Entkommen

Ein gro­ßer Umzugs­wa­gen stand vor der Tür. Aus dem Ein­gang kam jemand und hielt einen rie­si­gen Bild­schirm mit bei­den Hän­den umspannt: es war mei­ne Kol­le­gin Julia. “Da bist du ja!”, rief sie mir zu. “Alles muss raus!” Als ob es sich um einen Schluss­ver­kauf han­deln wür­de. “War­um denn?”, frag­te ich sie. Aber sie hat­te mir schon den Rücken zuge­dreht und steu­er­te ein rotes Auto an, das schräg vorm Haus park­te; auf den Vor­der­sit­zen saßen zwei mir unbe­kann­te Män­ner in Anzü­gen. Julia ver­stau­te den Bild­schirm auf dem Rück­sitz und stieg sel­ber auch mit dazu. Sie hat­te die Tür noch nicht zuge­zo­gen, da star­te­te das Auto schon, fuhr auf mich zu und an mir vor­bei, jag­te die graue Stra­ße ent­lang, bis es nur noch ein roter Punkt war. Ich blieb benom­men zurück. Ich war doch nur zwei Wochen im Urlaub gewesen.

Die Ein­gangs­tür stand offen. Der Boden war mit Brie­fen über­sät. Ich hielt erschro­cken inne. Es hat­te zu mei­nen Auf­ga­ben gehört, die Brie­fe zu sor­tie­ren, und jetzt lagen sie hier acht­los ver­streut, mit Staub und Fuß­spu­ren bedeckt. Da wo frü­her die Brief­käs­ten ihren Platz gehabt hat­ten, klaff­te jetzt ein Loch; die Käs­ten selbst, stark ver­beult, von wer weiß wel­cher Kraft aus der Ver­an­ke­rung geris­sen, lagen wie hin­ge­schleu­dert. Darya war mit der gro­ßen Schau­fel zugan­ge, mit der sie im Win­ter das Eis vom Geh­weg kratz­te; sie schob einen Brief­kas­ten vor sich her. Ich woll­te sie anspre­chen, aber sie sah mich nicht, und dann pack­te sie den Brief­kas­ten und warf ihn in den Con­tai­ner, der in der Ecke stand. Es schep­per­te und dröhn­te, mir stock­te der Atem, ich flüch­te­te auf der Trep­pe nach oben.

Dort ver­such­te Moritz, einen Akten­schrank in den Auf­zug zu schie­ben. Ein Rad war in den Ril­len hän­gen­ge­blie­ben, ich pack­te mit an, und gemein­sam schaff­ten wir es. “Dan­ke”, Moritz nick­te mir zu und drück­te auf das E für Erd­ge­schoss. “Was ist denn hier los?”, frag­te ich ihn. Er mus­ter­te mich. “Weißt du es noch nicht?”, sag­te er schließ­lich. “Anord­nung des höchs­ten Minis­te­ri­ums. Sofor­ti­ge Eva­ku­ie­rung.” “Aber — war­um?” “Alles muss hier anders wer­den.” Die Auf­zug­tür glitt zu, ich starr­te die sil­ber­ne Flä­che an.

Ich hat­te Angst davor, in mein Büro zu gehen. Es war nur ein Job, aber ich war schon ein paar Jah­re hier und hat­te mich dar­an gewöhnt, 20 Stun­den in der Woche Brie­fe zu sor­tie­ren, Mails wei­ter zu lei­ten, Doku­men­te aus den Akten­ord­nern zu zie­hen und in ein bestimm­tes Büro zu brin­gen oder sie umge­kehrt abzu­ho­len und wie­der ein­zu­ord­nen. Ein­mal soll­te ich einen Vor­trag über mei­ne Arbeit hal­ten, er wur­de von den Kolleg*innen höf­lich beklatscht. Mit mei­nen Kolleg*innen ging ich ab und zu zum Mit­tag­essen, meis­tens aber nicht. Es war eine gemüt­li­che Arbeit, die Hälf­te der Zeit konn­te ich an mei­nen eige­nen Geschich­ten schrei­ben, ohne dass das jemals nega­tiv auf­fiel, im Gegenteil.

Es war mir immer so vor­ge­kom­men, als wäre es erwünscht, dass ich nicht all­zu viel arbei­te­te. Manch­mal kam mir das, was ich zu tun hat­te, gera­de­zu unsin­nig vor. Ich hat­te zum Bei­spiel die Auf­ga­be, alle unge­spitz­ten Blei­stif­te aus allen Büros in allen Abtei­lun­gen ein­zu­sam­meln, im Werk­statt­raum zu spit­zen und dann wie­der zu ver­tei­len, wobei ich das ers­te Mal noch den Feh­ler began­gen hat­te, sie wahl­los zu ver­tei­len, was zahl­rei­che Beschwer­den nach sich gezo­gen hat­te, und eine sehr umständ­li­che Neu­ver­tei­lungs­ak­ti­on, sodass ich mir das nächs­te Mal auf jedem Blei­stift mit einem Pos­tit ver­merk­te, aus wel­chem Büro und von wel­chem Schreib­tisch er stamm­te. Seit­her hat­te sich nie­mand mehr über mich beschwert, weil ich etwas Wesent­li­ches gelernt hatte.

