Verlauf, niemand sprach mehr über den Vortag. Ohne dass ich einen Rhythmus erkennen hätte können, wiederholten sich diese Wartungsarbeiten, sodass ich sie schließlich erwartete. Es hätte so etwas wie Freizeit sein können, stattdessen wirkte die erzwungene Arbeitspause quälend.
Ich öffnete die Glastür zu dem Flur, auf dem sich mein Büro befand. Säuerlicher Geruch schlug mir entgegen. In der Teeküche fand ich den Kühlschrank offen vor, hell erleuchtet, er brummte, war aber leer bis auf eine verkrumpelte Packung mit Schokoladenkeksen. Auf dem Tisch ein länglicher See aus Milch, die umgekippte Packung mittendrin. Die weiße Flüssigkeit war bereits gestockt, stellte ich fest, als ich einen Schritt näher trat. Plötzlich erfasste mich Übelkeit, ich musste würgen, drehte um und zog die Tür fest hinter mir zu.
In meinem Büro war alles so, wie ich es zurück gelassen hatte. Erleichtert öffnete ich ein Fenster, dann ließ ich mich auf den Schreibtischstuhl sinken. Ich hatte mir Chaos vorgestellt, und kahle Stellen, dort, wo vertraute Möbel gestanden hatten. Aber natürlich, alle hatten genug damit zu tun, ihre eigenen Büros zu evakuieren. Was war das für eine seltsame Geschichte, Anordnung des höchsten Ministeriums? Was sollte das sein?
Ich fuhr den Computer hoch und öffnete meine Mails. Es gab eine “Anweisung zum sofortigen Rückzug aus dem Gebäude Nr. 5” Die Hausnummer war doch 71. Hatte die Firma mehrere Gebäude und dies war eines davon? Es war kein Grund angegeben, nur dass der Rückzug “vollständig, mit höchstem Krafteinsatz”, zu geschehen hätte.
Die Tür, die ich nur angelehnt hatte, ging auf und da stand Darya. Ich mochte sie; mit ihr war es am einfachsten. An meinem ersten Tag hatte ich sie angetroffen, als sie den Flur wischte, und mich bei ihr vorgestellt. Sie hatte genickt, aber nichts erwidert, was mich verunsicherte. Schweigen hielt ich nicht lange aus, und so sagte ich: “Und Sie sind die Reinigungskraft?” Sie hatte gelächelt. “Jeder Mensch ist eine Reinigungskraft.” “Äh, ach so”, hatte ich verdutzt geantwortet, und dann musste ich lachen.
Von da an lachten wir jedes Mal gemeinsam, wenn wir uns sahen. Irgendetwas Absurdes gab es immer in der Firma; wir wiesen uns verstohlen darauf hin oder erzählten uns Witze, die wir uns extra für diesen Augenblick angeeignet hatten; und manchmal lachten wir auch einfach so, leise für uns, das war unsere Reinigungskraft.
Nur heute sah sie sehr ernst aus, weit entfernt vom Lachen. “Wo ziehen wir hin, Darya?”, fragte ich sie. “Weißt du es noch nicht?”, fragte sie mich, genau wie Moritz. “Ich weiß nicht viel”, gab ich zu, “nur, dass wir hier ganz schnell raus müssen.” “Wir müssen hier raus”, sagte sie, und, weil ich es immer noch nicht begriffen hatte: “Du nicht.”
“Ich nicht? Warum sollte ausgerechnet ich hier bleiben? Ich bin doch nur eine unbedeutende-” Darya gebot mir zu schweigen und ging zum Fenster, ich folgte ihr. Ein Lieferwagen war vorgefahren, eine Frau sprang aus dem Auto, sie deutete auf die kahle Fläche über der Eingangstür, dort wo früher “WWW Weltweit Wirksame Wartungsarbeiten” gestanden hatte, und befahl: “Bringt die Schilder hier an!”
