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BusTorTour: Ganz außergewöhnlich, zugleich allgemeingültig

Später ließ sich nicht mehr feststellen, ob es von vornherein der falsche Bus gewesen war, oder der richtige Bus, der von seiner Strecke abgewichen war, wie die meisten behaupteten.
Eine ruhige Fahrt war es von Anfang an nicht gewesen. Ständig klopfte jemand ans Fenster und wollte unbedingt rein. Dann waren wieder Würgegeräusche zu hören, es roch nach Erbrochenem und Leute wollten dringend raus. Viele ertrugen aber den rauen Wind nicht, der ihnen dort entgegenschlug. Sie stiegen wieder ein und würgten weiter. So viel Übelkeit auf einer einzigen Fahrt hatte noch niemand erlebt; freilich gab es auch reichlich Kurven.
Der Busfahrer machte alles mit, hielt bei der kleinsten Störung an und regte sich auch nicht auf, als andere, die schneller vorankommen wollten, ihn so beschimpften, wie man es keinem Busfahrer wünscht.
Auch die meisten Fahrgäste wirkten erstaunlich gelassen. Sie plauderten, dösten, frühstückten, starrten in ihr Smartphone oder verbargen sich hinter riesigen Zeitungen; verhielten sich also wie sonst auch auf dem Weg zur Arbeit, und das, obwohl die Fahrt ein paar Monate länger dauerte.
Von außen betrachtet, hätten die Insassen eigentlich merken müssen, dass da etwas nicht stimmte, aber vieles ist von außen betrachtet einfacher zu erkennen, und im Nachhinein ist es immer leicht, Weisheiten zu verbreiten.
Außerdem sah doch ab und zu jemand aus dem Fenster und fragte halblaut: “Stimmt das hier eigentlich noch?” Aber da gab es immer welche, die sofort erwiderten: “Natürlich stimmt das, es ist die richtige Linie! Ich fahre seit Jahren gut damit!” Und andere nickten erleichtert, dann konnte es ja nicht falsch sein. Denn das war ihnen das Wichtigste: nie wieder wollten sie die falsche Linie fahren.
Noch dazu bemerkten sie ja, dass diejenigen, die ausstiegen, sofort verblassten, in den Staub fielen, und so ungemütlich aussahen, dass alle froh waren, dass der Bus schnell weiter fuhr und sie den Anblick der Ausgestiegenen nicht lange ertragen mussten. Dann besser drin bleiben, Vorhang vorziehen; in den Nachrichten stand ja, dass alles rechtmäßig war.
Als die Vorhänge zu brennen anfangen, wollen die meisten nichts damit zu tun haben. Manche halten sich die Augen zu. Aber dann wird es zu heiß, und alle schlagen um sich, mit Jacken, Hüten, Aktentaschen, bis das Feuer endlich gelöscht ist. Von den Vorhängen bleiben nur Fetzen und die Sicht nach draußen, jetzt unverblümt, löst gellende Schreie aus: ringsum Irrniss. Der Weg ist ja ganz falsch!
Sofort stürzen sich welche auf den Fahrer. Er muss verprügelt werden! Und da wird der Betrug offensichtlich: es ist eine Attrappe. “KI!”, ruft jemand erbost, zückt ein Taschenmesser und schneidet den Kopf ab: nur Watte quillt heraus.
Es muss also der Bus gewesen sein. Schon schwingt jemand den Nothammer, Scheiben klirren. Die Fahrgäste, die monatelang geduldig mitgefahren sind, empören sich jetzt, sind hellwach und entschlossen. Mit Regenschirmen, Buttermessern, Nagelfeilen und schierer Kraft zerfetzen sie die Sitze, zertrümmern das Armaturenbrett, deformieren das Lenkrad bis zur Unkenntlichkeit. Und dann ran an die Eingeweide! Alle sind jetzt schmutzig, zerzaust und außer Atem. Und voller Zorn. Sie sind betrogen worden! Die ganze Zeit über haben sie sich unwohl gefühlt, aber sie haben alles mitgemacht; und jetzt das!