Bei mei­nem ers­ten Per­so­nal­ge­spräch zwei Wochen spä­ter wuss­te ich bereits, dass es in die­sem Gebäu­de kei­nen Abfall gab, weil alles wie­der­ver­wer­tet wur­de. Die Blei­stift­spä­ne wur­den zu einem Zusatz für Kat­zen­fut­ter ver­mah­len. Dadurch wur­de den Kat­zen Gra­phit zuge­führt, was sie bei regel­mä­ßi­ger Ein­nah­me unfrucht­bar mach­te, ohne ihnen ansons­ten zu schaden.

“Wie geht es Ihnen in unse­rer Fir­ma?”, frag­te mich Tara Tel. Es war mei­ne ers­te Begeg­nung mit dem Prä­si­den­ten. Er hat­te sehr hoch auf­ge­türm­te blon­de Haa­re, die sei­nen Kopf wie eine Aura über­rag­ten und an den Kron­leuch­ter her­an reich­ten, der sich in dem Augen­blick, in dem ich die Tür öff­ne­te, ein­schal­te­te, sodass ich geblen­det war von der hell erleuch­te­ten Gestalt im lan­gen kar­me­sin­ro­ten Gewand, die den Raum vom Boden bis zur Decke zu durch­mes­sen schien.

“Sehr — gut”, stot­ter­te ich. “Haben Sie Ver­bes­se­rungs­vor­schlä­ge?” Tat­säch­lich hat­te ich einen; war aber über­rascht, dass ich danach gefragt wur­de. “Ja … Wenn Sie gestat­ten … also, ich könn­te die Blei­stif­te an Ort und Stel­le spit­zen und die gesam­mel­ten Spä­ne in die Werk­statt brin­gen, dadurch wür­de ich einen Arbeits­gang einsparen.”

Tara Tel nick­te: “Möch­ten Sie das ver­än­dern — oder möch­ten Sie eine Gehalts­er­hö­hung?” “Tja, also, wenn Sie so fra­gen …” Er lächel­te gütig. Seit­her hat­te ich ihn nie wie­der gese­hen, aber tat­säch­lich eine Gehalts­er­hö­hung auf mei­nem Kon­to fest­stel­len kön­nen. Dem Rat­schlag einer Freun­din, ich sol­le noch ein­mal eine Ver­bes­se­rung vor­schla­gen, dann wür­de ich noch mehr Gehalt bekom­men, bin ich aber nicht gefolgt, es erschien mir zu riskant.

Mir blieb auch immer unklar, wofür die Fir­ma, für die ich arbei­te­te, eigent­lich zustän­dig war. Der Name — WWW Welt­weit Wirk­sa­me War­tungs­ar­bei­ten — schien dar­auf hin zu deu­ten, dass es sich um elek­tro­ni­sche Diens­te han­del­te; in den meis­ten Anfra­gen aber, die ich bis jetzt wei­ter gelei­tet hat­te, war es um Gerä­te des täg­li­chen Gebrauchs gegangen.

Ich muss­te die Mails und Brie­fe nach Dring­lich­keit ord­nen, wobei es kei­ne kla­ren Kri­te­ri­en dafür gab. Es schien so, als ob die War­tungs­ar­bei­ten so spät oder so unauf­merk­sam durch­ge­führt wur­den, dass die Gerä­te bereits repa­ra­tur­be­dürf­tig waren. Einer berich­te­te, dass sein Toas­ter schon seit drei Jah­ren Fun­ken schlug, wäh­rend eine ande­re drin­gend um die War­tung der Hei­zung bat, die kaum noch Wär­me von sich gab, und sie habe doch ein kran­kes Kind zuhau­se. Ich muss­te die drin­gends­ten Anfra­gen wei­ter­lei­ten, und alle ande­ren mit Bedau­ern auf spä­ter ver­trös­ten. Jede Ant­wort ende­te mit den Wor­ten: “Von per­sön­li­chem Besuch wird abgeraten”.

Ich lei­te­te die Hei­zung wei­ter und ver­schob den Toas­ter. War­um hat­te er sich nicht schon längst einen neu­en gekauft? Ich hat­te ein biss­chen schlech­tes Gewis­sen die­sem Mann gegen­über, konn­te aber mei­ne Ent­schei­dung gut begrün­den. Ich durf­te nur eine begrenz­te Anzahl an Anfra­gen wei­ter­lei­ten. Als ich Mona­te spä­ter die Hei­zungs­an­fra­ge noch ein­mal erhielt, begann ich am Sinn mei­ner Arbeit zu zweifeln.

Ich ver­such­te, mit Kolleg*innen dar­über zu spre­chen, sie wichen mir jedoch aus. Mein Unbe­ha­gen wuchs, und ich über­leg­te sogar zu kün­di­gen. Aber so eine beque­me Arbeit wür­de ich nie wie­der bekom­men. Schließ­lich fand ich mich damit ab, dass vie­les schlei­er­haft blieb. Ich ver­stand auch nicht, wie die Fir­ma mit dem Ver­schie­ben von War­tungs­ar­bei­ten Geld ver­die­nen konn­te. Frei­lich wuss­te ich, dass die Leu­te schon, wenn sie ein Gerät kauf­ten, für die War­tung bezahl­ten, aber war­um hat­te es sich noch nicht her­um­ge­spro­chen, dass sie für ihr Geld nichts bekom­men würden?

