Hier kannst du fantastische Geschichten von mir lesen oder als Audio hören.
Es gibt auch Videos mit
Gebärdenbegleitung
zu politischen Druckpunkten
Gedichte in verschiedenen Sprachen
und in jedem Leertag
die Möglichkeit,
von meinen Texten zu träumen.
Streifzug durchs Rudiversum
Film von Anne Frisius mit einem Gedicht von mir
zum 80. Geburtstag meines Adoptivonkels Rudolf Frisius, Professor für Neue Musik
Streifzug durchs Rudiversum
Wer rudert so spät durch Nacht und Noten?
Das ist der Rudi in geistigen Fluten
Koryphäe, Kosmopolit
Konzepte Konzerte ein Maximum an Lexikon
Kongresse Konklusionen Kollisionen mit Idioten
Kondensator für konkrete Komponisten
Mit einem Königreich an Zitaten
Was ist Klang?
Ein leerer Eimer holterdipolter
Die Treppe runter
Spatzenschritte auf dem Blechdach
Spatenstiche ins Styropor
Makkaroni wenn sie brechen unter Tritten auf den Fliesen
Das Gegenteil von Musik ist Musik
Rudi, Forelle der Vortragsreihe
Mit Vorliebe für Zettel und Tonbänder
Mit Radio Reden quer durch die Frequenzen
Präsentiert er elegant
Elektronische Lektionen
Als schreibender Begleiter
Von Geistern mit ähnlichem Siedepunkt
Kagel Riedel Schnebel Rihm
Obsession: Stockhausen „Streifzug durchs Rudiversum“ weiterlesen
Briefträgerin
Um den Einstieg in die Verrentung sanft zu gestalten, hat unsere Briefträgerin einen neuen Arbeitsmodus eingeführt. Und zwar unter dem Motto: “Kürzer treten!” Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag trägt sie wie gewohnt Briefe und Päckchen aus. Mittwoch und Samstag trägt sie sie nur in ihre Wohnung, stapelt sie dort auf diversen Tischen und Fensterbänken, und wir können sie abholen.
“Jahrelang habe ich euch besucht, jetzt machen wir es mal umgekehrt.” Arbeits-Inversion nennt sie das Konzept. Ursprünglich hatte sie in ihrem Flur einen Empfangsbereich eingerichtet, wo sie jede Person begrüßt und ihr die Sendungen persönlich überreicht hat. Mittlerweile liegt sie auf dem Sofa und deutet nur noch auf den Stapel, in dem sich das Gewünschte befindet. “Ich gewöhne mich immer besser an meine Rentenzeit”, meint sie.
Ihr Konzept wird gut angenommen. Die Leute reißen sich darum, die Briefe für das ganze Haus abholen zu dürfen, vor allem die Rentner*innen. Eine Weile freue ich mich über den Service, dann protestiere ich: “Ich möchte die Briefträgerin auch einmal besuchen!” An einem Samstag ist es dann so weit. Ich stehe in ihrem Wohnzimmer, auf einem dicken grünen Teppich, sie begrüßt mich herzlich: “Schön, dass du auch einmal kommst! Möchtest du einen Ingwertee?” Wir duzen uns schon länger. Ich glaube, Gloria ist mit dem ganzen Viertel per Du.
“Gerne”, sage ich. Während sie den Tee aus der Küche holt, sehe ich mich in ihrem Wohnzimmer um. Überall liegen Postsendungen, geordnet und mit Schildern versehen, auf denen die Hausnummern stehen. Ich bin ein bisschen aufgeregt, als ich den Stapel für unser Haus entdecke. Wir mussten alle ein Formular unterschreiben, in dem wir die Nachbarn bevollmächtigen, unsere Post abzuholen.
“Heute habe ich die Vorladung bekommen”, erzählt Gloria. “Sie versuchen, mir Arbeitsverweigerung nachzuweisen. Und Verletzung des Postgeheimnisses. Bis jetzt haben sie aber noch keine Lücke gefunden. Alle Kund*innen sind zufrieden. Herr Schilling hat sogar eine Petition für mich gestartet. Wenn du möchtest, kannst du auch unterschreiben.” “Natürlich”, sage ich, “ich finde deine Idee genial.”