Als Flammen aus der Ölwanne schlagen, jubelt die Menge. Mit leuchtenden Gesichtern, versengten Haaren, und in der großen Befriedigung, sich endlich richtig ausgedrückt zu haben, sind alle wild darauf, gleich das verkohlte Gerippe zu zerlegen, zu zertreten, es zuzuschütten und auf ewig zu begraben, damit niemand behaupten kann, dass sie sich geirrt hätten.
Auf dem Weg zur Arbeit

Wenn ich zur Arbeit fahre, bin ich oft schon fast zu spät dran, und jetzt wird auch noch an vielen Stellen der Asphalt aufgerissen. Baugruben entstehen, scheinbar über Nacht, hastig, manchmal nicht einmal abgesichert. Vielleicht werden die Absperrungen auch gestohlen, diese rot-weißen Plastikgitter mit den Warnleuchten obendrauf. Ich weiß nicht, ob die Leute sich die in den Garten stellen oder ins Wohnzimmer, oder ob sie damit ihre eigenen Gruben absichern.
Ich sehe auch nie jemanden bauen, und keine Maschinen. Vielleicht sind diese Gruben gar keine, also nicht in dem Sinne, dass jemand sie gegraben hat. Vielleicht reißt der Boden von alleine auf, und das, was uns immer getragen hat, trägt nicht mehr, gibt nach, versinkt.
Bis jetzt konnte ich den Löchern auf der Straße immer noch rechtzeitig ausweichen, den Fahrradlenker herum reißen und den Sturz verhindern; aber nur, weil ich mit erhöhter Wachsamkeit fahre und jederzeit mit einem Abgrund rechne.
Eines Tages, wenn ich vielleicht noch etwas verschlafen bin, wird es passieren. Auch wer keine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Hoffentlich breche ich mir nichts. Oder wenigstens nicht die Hände. Hauptsache ich kann schreiben, während ich krank geschrieben bin. Was mache ich sonst, Tag für Tag zu Hause, nur über Gruben grübeln, und warum es mir nicht gelungen ist, dieses doch vorhersehbare Unglück zu vermeiden? Eigentlich wäre es am besten, ich würde mich schon vor dem Sturz krank schreiben lassen. Ich müsste nur meine Hausärztin von dieser präventiven Maßnahme überzeugen können.
Während ich über Argumente nachdenke und einer kleineren, mir schon bekannten Vertiefung ausweiche, werde ich von einem riesigen roten LKW überrascht, der von rechts aus einer Einfahrt drängelt. Ich bremse scharf ab, mache dem Ungetüm Platz. Mit Dröhnen biegt es auf die Straße ein, die Gesteinsbrocken auf der Ladefläche vibrieren, und dann wankt der ganze Laster, kippt nach links, die Ladung kommt in Bewegung, Brocken rollen, überstürzen sich, schmettern auf die Straße und prallen von ihr ab. Der LKW ist mit dem linken Vorderrad in eine Baugrube gesackt.
Das war die Grube, die für mich bestimmt war, denke ich, und jetzt hat sich dieses aufdringliche Fahrzeug hinein gestürzt — und dafür bin ich ihm dankbar.
Der Motor heult auf, der Laster ruckt vorwärts, sinkt in das Loch zurück, noch einmal und noch einmal. Ich traue mich nicht an dem steineschleudernden Monster vorbei. Jetzt komme ich sicher zu spät zur Arbeit, aber wenigstens habe ich eine anschauliche Erklärung dafür.
Schließlich steigt der LKW Fahrer aus, zückt eine Peitsche und versetzt der roten Flanke einen Hieb, sodass meterlang der Lack abplatzt und ein grauer Striemen zurückbleibt. Der Laster jault, bäumt sich auf, reißt das Rad aus der Grube, die Ladung rutscht, Steine springen durch die Luft, einer trifft mich an der Stirn.