Zwei Leitern wurden abgeladen, zwei Männer in blau erkletterten sie, fast synchron öffneten sie ihre jeweiligen Köfferchen, holten Akkuschrauber heraus und bestückten sie mit den ausgewählten Bits. Ein dritter Mann hob ein Schild zu ihnen hoch: “VVV Versierte”. Während die Männer auf den Leitern es ergriffen, anhielten und festschraubten, holte der dritte das nächste Schild. Es lag mit der Unterseite nach oben, er drehte es um, ich las “Versuchs- und”. Als er es hochhob, sah ich das dritte Schild: “Verbesserungsanstalt”.
Und dann ging alles ganz schnell. Darya riss sich das Kopftuch von ihren Haaren, die schwarz und prächtig hervorquollen, und stieg aus ihrem Kleid. Ich brauchte zwei Sekunden länger, dann entkleidete auch ich mich, streifte das Kleid über und band mir das Kopftuch um. Darya stopfte einen ihrer Putzfetzen unter das Tuch, und täuschte damit Haarfülle vor.
“Aber — mein Gesicht”, stammelte ich. “Aufs Gesicht gucken sie nicht”, wusste Darya. Ich umarmte sie: “Danke! Ich hoffe, du bekommst keine Schwierig-” Sie unterbrach mich, drückte mir einen dicken Kuss auf die Wange und schob mich zur Tür hinaus. Im Flur stand der Putzwagen, ich schnappte mir einen Flachwischer und schob ihn vor mir her, als ich zur Treppe ging. Es klappte; Moritz, der den nächsten Aktenschrank zum Aufzug rollte, erkannte mich nicht.
Ich rannte die Treppe runter, stellte den Wischer an der Eingangstür ab, und ging hinaus. Der Lieferwagen stand quer in der Einfahrt, dahinter wartete, mit laufendem Motor, das rote Auto. Julia stieg aus und rief: “Wir brauchen den Platz hier!” Und dann bemerkte sie mich: “Bist du mit den Briefkästen schon fertig?”
Sofort drehte ich um, ging zurück hinein und ergriff die große Schaufel. Während Moritz den Aktenschrank durch die Eingangshalle rollte, schob ich einen Briefkasten zum Container; als ich ihn hochheben wollte, schaffte ich es nicht. Ich wollte weinen, das traurige Lied fiel mir ein. Warum ich? Warum durfte ich nicht mit umziehen, sondern musste hier in einer Versuchs- und Verbesserungsanstalt bleiben? Was hatte ich falsch gemacht? Ich fühlte mich so schwer und elend, wollte aufgeben. Mich ergeben.
Nein!, rief es in mir. Ich packte den Briefkasten noch einmal, diesmal öffnete sich die Klappe, die Briefe quollen heraus, und dann konnte ich ihn leicht anheben. Es schepperte, als er auf die anderen Kästen im Container prallte. Julia kam die Treppe herunter, sie trug einen buschigen Farn. Einer der Wedel verfing sich in den Verstrebungen des Treppengeländers. Sie hielt inne, mit einer zärtlichen Bewegung befreite sie den Farn. Julia!, wollte ich rufen, Ich bin’s! Auch ich brauche Befreiung … Aber Julia ging weiter und ich sagte nichts; ich wusste nicht, ob ihr Mitgefühl vielleicht nur dem Farn galt.
Moritz kam herein; die beiden gingen wie Fremde aneinander vorbei. Ich wartete, bis Julia wiederkam. Sie eilte die Treppe hoch, wahrscheinlich um auch noch den Gummibaum aus ihrem Büro zu holen. Als sie nicht mehr zu sehen war, huschte ich hinaus. Niemand beachtete mich, ich zwang mich, langsam die Straße entlang zu gehen.
An der Ecke drehte ich mich um, sah die schraubenden Männer, die das dritte Schild anbrachten, und Darya am Fenster, die kurz die Hand hob. Ich winkte, bog in die Querstraße ein und rannte los. Rannte, rannte, und rannte, bis ich in einem Teil der Stadt war, den ich nicht kannte. Erst da hielt ich inne, keuchend, hielt mich an einem Zaun fest, die Metallstrebe kalt in meiner Hand.