War­tungs­ar­bei­ten waren nicht nur die Auf­ga­be des Unter­neh­mens, son­dern auch etwas, was den Betrieb selbst regel­mä­ßig befiel wie eine uner­klär­ba­re Krank­heit. Ein­mal kam ich zur Arbeit und fand alle auf dem Flur, um die Küche her­um. Sie tran­ken Tee und schwätz­ten. Auf mei­ne Nach­fra­ge hieß es: “Wir haben War­tungs­ar­bei­ten”. “Wo denn?”, frag­te ich, und wur­de nach­sich­tig belä­chelt. Zwei Kol­le­gin­nen schmück­ten die Ver­stre­bun­gen des Trep­pen­ge­län­ders mit den dut­zen­den Tee­beu­teln, die bereits ver­braucht wor­den waren; der Tee tropf­te in ver­schie­de­nen Rhyth­men aus den Beu­teln, was etwas Medi­ta­ti­ves hatte.

Plötz­lich kam Bewe­gung in die Men­ge, eini­ge dräng­ten sich in den Fahr­stuhl, die ande­ren nah­men die Trep­pe nach oben. Ich schloss mich ihnen an und kam zu einer Dach­ter­ras­se, die zur Hälf­te über­dacht war. Es war Win­ter, die Türen ins Freie waren geschlos­sen, durch die boden­tie­fen Fens­ter rings­um konn­ten wir die Stadt unter uns sehen. Den Con­tai­ner­ha­fen, den Müll­berg, der mit bun­ten Wim­peln geschmückt war, den Tri­umph­bo­gen, der auf das West­tor auf­ge­setzt wor­den war und der Tag und Nacht beleuch­tet wurde.

Plötz­lich begann ein Sum­men, alle nah­men eine fei­er­li­che Hal­tung ein, und fin­gen an zu sin­gen, ein Lied in einer Spra­che, die ich nicht kann­te. Es klang sehr trau­rig, ich hät­te am liebs­ten geweint. Ich muss­te an die Frau mit der kaput­ten Hei­zung und dem kran­ken Kind den­ken, und an all die vie­len ande­ren, denen, schein­bar will­kür­lich, nicht gehol­fen wur­de, und stell­te mir vor, dass dies der Trau­er­ge­sang für sie war, und das ein­zi­ge, was ich für sie tun konn­te. Ich sang den Refrain mit; und nach­dem ich es bei ähn­li­chen Gele­gen­hei­ten immer wie­der gehört hat­te, konn­te ich das Lied, von dem ich kein ein­zi­ges Wort ver­stand, mitt­ler­wei­le auswendig.

Sonst pas­sier­te nichts mehr an die­sem Tag, es erschie­nen auch kei­ne Hand­wer­ker, und ich hat­te den Ver­dacht, dass die­se War­tungs­ar­bei­ten haupt­säch­lich mit War­ten zu tun hat­ten. Denn wir stan­den nur her­um und durf­ten unse­re Büros nicht betre­ten. Am nächs­ten Tag nahm alles sei­nen gewohn­ten Ver­lauf, nie­mand sprach mehr über den Vor­tag. Ohne dass ich einen Rhyth­mus erken­nen hät­te kön­nen, wie­der­hol­ten sich die­se War­tungs­ar­bei­ten, sodass ich sie schließ­lich erwar­te­te. Es hät­te so etwas wie Frei­zeit sein kön­nen, statt­des­sen wirk­te die erzwun­ge­ne Arbeits­pau­se quälend.

Ich öff­ne­te die Glas­tür zu dem Flur, auf dem sich mein Büro befand. Säu­er­li­cher Geruch schlug mir ent­ge­gen. In der Tee­kü­che fand ich den Kühl­schrank offen vor, hell erleuch­tet, er brumm­te, war aber leer bis auf eine verk­rum­pel­te Packung mit Scho­ko­la­den­kek­sen. Auf dem Tisch ein läng­li­cher See aus Milch, die umge­kipp­te Packung mit­ten­drin. Die wei­ße Flüs­sig­keit war bereits gestockt, stell­te ich fest, als ich einen Schritt näher trat. Plötz­lich erfass­te mich Übel­keit, ich muss­te wür­gen, dreh­te um und zog die Tür fest hin­ter mir zu.

In mei­nem Büro war alles so, wie ich es zurück gelas­sen hat­te. Erleich­tert öff­ne­te ich ein Fens­ter, dann ließ ich mich auf den Schreib­tisch­stuhl sin­ken. Ich hat­te mir Cha­os vor­ge­stellt, und kah­le Stel­len, dort, wo ver­trau­te Möbel gestan­den hat­ten. Aber natür­lich, alle hat­ten genug damit zu tun, ihre eige­nen Büros zu eva­ku­ie­ren. Was war das für eine selt­sa­me Geschich­te, Anord­nung des höchs­ten Minis­te­ri­ums? Was soll­te das sein?

Ich fuhr den Com­pu­ter hoch und öff­ne­te mei­ne Mails. Es gab eine “Anwei­sung zum sofor­ti­gen Rück­zug aus dem Gebäu­de Nr. 5” Die Haus­num­mer war doch 71. Hat­te die Fir­ma meh­re­re Gebäu­de und dies war eines davon? Es war kein Grund ange­ge­ben, nur dass der Rück­zug “voll­stän­dig, mit höchs­tem Kraft­ein­satz”, zu gesche­hen hätte.