“Ich auch.” Sie strahlt. “Warum mit Abzügen in die Rente gehen, nur weil ich diesen Job nicht mehr jeden Tag schaffe?” Sie gießt uns Tee ein. “Zucker? Oder Honig?” Ich nehme mir Honig. “Honig, natürlich! Im Englischen heißt es doch Honeymoon, nicht wahr?” Sie lächelt mich an, ich werde ein bisschen rot und konzentriere mich darauf, den Honig im Tee zu verrühren. “Verzeih mir, wenn ich neugierig bin, aber … von wem war eigentlich der rote Brief?”
“Was für ein roter Brief?” Ich setze mich kerzengerade hin, und werde jetzt richtig rot, so als ob dieser Brief, von dem ich gar nichts weiß, auf mich abfärben würde. “Du musst es mir natürlich nicht erzählen …” “Aber ich habe keinen roten Brief bekommen! Wirklich nicht.” “Du hast den Brief nicht bekommen?” Sie wird jetzt, im Gegensatz zu mir, weiß im Gesicht, und ich weiß natürlich warum. Bei Unregelmäßigkeiten in der Zustellung ist sie dran.
Update
Wenn mein PC abstürzt und sich danach nicht mehr rührt, so wie jetzt, ausgerechnet als ich endlich meine Steuererklärung machen will, dann bleibe ich ganz ruhig. Ich habe ja Philo. Den rufe ich an, der kommt innerhalb von zwei Tagen, hockt sich vor das Gerät und bleibt so lange, bis es repariert ist. Wenn’s länger dauert, legt er sich zwischendurch auf’s Sofa. Seine langen Beine ragen dann einen halben Meter über die Armlehne hinaus, und er kann in dieser Position erstaunlich gut schlafen.
Aber Philo hat sein Handy ausgeschaltet. Das ist noch nie passiert. Was ist los mit ihm? Ich hoffe, er macht keine digitale Diät. Ich weiß eigentlich nicht viel über ihn. Ich habe ihn kennengelernt, als sein Ladekabel den letzten Halt in der Jackentasche verlor und auf die Straße fiel. Ich hob es auf und rief ihm nach. Er sah mich erst misstrauisch an, aber als er sein Kabel erkannte, lächelte er. “Danke!” Er holte aus seinem Portemonnaie eine Visitenkarte und drückte sie mir in die Hand. “Linux”, stand darauf, und eine Handynummer. “Äh, heißt du so?” “Leider nicht”, meinte er.
Als er dann das erste Mal da war, habe ich ihn nach seinem Namen gefragt. Er seufzte. “Philo. Meine Eltern hatten ein Rendevouz im Botanischen Garten. Und unter dem Philodendron haben sie sich das erste Mal geküssst.” Er sah unglücklich aus. “Da kannst du ja froh sein, meinte ich, dass es nicht bei der Kamelie war. Oder beim Bambus. Dann hätten sie dich womöglich Bambi genannt.” Er sah mich erstaunt an. “Du hast es geschafft. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich für meinen Namen dankbar.”
Das war unser einziges richtiges Gespräch. Er macht mir einen besonders günstigen Preis, ich weiß aber nicht, ob wegen dem Kabel oder dem Namenshinweis. Die Visitenkarte habe ich noch. Auf der Rückseite steht eine Adresse. Ich beschließe, hinzufahren. Es ist eine kleine Straße, Sackgasse, die Nummer 37 ganz am Ende. Ein Wohnhaus aus roten Ziegelsteinen. Auf einem Klingelschild steht Linux. Ob das Philos Büro ist?