Ich verstand nichts; ich konnte kaum atmen; ich wusste nur, ich war entkommen.
Suppenmalheur

Ich mag’s nicht, wenn jemand in meiner Suppe schwimmt. “Hallo!”, rufe ich, “könnten Sie bitte wieder herauskommen?” Obwohl ich mir unsicher bin, ob ich die Suppe überhaupt noch essen will, nachdem diese Frau im rosa Badeanzug sie durchquert hat. Sie hört auch nicht auf mich. Am Tellerrand angelangt, vollführt sie eine elegante Wende, wie ich sie nie hinbekommen habe, stößt sich ab und schwimmt zügig durch die Brühe, wobei die Grießnockerl, wie gutmütige Berge, ihr schaukelnd ausweichen.
Ich rufe den Kellner. “Jetzt sehen Sie sich das an!” Er schaut in meinen Teller: “Oh, das ist ja”, er verzieht das Gesicht, und als ich mir schon sicher bin, dass er so etwas wie “ärgerlich” sagen wird, sagt er stattdessen: “interessant.” Interessant ist es, das muss ich zugeben. Die Frau krault jetzt. Jedes Mal wenn sie den Arm aus der Suppe hebt, um Schwung zu holen für den nächsten Zug, bespritzt sie die Nockerl, die sich wie eine Bergkette an den Rand drängen, um ihr Platz zu machen.
“Ich möchte eine neue Suppe”, sage ich zum Kellner. “Ja gerne, aber”, er wiegt den Kopf hin und her, “wenn wir noch ein bisschen warten, dann ist sie vielleicht fertig.” “Bis dahin ist die Suppe kalt.” Wahrscheinlich ist sie jetzt schon nicht mehr besonders warm, denke ich. Wer würde schon in heißer Suppe schwimmen? “Immer im Frühling”, seufzt der Kellner, “da wollen die Leute auf einmal trainieren. Und die Gebühren für das Schwimmbad sind ja exorbitant gestiegen.”
“Das ist bedauerlich, aber ich möchte trotzdem eine Suppe mit ohne was darin.” “Sie wollten doch Grießnockerl?” “Ja, ja. Die Nockerl sind auch okay.” Obwohl ich mir da mittlerweile auch unsicher bin. Mir scheint es, als hätten sie eine Eigenbewegung. “Wahrscheinlich hat sie sich zwischen den Nockerln versteckt”, überlegt der Kellner. “Als ich die Suppe serviert habe, habe ich nichts Ungewöhnliches bemerkt.” “Ich auch nicht”, gebe ich zu, aber das ist ein Fehler. “Das wird’s sein! Sie ist aus Ihrer Jackentasche gekommen!”
Meine Jacke habe ich über die Stuhllehne gehängt, und tatsächlich steht der Reißverschluss der Brusttasche offen, was vorher nicht so war. Ich bin irritiert. Als ich in die Tasche hinein fasse, finde ich eine winzige Badekappe, ebenfalls rosa. Der Kellner nickt zufrieden. “Aber, ich kenne diese Frau überhaupt nicht!”, protestiere ich. “Seien Sie froh, dass sie so klein ist. Ich hatte mal einen Mann in meinem Schrank wohnen, der war zwei Meter groß.”
„Suppenmalheur“ weiterlesenAbhängigkeiten

Als sich die Aufzugstür öffnete und ich, wie jeden Morgen, verschlafen die Kabine betreten wollte, blieb ich stattdessen verdutzt stehen und war auf einmal hellwach. Im Aufzug waren vier Waschbären.
Nein nur drei: einer betrachtete sich im Spiegel; ich hatte ihn doppelt gezählt. Ein anderer hockte auf dem Sitz, auf den ich meine schwere Einkaufstasche stellte, wenn ich eine hatte. Der dritte stand auf den Hinterbeinen, zu mir gewandt, und hielt sich an der Stange fest.