Die Tür, die ich nur ange­lehnt hat­te, ging auf und da stand Darya. Ich moch­te sie; mit ihr war es am ein­fachs­ten. An mei­nem ers­ten Tag hat­te ich sie ange­trof­fen, als sie den Flur wisch­te, und mich bei ihr vor­ge­stellt. Sie hat­te genickt, aber nichts erwi­dert, was mich ver­un­si­cher­te. Schwei­gen hielt ich nicht lan­ge aus, und so sag­te ich: “Und Sie sind die Rei­ni­gungs­kraft?” Sie hat­te gelä­chelt. “Jeder Mensch ist eine Rei­ni­gungs­kraft.” “Äh, ach so”, hat­te ich ver­dutzt geant­wor­tet, und dann muss­te ich lachen.

Von da an lach­ten wir jedes Mal gemein­sam, wenn wir uns sahen. Irgend­et­was Absur­des gab es immer in der Fir­ma; wir wie­sen uns ver­stoh­len dar­auf hin oder erzähl­ten uns Wit­ze, die wir uns extra für die­sen Augen­blick ange­eig­net hat­ten; und manch­mal lach­ten wir auch ein­fach so, lei­se für uns, das war unse­re Reinigungskraft.

Nur heu­te sah sie sehr ernst aus, weit ent­fernt vom Lachen. “Wo zie­hen wir hin, Darya?”, frag­te ich sie. “Weißt du es noch nicht?”, frag­te sie mich, genau wie Moritz. “Ich weiß nicht viel”, gab ich zu, “nur, dass wir hier ganz schnell raus müs­sen.” “Wir müs­sen hier raus”, sag­te sie, und, weil ich es immer noch nicht begrif­fen hat­te: “Du nicht.”

“Ich nicht? War­um soll­te aus­ge­rech­net ich hier blei­ben? Ich bin doch nur eine unbe­deu­ten­de-” Darya gebot mir zu schwei­gen und ging zum Fens­ter, ich folg­te ihr. Ein Lie­fer­wa­gen war vor­ge­fah­ren, eine Frau sprang aus dem Auto, sie deu­te­te auf die kah­le Flä­che über der Ein­gangs­tür, dort wo frü­her “WWW Welt­weit Wirk­sa­me War­tungs­ar­bei­ten” gestan­den hat­te, und befahl: “Bringt die Schil­der hier an!”

Zwei Lei­tern wur­den abge­la­den, zwei Män­ner in blau erklet­ter­ten sie, fast syn­chron öff­ne­ten sie ihre jewei­li­gen Köf­fer­chen, hol­ten Akku­schrau­ber her­aus und bestück­ten sie mit den aus­ge­wähl­ten Bits. Ein drit­ter Mann hob ein Schild zu ihnen hoch: “VVV Ver­sier­te”. Wäh­rend die Män­ner auf den Lei­tern es ergrif­fen, anhiel­ten und fest­schraub­ten, hol­te der drit­te das nächs­te Schild. Es lag mit der Unter­sei­te nach oben, er dreh­te es um, ich las “Ver­suchs- und”. Als er es hoch­hob, sah ich das drit­te Schild: “Ver­bes­se­rungs­an­stalt”.

Und dann ging alles ganz schnell. Darya riss sich das Kopf­tuch von ihren Haa­ren, die schwarz und präch­tig her­vor­quol­len, und stieg aus ihrem Kleid. Ich brauch­te zwei Sekun­den län­ger, dann ent­klei­de­te auch ich mich, streif­te das Kleid über und band mir das Kopf­tuch um. Darya stopf­te einen ihrer Putz­fet­zen unter das Tuch, und täusch­te damit Haar­fül­le vor.

“Aber — mein Gesicht”, stam­mel­te ich. “Aufs Gesicht gucken sie nicht”, wuss­te Darya. Ich umarm­te sie: “Dan­ke! Ich hof­fe, du bekommst kei­ne Schwie­rig-” Sie unter­brach mich, drück­te mir einen dicken Kuss auf die Wan­ge und schob mich zur Tür hin­aus. Im Flur stand der Putz­wa­gen, ich schnapp­te mir einen Flach­wi­scher und schob ihn vor mir her, als ich zur Trep­pe ging. Es klapp­te; Moritz, der den nächs­ten Akten­schrank zum Auf­zug roll­te, erkann­te mich nicht.

Ich rann­te die Trep­pe run­ter, stell­te den Wischer an der Ein­gangs­tür ab, und ging hin­aus. Der Lie­fer­wa­gen stand quer in der Ein­fahrt, dahin­ter war­te­te, mit lau­fen­dem Motor, das rote Auto. Julia stieg aus und rief: “Wir brau­chen den Platz hier!” Und dann bemerk­te sie mich: “Bist du mit den Brief­käs­ten schon fertig?”

Sofort dreh­te ich um, ging zurück hin­ein und ergriff die gro­ße Schau­fel. Wäh­rend Moritz den Akten­schrank durch die Ein­gangs­hal­le roll­te, schob ich einen Brief­kas­ten zum Con­tai­ner; als ich ihn hoch­he­ben woll­te, schaff­te ich es nicht. Ich woll­te wei­nen, das trau­ri­ge Lied fiel mir ein. War­um ich? War­um durf­te ich nicht mit umzie­hen, son­dern muss­te hier in einer Ver­suchs- und Ver­bes­se­rungs­an­stalt blei­ben? Was hat­te ich falsch gemacht? Ich fühl­te mich so schwer und elend, woll­te auf­ge­ben. Mich ergeben.