Ich klingle und sofort ertönt ein Summton, mit dem sich die Haustür öffnet. Im dritten Stock steht Philo in der geöffneten Wohnungstür, im Pyjama. Es scheint ihm aber nicht peinlich zu sein. “Äh, Entschuldigung. Ich habe dich telefonisch nicht erreicht …” “Komm rein!” Ich folge ihm in die Küche. Auf dem Tisch liegen Bücher, Haarspangen, zwei Scharniere und eine Plastiktüte mit Reis. Eine Kerze brennt, daneben steht ein Kaffeebecher. Philo nimmt ihn und trinkt. “Willst du auch einen?”
Ich schüttle den Kopf, räuspere mich. “Sorry, dass ich dich störe. Ich wollte nur fragen, ob du meinen PC reparieren könntest.” Philo zuckt zusammen und sieht traurig aus. Er nimmt die Reistüte, hält sie vorsichtig wie ein Baby, kippt sie von einer Seite zur anderen. Der Reis rieselt, etwas Schwarzes kommt darunter zum Vorschein. “Wasserschaden. Es muss trocknen”, sagt er. “24 Stunden lang.” Er starrt betrübt auf die Tüte. “Dein Handy? Tut mir Leid.”
Unterführung
Es schlaucht. Dieser Ausdruck entstand wahrscheinlich in einer Bahnhofs-Unterführung. Von allen Bahnsteigen strömen Menschen die Treppen hinunter in den Schlauch hinein. Es ist eng und stickig, zu viele Gerüche, alle Fenster zeigen nur Geschäfte, keine Aussicht. Aber nach einer Zugfahrt gibt es keine andere Möglichkeit, als diesen trostlosen Ort zu durchqueren, um ins Freie zu kommen. Ich habe es fast bis zum Ausgang geschafft, als etwas Massives dröhnt und rattert und auf mich zu kommt. Es ist eine orange Maschine mit Bürstenfüßen — und mittendrin ein bekanntes Gesicht.
Einen Moment später kann ich es zuordnen. Es gehört Mahmud aus dem Gartenverein. Wenn er oder seine Frau an meiner Parzelle vorbei kommen, unterhalten wir uns manchmal, über Schnecken, Hagebutten oder die beste Art, Kartoffeln zu setzen. Es ist nicht nur die ungewohnte Umgebung, die mir das Erkennen von Mahmud erschwert hat, sondern auch seine grellorange Kleidung und die Tatsache, dass er Teil einer Geräte-Kombination ist. Mahmud schiebt einen riesigen Staubsauber mit breiter Düse und rotierenden Bürsten an der Seite vor sich her und zieht einen Wagen, der brummt und zischt und eine feuchte Spur zurück lässt. Ich könnte jetzt einen Schneckenwitz machen, aber mir ist bei diesem Anblick nicht zum Lachen zumute.
Mahmud und Aisha haben mir mal ihren Garten gezeigt. Und als ich das elegante Gartenhaus bewunderte, meinte er: “Selbst gebaut. Das ist mein Beruf. Aber leider, arbeiten kann ich nicht, als Tischler. Nicht anerkannt.” Stattdessen macht er so einen Job. Ich finde es traurig, und mir ist es unangenehm, so als ob ich ihn bei etwas Peinlichem erwischt hätte. Nicht, dass mir das fremd wäre. Ich habe auch schon Putzjobs gemacht. Aber nie so öffentlich.
Ich überlege, ob ich so tun soll, als hätte ich ihn nicht gesehen, und finde mich beschämend. Im nächsten Moment entdeckt Mahmud mich und winkt mir: “Hallo!” Er stellt seine Maschine aus. Sie jault auf, schüttelt sich, bleibt schließlich stehen. “Gut dich zu sehen”, sagt er. “Kannst du mir einen Gefallen tun?” “Ja, gerne.” Ich bin erleichtert, dass ihm anscheinend nichts peinlich ist. “Ich muss dringend mit Aisha telefonieren. Hier unten hab ich keinen Empfang. Kannst du mich kurz vertreten?” Ich zögere, nicke aber.