Ich hätte auch gerne eine Stange zum Festhalten gehabt. Waschbären? Ich starrte in den Aufzug hinein, sie starrten heraus. Sie machten keinerlei Anstalten, auszusteigen, was mir auch ganz recht war. Der Waschbär an der Stange reckte sich zum Stockwerk-Anzeiger hoch. Seine Pfote reichte aber nur bis zur 3, und im dritten Stock waren sie ja schon angekommen. Plötzlich hüpfte er, und drückte auf das “D”. Die Fläche leuchtete auf, die Aufzugstür schloss sich. Die Waschbären fuhren los, zum Dachboden.
Dort hatte ich gestern meine Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Darunter der blaue Bettbezug, den ich mir ganz neu gekauft hatte. Was wollten die Waschbären auf dem Dachboden? Ich wusste wenig über diese Tiere. Neulich hatte ich eine Notiz gelesen, dass sie sich in Städten verbreiteten und dabei geschickt und kreativ vorgingen. Das konnte ich jetzt bestätigen. Warum hießen sie eigentlich Waschbären? Meine Waschmaschine stand auch auf dem Dachboden.
Ich drückte, der Aufzug kam zu mir zurück. Leer. Ein strenger Geruch haftete ihm an, sodass ich wohl nicht geträumt hatte. Jetzt hätte ich eigentlich zur Arbeit fahren müssen. Stattdessen drückte auch ich auf das D.
Oben angekommen sah ich gerade noch einen Zipfel meines Bettbezugs in der offenen Tür zur Kammer von Frau Jäger verschwinden. Ich hinterher. Frau Jäger hatte, genau wie ich, eine Kammer von 8 m² als Abstellraum. Aber sie hatte noch mehr, nämlich, hoch oben, eine Dachluke, die die Waschbären irgendwie erreicht hatten. Einer sprang auf den Griff des Kippfensters und öffnete es, die anderen beiden wollten meinen Bettbezug aufs Dach schleifen. Ich packte den herabhängenden Stoff, aber die Waschbären waren stärker, sodass meine Füße den Boden verließen und ich Richtung Dachluke schwebte.
“Hilfe!” rief ich, und sofort antwortete der Hausmeister, Herr Pospischil : “Ich komme!”
„Abhängigkeiten“ weiterlesenHeute hätte ich beinahe geheiratet

Die Schuhe hatte ich schon an, die Jacke auch, aber als ich zu meinen Handschuhen griff, die auf der Kommode lagen, fiel mir auf, dass der Kalender schief hing.
Der Kalender war eigentlich keiner, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass er der zeitlichen Orientierung diente. Er hing schon da, als ich einzog, und zeigte den Juni eines mir unbekannten Jahres und ein Picknick an einem Wasserfall. Die Menschen saßen und lagen, aßen, unterhielten und küssten sich, hinter einem Vorhang aus Gischt, den der Wasserfall versprühte, sodass sie nur schemenhaft zu erkennen waren und nicht den üblichen Kategorien zugeordnet werden konnten. Quer über dem Bild stand: “Was würde Judith Butler dazu sagen?”
Auf der anderen Seite des Wasserfalls stand stramm der Nadelwald, aus dem eine dicke Wurzel heraus ragte, die auch die Schnauze eines schlafenden Tieres sein hätte können. “Den Kalender lässt du besser hängen”, sagte die Vormieterin zu mir, “er hat genau die richtige Größe.” Sie hob ihn kurz hoch und zeigte mir den großen rotbraunen Fleck an der Wand. “Lässt sich nicht abwaschen”, behauptete sie, und ich habe es nicht überprüft, weil mir der Fleck unheimlich war und ich an Blut denken musste. Ein Blutfleck in dieser Höhe, dazu fiel mir nur ein Kopfschuss oder etwas ähnlich Schreckliches ein, und weil das sehr unwahrscheinlich war, beschloss ich, ihn zu vergessen. Das Bild gefiel mir, es passte gut in meine Wohnung. Die anderen Monate habe ich mir nicht angesehen, überhaupt habe ich diesen Kalender noch nie berührt.