„Auf dem Weg zur Arbeit“ weiterlesenEntkommen

Ein großer Umzugswagen stand vor der Tür. Aus dem Eingang kam jemand und hielt einen riesigen Bildschirm mit beiden Händen umspannt: es war meine Kollegin Julia. “Da bist du ja!”, rief sie mir zu. “Alles muss raus!” Als ob es sich um einen Schlussverkauf handeln würde. “Warum denn?”, fragte ich sie. Aber sie hatte mir schon den Rücken zugedreht und steuerte ein rotes Auto an, das schräg vorm Haus parkte; auf den Vordersitzen saßen zwei mir unbekannte Männer in Anzügen. Julia verstaute den Bildschirm auf dem Rücksitz und stieg selber auch mit dazu. Sie hatte die Tür noch nicht zugezogen, da startete das Auto schon, fuhr auf mich zu und an mir vorbei, jagte die graue Straße entlang, bis es nur noch ein roter Punkt war. Ich blieb benommen zurück. Ich war doch nur zwei Wochen im Urlaub gewesen.
Die Eingangstür stand offen. Der Boden war mit Briefen übersät. Ich hielt erschrocken inne. Es hatte zu meinen Aufgaben gehört, die Briefe zu sortieren, und jetzt lagen sie hier achtlos verstreut, mit Staub und Fußspuren bedeckt. Da wo früher die Briefkästen ihren Platz gehabt hatten, klaffte jetzt ein Loch; die Kästen selbst, stark verbeult, von wer weiß welcher Kraft aus der Verankerung gerissen, lagen wie hingeschleudert. Darya war mit der großen Schaufel zugange, mit der sie im Winter das Eis vom Gehweg kratzte; sie schob einen Briefkasten vor sich her. Ich wollte sie ansprechen, aber sie sah mich nicht, und dann packte sie den Briefkasten und warf ihn in den Container, der in der Ecke stand. Es schepperte und dröhnte, mir stockte der Atem, ich flüchtete auf der Treppe nach oben.
Dort versuchte Moritz, einen Aktenschrank in den Aufzug zu schieben. Ein Rad war in den Rillen hängengeblieben, ich packte mit an, und gemeinsam schafften wir es. “Danke”, Moritz nickte mir zu und drückte auf das E für Erdgeschoss. “Was ist denn hier los?”, fragte ich ihn. Er musterte mich. “Weißt du es noch nicht?”, sagte er schließlich. “Anordnung des höchsten Ministeriums. Sofortige Evakuierung.” “Aber — warum?” “Alles muss hier anders werden.” Die Aufzugtür glitt zu, ich starrte die silberne Fläche an.
Ich hatte Angst davor, in mein Büro zu gehen. Es war nur ein Job, aber ich war schon ein paar Jahre hier und hatte mich daran gewöhnt, 20 Stunden in der Woche Briefe zu sortieren, Mails weiter zu leiten, Dokumente aus den Aktenordnern zu ziehen und in ein bestimmtes Büro zu bringen oder sie umgekehrt abzuholen und wieder einzuordnen. Einmal sollte ich einen Vortrag über meine Arbeit halten, er wurde von den Kolleg*innen höflich beklatscht. Mit meinen Kolleg*innen ging ich ab und zu zum Mittagessen, meistens aber nicht. Es war eine gemütliche Arbeit, die Hälfte der Zeit konnte ich an meinen eigenen Geschichten schreiben, ohne dass das jemals negativ auffiel, im Gegenteil.
Es war mir immer so vorgekommen, als wäre es erwünscht, dass ich nicht allzu viel arbeitete. Manchmal kam mir das, was ich zu tun hatte, geradezu unsinnig vor. Ich hatte zum Beispiel die Aufgabe, alle ungespitzten Bleistifte aus allen Büros in allen Abteilungen einzusammeln, im Werkstattraum zu spitzen und dann wieder zu verteilen, wobei ich das erste Mal noch den Fehler begangen hatte, sie wahllos zu verteilen, was zahlreiche Beschwerden nach sich gezogen hatte, und eine sehr umständliche Neuverteilungsaktion, sodass ich mir das nächste Mal auf jedem Bleistift mit einem Postit vermerkte, aus welchem Büro und von welchem Schreibtisch er stammte. Seither hatte sich niemand mehr über mich beschwert, weil ich etwas Wesentliches gelernt hatte.