Er zieht schon seine Jacke aus, steigt aus der Vorrichtung, die ihn umfangen hält. “Die Jacke musst du anziehen, ist Pflicht. Rucksack kannst du hier unten rein tun. Du fährst einfach weiter, Gang entlang und zurück. Hauptsache, die Maschine bleibt nicht lange stehen, sonst kommt der Kontrolleur.” Schnell schlüpfe ich in die Jacke, und nehme Mahmuds Platz ein. Es gibt keine Möglichkeit, mich hinzusetzen, ich muss mitlaufen, und bin Teil des Antriebs. Ein bisschen mulmig ist mir schon zumute, als ich mir die Gurte umlege und die Halterungen schließe, bis ich fest eingebunden bin. Aber ich sage mir, dass es eine gute Gelegenheit ist, etwas für Mahmud zu tun. Er hat schließlich auch einmal bei mir Rasen gemäht, als ich ihm erzählt habe, dass ich einen Hexenschuss habe.
“Fertig?”, fragt Mahmud. Ich nicke, und die Maschine beginnt zu vibrieren, es dröhnt und drängt vorwärts, ich werde mit geschoben und schon bin ich ein vorübergehender Cyborg. Und gefangen in der Unterführung. Ich versuche, mich nicht elend zu fühlen. Für eine Weile werde ich das wohl aushalten. Schließlich muss Mahmud das jeden Tag viele Stunden lang ertragen. Immerhin habe ich jetzt einen Schutzpanzer. Und eine ganz andere Perspektive. Es ist eine eigenartige Erfahrung. Ich bin so auffällig und bekomme keinerlei Beachtung. Die Leute weichen dem Putzgerät aus und sehen mich strikt nicht an. Ich bin quasi unsichtbar.
Erst am Ende des Tunnels merke ich, dass ich nicht weiß, wie man diesen Putzomat wendet. Und den Ausstellknopf hat mir Mahmud auch nicht gezeigt. Womöglich muss ich weiter fahren, durch die automatische Schiebetür raus, am Taxistellplatz vorbei und dann über die Kreuzung. Wenn ich da bei Rot drüber fahre, kriege ich womöglich Punkte in Flensburg.
Im letzten Moment finde ich einen Hebel und schere zur Seite aus. Diese ziemlich abrupte Bewegung findet nun doch Beachtung, weil ich einigen Leuten den Weg abschneide. Verärgerte Gesichter, Schimpfen über meinen Fahrstil. Ich bahne mir einen Weg quer zur Ausrichtung des Menschenstroms und versuche, wieder in eine Längsbahn einzuscheren. Da sehe ich sie und sie sieht mich: Nelly.
Wortwechsel
Vor meiner Wohnungstür tut sich etwas. Ich höre Stimmen. Da stimmt was nicht. Ich wollte gerade einkaufen gehen, hab die Schuhe schon an, die Jacke auch und den Rucksack voller leerer Flaschen auf dem Rücken. Jetzt traue ich mich nicht, raus zugehen. Ein Blick durch den Spion zeigt mir den Nachbarn von oben, Herrn Konf, mit dem Rücken zu mir, im Gespräch mit den neuen Nachbarn gegenüber, die vorige Woche eingezogen sind, und deutlich kleiner sind als er.
Mit Frau Zabadani habe ich mich schon ein bisschen unterhalten und zaghaft mein Arabisch ausprobiert, was auf große Begeisterung stieß und eine Einladung zur Folge hatte. “Komm herein, komm.” Mein Kopfschütteln zeigte wenig Wirkung. Frau Zabadani zog mich in ihre Wohnung, ließ mich auf dem riesigen Sofa Platz nehmen und stellte Kaffee und Basbusa, ein süßes Gebäck aus Grieß, vor mich hin. Dann zeigte sie mir die Bücher von ihrem Deutschkurs. A1. Alle Aufgaben auf den ersten 20 Seiten waren richtig ausgefüllt. Aber Frau Zabadani war nicht zufrieden.