Nein!, rief es in mir. Ich pack­te den Brief­kas­ten noch ein­mal, dies­mal öff­ne­te sich die Klap­pe, die Brie­fe quol­len her­aus, und dann konn­te ich ihn leicht anhe­ben. Es schep­per­te, als er auf die ande­ren Käs­ten im Con­tai­ner prall­te. Julia kam die Trep­pe her­un­ter, sie trug einen buschi­gen Farn. Einer der Wedel ver­fing sich in den Ver­stre­bun­gen des Trep­pen­ge­län­ders. Sie hielt inne, mit einer zärt­li­chen Bewe­gung befrei­te sie den Farn. Julia!, woll­te ich rufen, Ich bin’s! Auch ich brau­che Befrei­ung … Aber Julia ging wei­ter und ich sag­te nichts; ich wuss­te nicht, ob ihr Mit­ge­fühl viel­leicht nur dem Farn galt.

Moritz kam her­ein; die bei­den gin­gen wie Frem­de anein­an­der vor­bei. Ich war­te­te, bis Julia wie­der­kam. Sie eil­te die Trep­pe hoch, wahr­schein­lich um auch noch den Gum­mi­baum aus ihrem Büro zu holen. Als sie nicht mehr zu sehen war, husch­te ich hin­aus. Nie­mand beach­te­te mich, ich zwang mich, lang­sam die Stra­ße ent­lang zu gehen.

An der Ecke dreh­te ich mich um, sah die schrau­ben­den Män­ner, die das drit­te Schild anbrach­ten, und Darya am Fens­ter, die kurz die Hand hob. Ich wink­te, bog in die Quer­stra­ße ein und rann­te los. Rann­te, rann­te, und rann­te, bis ich in einem Teil der Stadt war, den ich nicht kann­te. Erst da hielt ich inne, keu­chend, hielt mich an einem Zaun fest, die Metall­stre­be kalt in mei­ner Hand.

Ich ver­stand nichts; ich konn­te kaum atmen; ich wuss­te nur, ich war entkommen.

Suppenmalheur

rosa rot gelbe Flüssigkeit mit Schaum und Spiegelung von Himmel, in der 4 Finger auftauchen

Ich mag’s nicht, wenn jemand in mei­ner Sup­pe schwimmt. “Hal­lo!”, rufe ich, “könn­ten Sie bit­te wie­der her­aus­kom­men?” Obwohl ich mir unsi­cher bin, ob ich die Sup­pe über­haupt noch essen will, nach­dem die­se Frau im rosa Bade­an­zug sie durch­quert hat. Sie hört auch nicht auf mich. Am Tel­ler­rand ange­langt, voll­führt sie eine ele­gan­te Wen­de, wie ich sie nie hin­be­kom­men habe, stößt sich ab und schwimmt zügig durch die Brü­he, wobei die Grieß­no­ckerl, wie gut­mü­ti­ge Ber­ge, ihr schau­kelnd ausweichen.

Ich rufe den Kell­ner. “Jetzt sehen Sie sich das an!” Er schaut in mei­nen Tel­ler: “Oh, das ist ja”, er ver­zieht das Gesicht, und als ich mir schon sicher bin, dass er so etwas wie “ärger­lich” sagen wird, sagt er statt­des­sen: “inter­es­sant.” Inter­es­sant ist es, das muss ich zuge­ben. Die Frau krault jetzt. Jedes Mal wenn sie den Arm aus der Sup­pe hebt, um Schwung zu holen für den nächs­ten Zug, bespritzt sie die Nockerl, die sich wie eine Berg­ket­te an den Rand drän­gen, um ihr Platz zu machen.

“Ich möch­te eine neue Sup­pe”, sage ich zum Kell­ner. “Ja ger­ne, aber”, er wiegt den Kopf hin und her, “wenn wir noch ein biss­chen war­ten, dann ist sie viel­leicht fer­tig.” “Bis dahin ist die Sup­pe kalt.” Wahr­schein­lich ist sie jetzt schon nicht mehr beson­ders warm, den­ke ich. Wer wür­de schon in hei­ßer Sup­pe schwim­men? “Immer im Früh­ling”, seufzt der Kell­ner, “da wol­len die Leu­te auf ein­mal trai­nie­ren. Und die Gebüh­ren für das Schwimm­bad sind ja exor­bi­tant gestiegen.”

“Das ist bedau­er­lich, aber ich möch­te trotz­dem eine Sup­pe mit ohne was dar­in.” “Sie woll­ten doch Grieß­no­ckerl?” “Ja, ja. Die Nockerl sind auch okay.” Obwohl ich mir da mitt­ler­wei­le auch unsi­cher bin. Mir scheint es, als hät­ten sie eine Eigen­be­we­gung. “Wahr­schein­lich hat sie sich zwi­schen den Nockerln ver­steckt”, über­legt der Kell­ner. “Als ich die Sup­pe ser­viert habe, habe ich nichts Unge­wöhn­li­ches bemerkt.” “Ich auch nicht”, gebe ich zu, aber das ist ein Feh­ler. “Das wird’s sein! Sie ist aus Ihrer Jacken­ta­sche gekommen!”