„Entkommen“ weiterlesenSuppenmalheur

Ich mag’s nicht, wenn jemand in meiner Suppe schwimmt. “Hallo!”, rufe ich, “könnten Sie bitte wieder herauskommen?” Obwohl ich mir unsicher bin, ob ich die Suppe überhaupt noch essen will, nachdem diese Frau im rosa Badeanzug sie durchquert hat. Sie hört auch nicht auf mich. Am Tellerrand angelangt, vollführt sie eine elegante Wende, wie ich sie nie hinbekommen habe, stößt sich ab und schwimmt zügig durch die Brühe, wobei die Grießnockerl, wie gutmütige Berge, ihr schaukelnd ausweichen.
Ich rufe den Kellner. “Jetzt sehen Sie sich das an!” Er schaut in meinen Teller: “Oh, das ist ja”, er verzieht das Gesicht, und als ich mir schon sicher bin, dass er so etwas wie “ärgerlich” sagen wird, sagt er stattdessen: “interessant.” Interessant ist es, das muss ich zugeben. Die Frau krault jetzt. Jedes Mal wenn sie den Arm aus der Suppe hebt, um Schwung zu holen für den nächsten Zug, bespritzt sie die Nockerl, die sich wie eine Bergkette an den Rand drängen, um ihr Platz zu machen.
“Ich möchte eine neue Suppe”, sage ich zum Kellner. “Ja gerne, aber”, er wiegt den Kopf hin und her, “wenn wir noch ein bisschen warten, dann ist sie vielleicht fertig.” “Bis dahin ist die Suppe kalt.” Wahrscheinlich ist sie jetzt schon nicht mehr besonders warm, denke ich. Wer würde schon in heißer Suppe schwimmen? “Immer im Frühling”, seufzt der Kellner, “da wollen die Leute auf einmal trainieren. Und die Gebühren für das Schwimmbad sind ja exorbitant gestiegen.”
“Das ist bedauerlich, aber ich möchte trotzdem eine Suppe mit ohne was darin.” “Sie wollten doch Grießnockerl?” “Ja, ja. Die Nockerl sind auch okay.” Obwohl ich mir da mittlerweile auch unsicher bin. Mir scheint es, als hätten sie eine Eigenbewegung. “Wahrscheinlich hat sie sich zwischen den Nockerln versteckt”, überlegt der Kellner. “Als ich die Suppe serviert habe, habe ich nichts Ungewöhnliches bemerkt.” “Ich auch nicht”, gebe ich zu, aber das ist ein Fehler. “Das wird’s sein! Sie ist aus Ihrer Jackentasche gekommen!”
Meine Jacke habe ich über die Stuhllehne gehängt, und tatsächlich steht der Reißverschluss der Brusttasche offen, was vorher nicht so war. Ich bin irritiert. Als ich in die Tasche hinein fasse, finde ich eine winzige Badekappe, ebenfalls rosa. Der Kellner nickt zufrieden. “Aber, ich kenne diese Frau überhaupt nicht!”, protestiere ich. “Seien Sie froh, dass sie so klein ist. Ich hatte mal einen Mann in meinem Schrank wohnen, der war zwei Meter groß.”
„Suppenmalheur“ weiterlesenAbhängigkeiten

Als sich die Aufzugstür öffnete und ich, wie jeden Morgen, verschlafen die Kabine betreten wollte, blieb ich stattdessen verdutzt stehen und war auf einmal hellwach. Im Aufzug waren vier Waschbären.
Nein nur drei: einer betrachtete sich im Spiegel; ich hatte ihn doppelt gezählt. Ein anderer hockte auf dem Sitz, auf den ich meine schwere Einkaufstasche stellte, wenn ich eine hatte. Der dritte stand auf den Hinterbeinen, zu mir gewandt, und hielt sich an der Stange fest.