Lakin an-naas la yatahaddathun kama fi-lkitab!, rief sie aus. “Aber die Leute sprechen nicht so, wie es im Buch steht!” Sie erzählte, dass sie beim Einkaufen “Guten Tag” gesagt hatte, und die Verkäuferin ein “Nein!” zur Antwort gegeben hat. “Was war falsch?” Ich überlegte. “Wahrscheinlich sagte sie nicht ‘Nein’, sondern ‘Moin’. Das ist hier der Gruß für alle Tageszeiten.” “Moin?” “Moin”, bestätigte ich, “oder Moin, Moin.”
Und das ruft sie jetzt, laut und verzweifelt: “Moin! Moin!” Und Herr Konf schüttelt den Kopf und sagt: “Nein”. Herrn Konf habe ich noch nie besucht, und unser gemeinsamer Wortschatz beschränkt sich auf zehn Wörter, wobei wir ‘Guten Tag!’ am häufigsten verwenden. Er sieht auch immer gleich aus, die Klamotten und das Gesicht verändern sich kaum, so als ob er eine Statistenrolle im Treppenhaus hätte, mit der Auflage, möglichst unauffällig zu sein. Dabei hat er so einen interessanten Namen. Er könnte der Anfang zu verschiedenen Wörtern sein. Nicht nur konform, Herr Konf! Ich weiß nicht, ob er Sinn für Sprachspiele hat.
Im Moment gibt es wohl einen Konflikt. Ich beuge mich näher an den Spion heran, um mehr sehen zu können. Dadurch verschieben sich die Flaschen in meinem Rucksack und schaben aneinander. Dieses Geräusch lässt Herrn Konf zu meiner Tür blicken. Vorsichtig weiche ich zurück, aber es ist zu spät. Er klingelt bei mir. Ich erstarre.
Ich verfluche den Rucksack auf meinem Rücken, der jede meiner Bewegungen mit einem Klirren untermalt. Sonst könnte ich jetzt wenigstens in die Küche gehen und so tun, als hätte ich nichts gehört. Herr Konf klingelt noch einmal. Er ruft sogar: “Könnten Sie zur Hilfe kommen!”
Ich bin so überrascht, dass ich sofort öffne. Geballte Erwartungen richten sich auf mein Erscheinen. Mir wird schwindelig. “Ich muss los”, sage ich und weiß schon, dass es kein Entkommen gibt. Ich müsste Herrn Konf beiseite schieben, um zur Treppe abwärts durch zu kommen. Und ich will keine Konfrontation mit ihm.
Ich lächle ihn an. Wie wär’s mit Konfitüre? “Sie können doch Arabisch”, sagt er zu mir. Es klingt anklagend. Bevor ich mich verteidigen kann, nickt Frau Zabadani bekräftigend mit dem Kopf. ““Ja, ja!”, meint sie. “Übersetzen Sie”, fordert er mich auf. “Äh … Für das bilaterale Dolmetschen”, wende ich ein, “muss man mehrere Jahre lang studiert haben, und dann ein zweijähriges Praktikum absolvieren, bevor .…” “Papperlapapp”, sagt Herr Konf resolut, “ein paar Sätze werden Sie wohl auch so hinkriegen.”
Herr und Frau Zabadani sehen mich hoffnungsvoll an. Das Netz zieht sich zusammen. Ich hänge drin. Und es wird schief gehen. Dann habe ich es mir mit mehreren Nachbarn verscherzt. Ich werde ausziehen müssen. Wo ich doch gerade erst ein halbes Jahr in dieser schönen Wohnung wohne. Ich sehe das alles so klar vor mir und weiß keinen Ausweg.
Und da beginnt Herr Konf auch schon: “Die Schuhe …” Circa 10 Paar Schuhe vor der Tür der Zabadanis sind im Treppenhaus der einzige Hinweis darauf, dass hinter den Türen Menschen leben. Aber schon das kann zu viel sein. Ich spüre Herrn Konfs tiefes Unbehagen. Ich spüre die Besorgnis der Zabadanis. Sie wissen, dass etwas kritisiert wird. Kann gut sein, dass sie die Schuhe sofort wegräumen würden, um kein Missfallen zu erregen. Herr Konf hat mehr Macht und ist es gewohnt, seine Vorstellungen durchzusetzen. Ich will ihm aber nicht dabei behilflich sein. In der Rolle der Übersetzerin werde ich zu seiner Handlangerin und wenn ich ablehne, wirke ich desinteressiert an den Problemen meiner Nachbarn.