Und jetzt hing er schief. Wahrscheinlich war ich gestern beim Staubsaugen daran gestoßen, ohne es zu bemerken. Ich wollte besonders gründlich sein, und hatte auch die Ecken gesaugt, die ich sonst vernachlässigte, in Anbetracht der Hochzeitsgäste, die mich heute womöglich besuchen kommen würden, genau wusste ich das nicht. Ich hatte noch nie zuvor geheiratet und war nervös.
Ich war auch spät dran und womöglich befanden sich auf meinem Handy bereits mehrere Nachrichten, die sich nach meinem Verbleib erkundigten, oder daran erinnerten, was ich mitbringen sollte, aber wenn ich jetzt zu lesen anfing, würde es noch später werden, also ließ ich mein Handy lautlos in der Tasche.
‘Ich habe alles’, murmelte ich beruhigend auf mich ein, ‘und alles in der Wohnung ist in Ordnung.’ Bis auf den Kalender eben. Ich zögerte, ihn anzufassen. Denn natürlich hatte ich den Blutfleck, entgegen meinem Vorhaben, nicht vergessen, in den drei Jahren, die ich in dieser Wohnung wohnte; vielmehr hatte ich die ganze Zeit daran gedacht, aber immer so getan, als würde es keine Rolle spielen, dass es in meiner Wohnung einen Fleck unbekannter Herkunft gab, der sich nicht entfernen ließ.
Wahrscheinlich war es gar kein Blutfleck. Und selbst, wenn es einer war, bedeutete es nicht, dass die Vormieterin jemanden umgebracht hatte. Und der Vermieter schon gar nicht. Er war schon vor drei Jahren so schlecht zu Fuß gewesen, dass er die Treppen in den dritten Stock nicht mehr schaffte und meinte, die Übergabe der Wohnung müssten wir unter uns regeln.
„Heute hätte ich beinahe geheiratet“ weiterlesenDas Begräbnis des Bäckers

“Werden Sie hingehen?”, fragt mich die Nachbarin. Ihre Armreifen, sie klirren leise, es klingt eine Warnung. “Ich habe ihn gar nicht
gekannt”, behaupte ich, und wende mich ab vom Schaufenster, in dem nur noch ein blaues Tuch voller Krümeln Falten wirft: “Ich esse kein Brot. Brötchen backe
ich selbst. Und-” “Ich war hier jeden Samstag”, sagt sie. Manchmal sogar donnerstags.” “Also werden Sie hingehen?” “Ich weiß nicht … ob ich geeignet bin.” “Ich auch nicht”, sage ich schnell. “Es gibt so viele
andere.” Ich will mich nicht festnageln lassen. Wenn das Schild nicht wäre, an der Ladentür, mit der Einladung, oder soll ich sagen Aufforderung, zur Beerdigung zu erscheinen, mit
Gedichten
Was für Gedichte? Zum Vorlesen oder als Papierflugzeuge gefaltet, die über seinem Grab kreisen, auf den Sarg
treffen? Würde ich ein Gedicht über den Bäcker schreiben, könnte ich auch alles andere nicht weglassen. Der Bäcker war, wie alle … ein Mittelpunkt. Ich habe ihn nur wenige Male
reden hören, und immer nur im Halbdunkel. Aber auf dem Foto habe ich ihn sofort erkannt. “Wenn man wüsste,
wer da sein wird”, sagt die Nachbarin, Frau Nagel, und spreizt ihren Schirm. Wir stehen schon eine Weile im Regen, unsere Gesichter glänzen vor Nässe, man könnte
meinen, wir würden weinen, wegen des Bäckers, oder weil wir jetzt nicht mehr an den Zimtschnecken riechen können oder wegen der Stille, die herrscht. “Aber hingehen sollte man doch”, sagt sie, ängstlich, und ich weiß nicht, ob sie Angst hat vorm Hingehen oder vorm Wegbleiben
oder vor beidem … Sie ist im allgemeinen nicht furchtsam. Neulich, in der Eiche, ist sie ohne zu zögern ganz nach oben. “Wie geht es Ihrer Katze?”, frage ich. Als sie zu dem Ast kam, auf dem die Katze hockte und klagte, sprang diese plötzlich mit einem Satz ins Freie und
„Das Begräbnis des Bäckers“ weiterlesenBitte nicht öffnen!