Ich hätte auch gerne eine Stange zum Festhalten gehabt. Waschbären? Ich starrte in den Aufzug hinein, sie starrten heraus. Sie machten keinerlei Anstalten, auszusteigen, was mir auch ganz recht war. Der Waschbär an der Stange reckte sich zum Stockwerk-Anzeiger hoch. Seine Pfote reichte aber nur bis zur 3, und im dritten Stock waren sie ja schon angekommen. Plötzlich hüpfte er, und drückte auf das “D”. Die Fläche leuchtete auf, die Aufzugstür schloss sich. Die Waschbären fuhren los, zum Dachboden.
Dort hatte ich gestern meine Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Darunter der blaue Bettbezug, den ich mir ganz neu gekauft hatte. Was wollten die Waschbären auf dem Dachboden? Ich wusste wenig über diese Tiere. Neulich hatte ich eine Notiz gelesen, dass sie sich in Städten verbreiteten und dabei geschickt und kreativ vorgingen. Das konnte ich jetzt bestätigen. Warum hießen sie eigentlich Waschbären? Meine Waschmaschine stand auch auf dem Dachboden.
Ich drückte, der Aufzug kam zu mir zurück. Leer. Ein strenger Geruch haftete ihm an, sodass ich wohl nicht geträumt hatte. Jetzt hätte ich eigentlich zur Arbeit fahren müssen. Stattdessen drückte auch ich auf das D.
Oben angekommen sah ich gerade noch einen Zipfel meines Bettbezugs in der offenen Tür zur Kammer von Frau Jäger verschwinden. Ich hinterher. Frau Jäger hatte, genau wie ich, eine Kammer von 8 m² als Abstellraum. Aber sie hatte noch mehr, nämlich, hoch oben, eine Dachluke, die die Waschbären irgendwie erreicht hatten. Einer sprang auf den Griff des Kippfensters und öffnete es, die anderen beiden wollten meinen Bettbezug aufs Dach schleifen. Ich packte den herabhängenden Stoff, aber die Waschbären waren stärker, sodass meine Füße den Boden verließen und ich Richtung Dachluke schwebte.
“Hilfe!” rief ich, und sofort antwortete der Hausmeister, Herr Pospischil : “Ich komme!”
„Abhängigkeiten“ weiterlesenHeute hätte ich beinahe geheiratet

Die Schuhe hatte ich schon an, die Jacke auch, aber als ich zu meinen Handschuhen griff, die auf der Kommode lagen, fiel mir auf, dass der Kalender schief hing.
Der Kalender war eigentlich keiner, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass er der zeitlichen Orientierung diente. Er hing schon da, als ich einzog, und zeigte den Juni eines mir unbekannten Jahres und ein Picknick an einem Wasserfall. Die Menschen saßen und lagen, aßen, unterhielten und küssten sich, hinter einem Vorhang aus Gischt, den der Wasserfall versprühte, sodass sie nur schemenhaft zu erkennen waren und nicht den üblichen Kategorien zugeordnet werden konnten. Quer über dem Bild stand: “Was würde Judith Butler dazu sagen?”
Auf der anderen Seite des Wasserfalls stand stramm der Nadelwald, aus dem eine dicke Wurzel heraus ragte, die auch die Schnauze eines schlafenden Tieres sein hätte können. “Den Kalender lässt du besser hängen”, sagte die Vormieterin zu mir, “er hat genau die richtige Größe.” Sie hob ihn kurz hoch und zeigte mir den großen rotbraunen Fleck an der Wand. “Lässt sich nicht abwaschen”, behauptete sie, und ich habe es nicht überprüft, weil mir der Fleck unheimlich war und ich an Blut denken musste. Ein Blutfleck in dieser Höhe, dazu fiel mir nur ein Kopfschuss oder etwas ähnlich Schreckliches ein, und weil das sehr unwahrscheinlich war, beschloss ich, ihn zu vergessen. Das Bild gefiel mir, es passte gut in meine Wohnung. Die anderen Monate habe ich mir nicht angesehen, überhaupt habe ich diesen Kalender noch nie berührt.