Thymian
Ein grauer Hund, den ich gleich verdächtig finde, weil er das Gesicht einer Löwin hat, kriecht unter die Bank, auf der ich sitze, hebt sie an und geht mit ihr, und mir, davon. Halt!, rufe ich, stehenbleiben! Diese Bank hatte einen besonders schönen Standort, ein bisschen versteckt in den Heckenrosen. Genauso versteckt war ich, und jetzt werde ich nicht nur auf den Weg hinaus getragen, sondern auch den Blicken der Menschen frei gegeben, die im Park herum spazieren und wahrscheinlich froh sind, wenn sie an einem langweiligen Sonntag Nachmittag etwas geboten bekommen. Sie beachten mich aber gar nicht.
Der Hund hört auch nicht auf mich, sondern trottet weiter, trägt mühelos mich und die Bank und schleift auch mein Fahrrad noch mit, das ich mit dem Vorderrad angeschlossen habe, weil ich manchmal auf Bänken, in der Sonne, einschlafe. Das Hinterrad liegt am Boden auf und dreht sich mit, der Lenker ragt über die Lehne. Ich klingle, um den Hund auf mich aufmerksam zu machen. Die Klingel scheint kaputt zu sein. Der Schlegel stößt zwar ans Gehäuse, vibriert, aber es ist nichts zu hören, stattdessen duftet es nach Thymian.
Wahrscheinlich wächst hier welcher, denn der Hund ist vom Weg abgebogen und läuft jetzt zwischen langen Gräsern hindurch quer über die Wiese, deren Betreten streng verboten ist. Aber niemand regt sich auf und stoppt uns. Ich sitze weiter in dieser lächerlichen Position, auf einer hundegetragenen Bank, von der ich zwar abspringen könnte, und, im Nebenherlaufen, mit ein bisschen Geschicklichkeit, auch mein Fahrrad befreien würde, aber ich bleibe sitzen, weil an so einem Tag wie heute auch das noch schief gehen könnte.
Eben dieses bisschen Geschicklichkeit scheint für mich gerade nicht abrufbar zu sein. Auch die Vorstellung, erzählen zu müssen, dass mein Fahrrad von einem Hund gestohlen wurde und damit Heiterkeit auszulösen, lässt mich auf der Bank verharren, während andererseits der Gedanke daran, dass ich mich aus dieser langsamen Entführung nicht befreien kann, mich noch zaghafter und ängstlicher macht. Jetzt nicht weinen, denke ich, aber schon laufen Tränen über meine Wangen. Ich schließe die Augen und hoffe, dass mich niemand so sieht und dass dieses graue Tier von alleine von seinem Vorhaben ablässt.
Ohren
Meine Ohren sind schon wieder größer geworden. Ich betrachte mich lang im Spiegel, bevor ich mir eine Mütze überziehe. Falls ich einen Videoanruf bekomme. Dann nehme ich die Mütze wieder ab. Weil es verdächtig wirkt, bei diesen Temperaturen zu Hause eine Mütze aufzuhaben. Ich beschließe, keinen Videoanruf anzunehmen.
Stattdessen rufe ich, mit meinem Festnetz-Telefon, Fiona an. “Darf ich dir ein Problem erzählen?” “Ich bin ganz Ohr”, sagt sie und ich zucke zusammen. “Ohren wachsen im Alter”, beruhigt mich Fiona, als ich ihr von meinen Befürchtungen erzählt habe, “mach dir da mal keinen Kopf drum.” Ich finde die Formulierung unsensibel. “Gerade der Kopf”, wende ich ein, “fühlt sich den Ohren sehr verbunden.” “Ich meine”, sagt Fiona, “dass du dir nicht so viele Sorgen um deine Ohren machen solltest.” Das sagt sie meistens, wenn ich ihr etwas erzähle. Mach dir keine Sorgen. Meistens hat sie auch recht, und ich muss zugeben, dass ich sie genau deshalb angerufen habe. Um diesen Satz zu hören.