Sie steht ganz oben auf dem Küchenregal. Früher habe ich Kekse darin aufbewahrt, aber ich habe schon lange keine mehr gebacken. Eine etwas verbeulte Dose, rot, “Nürnberger Lebkuchen” steht darauf. Seit einiger Zeit muss ich die immer anstarren. Was ist mit dieser Dose?
Schließlich stelle ich mich auf den Tritt und hole sie herunter. Vorsichtig ziehe ich den Deckel ab. Was ist das? Lauter Trümmer! So viele Leichen, Verstümmelte und — das ist ja scheußlich! Das sieht aus wie — Wie kommt denn so was in meine Küche?
Schnell den Deckel drauf. Was mache ich jetzt damit? Ich muss es loswerden. Das kommt in die Mülltonne, beschließe ich. Morgen ist Abfuhrtag. Ja, weg damit! Jetzt sofort. Ich schnappe mir die Schlüssel, wickle ein Geschirrtuch um die Dose und trage das Päckchen in den Keller.
Im Treppenhaus treffe ich Frau Beste. Als ich “Guten Tag” sagen möchte, dringt ein dumpfer Schrei aus der Dose. “Was haben Sie denn da”?, fragt sie misstrauisch. “Nichts”, sage ich schnell, halte ihrem Blick aber nicht lange stand. “Das ist … Da ist … ich kann nichts dafür”, stottere ich, “aber ich glaube, da ist ein Genozid drin.” “Und wo wollen Sie damit hin?” Ich sage nichts, spüre, wie ich rot werde.
“Glauben Sie nicht, dass Sie das in die Mülltonne werfen können! Das ist Sondermüll! Da müssen Sie beim Recyclinghof anrufen, und nachfragen, wo das hin kann. Auf jeden Fall nicht in unseren Keller! Wir sind ein ordentliches Haus.” Ich schleiche mit meiner Dose die Treppe wieder hoch.
Beim Recyclinghof reagieren sie zurückhaltend. “Genozid? Wir sind hier nur für Pestizid zuständig. Außerdem, was meinen Sie damit? Wo gibt’s denn so was?” “Ich weiß auch nicht, wie der in meine Küche geraten ist!” “Sollten Sie womöglich notwendige Verteidigungsmaßnahmen als Völkermord bezeichnen, so müsste ich Sie wegen Verleumdung anzeigen.” “Da habe ich mich vielleicht falsch ausgedrückt … es ist nur wegen der vielen toten Kinder …” “Wenn es sich um Tote handelt, müssen Sie sich an den Friedhof wenden!” “Ah, gute Idee.”
Ich rufe aber nicht gleich beim Friedhof an. Das Gespräch hat mich erschöpft. Die Dose steht jetzt auf dem Küchentisch, noch immer in das Geschirrtuch gewickelt. Wie konnte sich so eine harmlose Nürnberger Lebkuchen Dose in einen Kriegsschauplatz verwandeln? Und warum ist dieser Völkermord ausgerechnet zu mir gekommen? Oder haben alle so eine Dose zu Hause?
Schließlich rufe ich beim größten Friedhof der Stadt an. “Ich habe ein … etwas ungewöhnliches Problem … also, ich habe hier mehrere Tote.” “Mehrere Tote?”, fragt die Frau entsetzt. “Ein Verkehrsunfall? Ich hab gar nichts in der Zeitung gelesen.” “In der Zeitung steht auch nicht so viel von diesen Toten. Es sind aber viele. Vor ein paar Monaten waren es 40.000. Danach haben sie, glaube ich, mit dem Zählen aufgehört.” “40.000? Sind Sie verrückt? Das sind viel zu viele für das Stadtgebiet Bremen.”
„Bitte nicht öffnen!“ weiterlesenRechen statt Rächen!