Und jetzt hing er schief. Wahrscheinlich war ich gestern beim Staubsaugen daran gestoßen, ohne es zu bemerken. Ich wollte besonders gründlich sein, und hatte auch die Ecken gesaugt, die ich sonst vernachlässigte, in Anbetracht der Hochzeitsgäste, die mich heute womöglich besuchen kommen würden, genau wusste ich das nicht. Ich hatte noch nie zuvor geheiratet und war nervös.
Ich war auch spät dran und womöglich befanden sich auf meinem Handy bereits mehrere Nachrichten, die sich nach meinem Verbleib erkundigten, oder daran erinnerten, was ich mitbringen sollte, aber wenn ich jetzt zu lesen anfing, würde es noch später werden, also ließ ich mein Handy lautlos in der Tasche.
‘Ich habe alles’, murmelte ich beruhigend auf mich ein, ‘und alles in der Wohnung ist in Ordnung.’ Bis auf den Kalender eben. Ich zögerte, ihn anzufassen. Denn natürlich hatte ich den Blutfleck, entgegen meinem Vorhaben, nicht vergessen, in den drei Jahren, die ich in dieser Wohnung wohnte; vielmehr hatte ich die ganze Zeit daran gedacht, aber immer so getan, als würde es keine Rolle spielen, dass es in meiner Wohnung einen Fleck unbekannter Herkunft gab, der sich nicht entfernen ließ.
Wahrscheinlich war es gar kein Blutfleck. Und selbst, wenn es einer war, bedeutete es nicht, dass die Vormieterin jemanden umgebracht hatte. Und der Vermieter schon gar nicht. Er war schon vor drei Jahren so schlecht zu Fuß gewesen, dass er die Treppen in den dritten Stock nicht mehr schaffte und meinte, die Übergabe der Wohnung müssten wir unter uns regeln.
„Heute hätte ich beinahe geheiratet“ weiterlesenDas Begräbnis des Bäckers

“Werden Sie hingehen?”, fragt mich die Nachbarin. Ihre Armreifen, sie klirren leise, es klingt eine Warnung. “Ich habe ihn gar nicht
gekannt”, behaupte ich, und wende mich ab vom Schaufenster, in dem nur noch ein blaues Tuch voller Krümeln Falten wirft: “Ich esse kein Brot. Brötchen backe
ich selbst. Und-” “Ich war hier jeden Samstag”, sagt sie. Manchmal sogar donnerstags.” “Also werden Sie hingehen?” “Ich weiß nicht … ob ich geeignet bin.” “Ich auch nicht”, sage ich schnell. “Es gibt so viele
andere.” Ich will mich nicht festnageln lassen. Wenn das Schild nicht wäre, an der Ladentür, mit der Einladung, oder soll ich sagen Aufforderung, zur Beerdigung zu erscheinen, mit
Gedichten
Was für Gedichte? Zum Vorlesen oder als Papierflugzeuge gefaltet, die über seinem Grab kreisen, auf den Sarg
treffen? Würde ich ein Gedicht über den Bäcker schreiben, könnte ich auch alles andere nicht weglassen. Der Bäcker war, wie alle … ein Mittelpunkt. Ich habe ihn nur wenige Male
reden hören, und immer nur im Halbdunkel. Aber auf dem Foto habe ich ihn sofort erkannt. “Wenn man wüsste,
wer da sein wird”, sagt die Nachbarin, Frau Nagel, und spreizt ihren Schirm. Wir stehen schon eine Weile im Regen, unsere Gesichter glänzen vor Nässe, man könnte
meinen, wir würden weinen, wegen des Bäckers, oder weil wir jetzt nicht mehr an den Zimtschnecken riechen können oder wegen der Stille, die herrscht. “Aber hingehen sollte man doch”, sagt sie, ängstlich, und ich weiß nicht, ob sie Angst hat vorm Hingehen oder vorm Wegbleiben
oder vor beidem … Sie ist im allgemeinen nicht furchtsam. Neulich, in der Eiche, ist sie ohne zu zögern ganz nach oben. “Wie geht es Ihrer Katze?”, frage ich. Als sie zu dem Ast kam, auf dem die Katze hockte und klagte, sprang diese plötzlich mit einem Satz ins Freie und
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