Mei­ne Jacke habe ich über die Stuhl­leh­ne gehängt, und tat­säch­lich steht der Reiß­ver­schluss der Brust­ta­sche offen, was vor­her nicht so war. Ich bin irri­tiert. Als ich in die Tasche hin­ein fas­se, fin­de ich eine win­zi­ge Bade­kap­pe, eben­falls rosa. Der Kell­ner nickt zufrie­den. “Aber, ich ken­ne die­se Frau über­haupt nicht!”, pro­tes­tie­re ich. “Sei­en Sie froh, dass sie so klein ist. Ich hat­te mal einen Mann in mei­nem Schrank woh­nen, der war zwei Meter groß.”

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Abhängigkeiten

Blaue Wäscheleine in Schlingen und verknotet, schneebeladen, vor orangem Hintergrund

Als sich die Auf­zugs­tür öff­ne­te und ich, wie jeden Mor­gen, ver­schla­fen die Kabi­ne betre­ten woll­te, blieb ich statt­des­sen ver­dutzt ste­hen und war auf ein­mal hell­wach. Im Auf­zug waren vier Waschbären.

Nein nur drei: einer betrach­te­te sich im Spie­gel; ich hat­te ihn dop­pelt gezählt. Ein ande­rer hock­te auf dem Sitz, auf den ich mei­ne schwe­re Ein­kaufs­ta­sche stell­te, wenn ich eine hat­te. Der drit­te stand auf den Hin­ter­bei­nen, zu mir gewandt, und hielt sich an der Stan­ge fest.

Ich hät­te auch ger­ne eine Stan­ge zum Fest­hal­ten gehabt. Wasch­bä­ren? Ich starr­te in den Auf­zug hin­ein, sie starr­ten her­aus. Sie mach­ten kei­ner­lei Anstal­ten, aus­zu­stei­gen, was mir auch ganz recht war. Der Wasch­bär an der Stan­ge reck­te sich zum Stock­werk-Anzei­ger hoch. Sei­ne Pfo­te reich­te aber nur bis zur 3, und im drit­ten Stock waren sie ja schon ange­kom­men. Plötz­lich hüpf­te er, und drück­te auf das “D”. Die Flä­che leuch­te­te auf, die Auf­zugs­tür schloss sich. Die Wasch­bä­ren fuh­ren los, zum Dachboden.

Dort hat­te ich ges­tern mei­ne Wäsche zum Trock­nen auf­ge­hängt. Dar­un­ter der blaue Bett­be­zug, den ich mir ganz neu gekauft hat­te. Was woll­ten die Wasch­bä­ren auf dem Dach­bo­den? Ich wuss­te wenig über die­se Tie­re. Neu­lich hat­te ich eine Notiz gele­sen, dass sie sich in Städ­ten ver­brei­te­ten und dabei geschickt und krea­tiv vor­gin­gen. Das konn­te ich jetzt bestä­ti­gen. War­um hie­ßen sie eigent­lich Wasch­bä­ren? Mei­ne Wasch­ma­schi­ne stand auch auf dem Dachboden.

Ich drück­te, der Auf­zug kam zu mir zurück. Leer. Ein stren­ger Geruch haf­te­te ihm an, sodass ich wohl nicht geträumt hat­te. Jetzt hät­te ich eigent­lich zur Arbeit fah­ren müs­sen. Statt­des­sen drück­te auch ich auf das D.

Oben ange­kom­men sah ich gera­de noch einen Zip­fel mei­nes Bett­be­zugs in der offe­nen Tür zur Kam­mer von Frau Jäger ver­schwin­den. Ich hin­ter­her. Frau Jäger hat­te, genau wie ich, eine Kam­mer von 8 m² als Abstell­raum. Aber sie hat­te noch mehr, näm­lich, hoch oben, eine Dach­lu­ke, die die Wasch­bä­ren irgend­wie erreicht hat­ten. Einer sprang auf den Griff des Kipp­fens­ters und öff­ne­te es, die ande­ren bei­den woll­ten mei­nen Bett­be­zug aufs Dach schlei­fen. Ich pack­te den her­ab­hän­gen­den Stoff, aber die Wasch­bä­ren waren stär­ker, sodass mei­ne Füße den Boden ver­lie­ßen und ich Rich­tung Dach­lu­ke schwebte.

“Hil­fe!” rief ich, und sofort ant­wor­te­te der Haus­meis­ter, Herr Pospi­schil : “Ich komme!” 

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Heute hätte ich beinahe geheiratet

Tür auf dem ein großer brauner Fleck wie ein Tier sitzt

Die Schu­he hat­te ich schon an, die Jacke auch, aber als ich zu mei­nen Hand­schu­hen griff, die auf der Kom­mo­de lagen, fiel mir auf, dass der Kalen­der schief hing.

Der Kalen­der war eigent­lich kei­ner, jeden­falls nicht in dem Sin­ne, dass er der zeit­li­chen Ori­en­tie­rung dien­te. Er hing schon da, als ich ein­zog, und zeig­te den Juni eines mir unbe­kann­ten Jah­res und ein Pick­nick an einem Was­ser­fall. Die Men­schen saßen und lagen, aßen, unter­hiel­ten und küss­ten sich, hin­ter einem Vor­hang aus Gischt, den der Was­ser­fall ver­sprüh­te, sodass sie nur sche­men­haft zu erken­nen waren und nicht den übli­chen Kate­go­rien zuge­ord­net wer­den konn­ten. Quer über dem Bild stand: “Was wür­de Judith But­ler dazu sagen?”