Aber sie hat auch gut reden. Sie hat ganz normale Ohren, die unauffällig am Kopf kleben, in Form bleiben und keinen Anlass geben, über sie nachzudenken oder sie gar zu vermessen. Ich habe gemessen. Das sage ich aber nicht. Ich bedanke mich und stelle das Telefon in die Ladestation, es klickt und ich frage mich, ob ich mit wachsenden Ohren vielleicht auch ein längeres Telefon brauche. Ich versuche, mich zu beruhigen. Vielleicht hören die Ohren auf zu wachsen, wenn ich nicht mehr an sie denke. Ich denke aber. Genau daran. Jeden Tag. Ich bin ganz Ohr.
Ich lege mir jedoch Beschränkungen auf. Ich darf nur einmal die Woche messen. Sonntagmorgen, gleich nach dem Aufstehen. Zwei Stunden später noch einmal. Weil ich Seitenschläferin bin, möchte ich ausschließen, dass sich die Ohren platt gelegen haben und nur deshalb größer sind. Abends messe ich noch einmal. Die Messergebnisse verändern sich im Laufe des Tages nicht. Jede Woche ein halber Zentimeter länger. Meine Ohren werden monströs.
Es sind jetzt schon 7,5 Zentimeter Gesamtlänge. Und es ist nicht das Ohrläppchen, das länger wird, weil die Schwerkraft schon so viele Jahre lang daran zieht, nein, die Ohren werden nach oben hin länger. Wenn das so weiter geht, und Monat für Monat zwei Zentimeter dazu kommen, werden meine Ohren in einem halben Jahr über den Kopf hinaus ragen. Eine Assoziation zu gewissen Tieren bleibt nicht aus.
Wird es dann noch schwieriger für mich, bis über beide Ohren verliebt zu sein? Ich versuche es mit Affirmationen. Meine Ohren schrumpfen jetzt und bleiben dann klein und unauffällig. Aber meine Ohren hören nicht auf mich. Ich versuche es mit dem Gegenteil, stelle mir all die schrecklichen Probleme vor, die ein Mensch haben kann und die ich nicht habe. Auch das hilft nur wenig. Ich ahne es: das Wohlgefühl muss aus einer anderen Quelle kommen.
Bei meinen Recherchen im Internet habe ich keine Beschreibung gefunden, die auf mich zutrifft. Es gibt krankhaften Riesenwuchs, aber dabei wachsen mehrere Körperteile gleichzeitig. Es gibt das Ohrenwachstum im Alter, das aber auf ein bis zwei Zentimeter beschränkt bleibt. Und es gibt eine Amaryllis mit dem Namen Elefantenohr. Ihre Blätter erreichen einen Durchmesser von einem Meter. Schließlich bestelle ich eine. Vielleicht lenkt es mich ab, wenn etwas in meiner Wohnung schneller wächst als meine Ohren. Aber die Pflanze lässt nach drei Tagen die Blätter hängen, und dann siedeln sich Läuse auf ihr an.
Das bringt mich auf den Gedanken, dass sich vielleicht auch auf meinen Ohren etwas angesiedelt hat. Mikroben, die die Zellen der Knorpelmasse zur Teilung anregen können und auf diese Weise das Ohrenwachstum aktivieren, um ihren Lebensraum zu vergrößern.
Menschen möchten ja auch immer mehr Platz zum Wohnen. Ich habe zum Beispiel früher in einem 8 m² großen Zimmer gewohnt, und jetzt habe ich eine Wohnung mit zwei Zimmern und Balkon, 35 m² groß. Das ist ein Faktor von 4,4. Wenn ich das auf das Wachstum meiner Ohren umrechne, die einmal 5 Zentimeter lang waren, dann komme ich auf 22 Zentimeter Länge.