Auf der ande­ren Sei­te des Was­ser­falls stand stramm der Nadel­wald, aus dem eine dicke Wur­zel her­aus rag­te, die auch die Schnau­ze eines schla­fen­den Tie­res sein hät­te kön­nen. “Den Kalen­der lässt du bes­ser hän­gen”, sag­te die Vor­mie­te­rin zu mir, “er hat genau die rich­ti­ge Grö­ße.” Sie hob ihn kurz hoch und zeig­te mir den gro­ßen rot­brau­nen Fleck an der Wand. “Lässt sich nicht abwa­schen”, behaup­te­te sie, und ich habe es nicht über­prüft, weil mir der Fleck unheim­lich war und ich an Blut den­ken muss­te. Ein Blut­fleck in die­ser Höhe, dazu fiel mir nur ein Kopf­schuss oder etwas ähn­lich Schreck­li­ches ein, und weil das sehr unwahr­schein­lich war, beschloss ich, ihn zu ver­ges­sen. Das Bild gefiel mir, es pass­te gut in mei­ne Woh­nung. Die ande­ren Mona­te habe ich mir nicht ange­se­hen, über­haupt habe ich die­sen Kalen­der noch nie berührt.

Und jetzt hing er schief. Wahr­schein­lich war ich ges­tern beim Staub­saugen dar­an gesto­ßen, ohne es zu bemer­ken. Ich woll­te beson­ders gründ­lich sein, und hat­te auch die Ecken gesaugt, die ich sonst ver­nach­läs­sig­te, in Anbe­tracht der Hoch­zeits­gäs­te, die mich heu­te womög­lich besu­chen kom­men wür­den, genau wuss­te ich das nicht. Ich hat­te noch nie zuvor gehei­ra­tet und war nervös.

Ich war auch spät dran und womög­lich befan­den sich auf mei­nem Han­dy bereits meh­re­re Nach­rich­ten, die sich nach mei­nem Ver­bleib erkun­dig­ten, oder dar­an erin­ner­ten, was ich mit­brin­gen soll­te, aber wenn ich jetzt zu lesen anfing, wür­de es noch spä­ter wer­den, also ließ ich mein Han­dy laut­los in der Tasche.

‘Ich habe alles’, mur­mel­te ich beru­hi­gend auf mich ein, ‘und alles in der Woh­nung ist in Ord­nung.’ Bis auf den Kalen­der eben. Ich zöger­te, ihn anzu­fas­sen. Denn natür­lich hat­te ich den Blut­fleck, ent­ge­gen mei­nem Vor­ha­ben, nicht ver­ges­sen, in den drei Jah­ren, die ich in die­ser Woh­nung wohn­te; viel­mehr hat­te ich die gan­ze Zeit dar­an gedacht, aber immer so getan, als wür­de es kei­ne Rol­le spie­len, dass es in mei­ner Woh­nung einen Fleck unbe­kann­ter Her­kunft gab, der sich nicht ent­fer­nen ließ.

Wahr­schein­lich war es gar kein Blut­fleck. Und selbst, wenn es einer war, bedeu­te­te es nicht, dass die Vor­mie­te­rin jeman­den umge­bracht hat­te. Und der Ver­mie­ter schon gar nicht. Er war schon vor drei Jah­ren so schlecht zu Fuß gewe­sen, dass er die Trep­pen in den drit­ten Stock nicht mehr schaff­te und mein­te, die Über­ga­be der Woh­nung müss­ten wir unter uns regeln.

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Das Begräbnis des Bäckers

2 Hände bedienen einen Blaseblag, der Stroh in einem Metallbehälter zum Brennen bringt, es raucht stark, über eine blaue Kiste hinweg

“Wer­den Sie hin­ge­hen?”, fragt mich die Nach­ba­rin. Ihre Arm­rei­fen, sie klir­ren lei­se, es klingt eine War­nung. “Ich habe ihn gar nicht

gekannt”, behaup­te ich, und wen­de mich ab vom Schau­fens­ter, in dem nur noch ein blau­es Tuch vol­ler Krü­meln Fal­ten wirft: “Ich esse kein Brot. Bröt­chen backe

ich selbst. Und-” “Ich war hier jeden Sams­tag”, sagt sie. Manch­mal sogar don­ners­tags.” “Also wer­den Sie hin­ge­hen?” “Ich weiß nicht … ob ich geeig­net bin.” “Ich auch nicht”, sage ich schnell. “Es gibt so viele

ande­re.” Ich will mich nicht fest­na­geln las­sen. Wenn das Schild nicht wäre, an der Laden­tür, mit der Ein­la­dung, oder soll ich sagen Auf­for­de­rung, zur Beer­di­gung zu erschei­nen, mit

Gedich­ten

Was für Gedich­te? Zum Vor­le­sen oder als Papier­flug­zeu­ge gefal­tet, die über sei­nem Grab krei­sen, auf den Sarg

tref­fen? Wür­de ich ein Gedicht über den Bäcker schrei­ben, könn­te ich auch alles ande­re nicht weg­las­sen. Der Bäcker war, wie alle … ein Mit­tel­punkt. Ich habe ihn nur weni­ge Male

reden hören, und immer nur im Halb­dun­kel. Aber auf dem Foto habe ich ihn sofort erkannt. “Wenn man wüsste,

wer da sein wird”, sagt die Nach­ba­rin, Frau Nagel, und spreizt ihren Schirm. Wir ste­hen schon eine Wei­le im Regen, unse­re Gesich­ter glän­zen vor Näs­se, man könnte

mei­nen, wir wür­den wei­nen, wegen des Bäckers, oder weil wir jetzt nicht mehr an den Zimt­schne­cken rie­chen kön­nen oder wegen der Stil­le, die herrscht. “Aber hin­ge­hen soll­te man doch”, sagt sie, ängst­lich, und ich weiß nicht, ob sie Angst hat vorm Hin­ge­hen oder vorm Wegbleiben

oder vor bei­dem … Sie ist im all­ge­mei­nen nicht furcht­sam. Neu­lich, in der Eiche, ist sie ohne zu zögern ganz nach oben. “Wie geht es Ihrer Kat­ze?”, fra­ge ich. Als sie zu dem Ast kam, auf dem die Kat­ze hock­te und klag­te, sprang die­se plötz­lich mit einem Satz ins Freie und

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Bitte nicht öffnen!

Graffiti von einer Getränkedose mit vier Beinen, die aus einem brennenden Gebäude flieht

Sie steht ganz oben auf dem Küchen­re­gal. Frü­her habe ich Kek­se dar­in auf­be­wahrt, aber ich habe schon lan­ge kei­ne mehr geba­cken. Eine etwas ver­beul­te Dose, rot, “Nürn­ber­ger Leb­ku­chen” steht dar­auf. Seit eini­ger Zeit muss ich die immer anstar­ren. Was ist mit die­ser Dose?

Schließ­lich stel­le ich mich auf den Tritt und hole sie her­un­ter. Vor­sich­tig zie­he ich den Deckel ab. Was ist das? Lau­ter Trüm­mer! So vie­le Lei­chen, Ver­stüm­mel­te und — das ist ja scheuß­lich! Das sieht aus wie — Wie kommt denn so was in mei­ne Küche?

Schnell den Deckel drauf. Was mache ich jetzt damit? Ich muss es los­wer­den. Das kommt in die Müll­ton­ne, beschlie­ße ich. Mor­gen ist Abfuhr­tag. Ja, weg damit! Jetzt sofort. Ich schnap­pe mir die Schlüs­sel, wick­le ein Geschirr­tuch um die Dose und tra­ge das Päck­chen in den Keller.

Im Trep­pen­haus tref­fe ich Frau Bes­te. Als ich “Guten Tag” sagen möch­te, dringt ein dump­fer Schrei aus der Dose. “Was haben Sie denn da”?, fragt sie miss­trau­isch. “Nichts”, sage ich schnell, hal­te ihrem Blick aber nicht lan­ge stand. “Das ist … Da ist … ich kann nichts dafür”, stot­te­re ich, “aber ich glau­be, da ist ein Geno­zid drin.” “Und wo wol­len Sie damit hin?” Ich sage nichts, spü­re, wie ich rot werde.

“Glau­ben Sie nicht, dass Sie das in die Müll­ton­ne wer­fen kön­nen! Das ist Son­der­müll! Da müs­sen Sie beim Recy­cling­hof anru­fen, und nach­fra­gen, wo das hin kann. Auf jeden Fall nicht in unse­ren Kel­ler! Wir sind ein ordent­li­ches Haus.” Ich schlei­che mit mei­ner Dose die Trep­pe wie­der hoch.

Beim Recy­cling­hof reagie­ren sie zurück­hal­tend. “Geno­zid? Wir sind hier nur für Pes­ti­zid zustän­dig. Außer­dem, was mei­nen Sie damit? Wo gibt’s denn so was?” “Ich weiß auch nicht, wie der in mei­ne Küche gera­ten ist!” “Soll­ten Sie womög­lich not­wen­di­ge Ver­tei­di­gungs­maß­nah­men als Völ­ker­mord bezeich­nen, so müss­te ich Sie wegen Ver­leum­dung anzei­gen.” “Da habe ich mich viel­leicht falsch aus­ge­drückt … es ist nur wegen der vie­len toten Kin­der …” “Wenn es sich um Tote han­delt, müs­sen Sie sich an den Fried­hof wen­den!” “Ah, gute Idee.”

Ich rufe aber nicht gleich beim Fried­hof an. Das Gespräch hat mich erschöpft. Die Dose steht jetzt auf dem Küchen­tisch, noch immer in das Geschirr­tuch gewi­ckelt. Wie konn­te sich so eine harm­lo­se Nürn­ber­ger Leb­ku­chen Dose in einen Kriegs­schau­platz ver­wan­deln? Und war­um ist die­ser Völ­ker­mord aus­ge­rech­net zu mir gekom­men? Oder haben alle so eine Dose zu Hause?

Schließ­lich rufe ich beim größ­ten Fried­hof der Stadt an. “Ich habe ein … etwas unge­wöhn­li­ches Pro­blem … also, ich habe hier meh­re­re Tote.” “Meh­re­re Tote?”, fragt die Frau ent­setzt. “Ein Ver­kehrs­un­fall? Ich hab gar nichts in der Zei­tung gele­sen.” “In der Zei­tung steht auch nicht so viel von die­sen Toten. Es sind aber vie­le. Vor ein paar Mona­ten waren es 40.000. Danach haben sie, glau­be ich, mit dem Zäh­len auf­ge­hört.” “40.000? Sind Sie ver­rückt? Das sind viel zu vie­le für das Stadt­ge­biet Bremen.”

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