Jetzt neu:

Die Geschich­te “Lat­ten­rost” gibt es jetzt als Heft.

“Eine bezau­bern­de Geschich­te! Ich konn­te das Heft nicht aus der Hand legen, bis ich auch das letz­te Wort noch gele­sen hat­te. Tau­chen Sie ein in die Welt von “Lat­ten­rost”, und Sie wer­den jeden Sperr­müll­hau­fen mit ver­än­der­ten Augen betrach­ten.“
Aus der Rezen­si­on von Rosa Ligus­ta, bei­nah Lite­ra­tur­preis­trä­ge­rin des Jah­res 2007

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Ein Heft kos­tet 7 Euro
Ab drei Hef­ten 6 Euro pro Heft
Ab fünf Hef­ten 5 Euro pro Heft
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Ab zehn Hef­ten versandkostenfrei

Dem­nächst:

blaue Feder auf Moos

Audio der Geschichte:

Lese­pro­be:

Lat­ten­rost

Abends gehe ich ger­ne durch die Stra­ßen spa­zie­ren, und manch­mal sto­ße ich dabei auf einen Sperr­müll­hau­fen. Das Wort Sperr­müll ist geprägt von sei­nen bei­den Dop­pel­kon­so­nan­ten. Ein wider­spens­ti­ges Sperr prallt auf das wei­che, etwas melan­cho­li­sche Müll, das von Abscheu bela­gert ist. Sperr­müll ist im direk­ten Sin­ne des Wor­tes unheim­lich. Das, was im Heim war, soll jetzt weg. Es tritt aber vor­her noch ein­mal groß in Erschei­nung, gehäuft und öffent­lich ausgestellt.

Ich mag Sperr­müll­hau­fen. Ich habe dort schon eini­ge Möbel­stü­cke für mei­ne Woh­nung gefun­den. Jetzt bin ich ganz gut ein­ge­rich­tet, und brau­che nichts mehr. Trotz­dem steue­re ich jeden Sperr­müll­hau­fen vol­ler Vor­freu­de an und betrach­te die Din­ge, deren Schick­sal es ist, am nächs­ten Mor­gen in der Pres­se des Sperr­müll­wa­gens zer­quetscht zu wer­den, wenn sie nicht im Ver­lauf der Nacht doch noch geret­tet werden.

Auch heu­te Abend tref­fe ich auf einen Sperr­müll­hau­fen und bin dabei, mir ver­schie­de­ne Din­ge anzu­gu­cken, als ich durch den Ruf: “Das ist ja wohl die Höhe!” unter­bro­chen wer­de. Ich hebe den Kopf. “Sie, ja, genau Sie mei­ne ich!” Ver­wirrt sehe ich mich um. Aus einem Fens­ter im Erd­ge­schoss lehnt sich ein Mann, offen­sicht­lich verärgert. 

“Hab ich Sie erwischt!”, schreit er. “Wobei? Das ist doch ein Sperr­müll­hau­fen, oder?” “Ja, aber nicht Ihrer!” “Ich will auch gar nichts davon!” Ich schie­be den Lat­ten­rost, den ich mir genau­er anse­hen woll­te, wie­der hin­ter den Schrank, aber jetzt wird der Mann erst rich­tig wütend. Er spuckt meh­re­re Schimpf­wör­ter aus und sei­ne Stim­me über­schlägt sich, sodass ich nichts ver­ste­hen kann. Ich wen­de mich zum Gehen, da schreit er noch lau­ter. “Neh­men Sie das gefäl­ligst wie­der mit!”

“Den Lat­ten­rost? Der stand hier schon.” “Ich zeig Sie an”, schreit er. “Gleich ruf ich die Poli­zei!” Jetzt erscheint eine Frau am Bal­kon vom Haus gegen­über: “Was ist denn hier los?” “Der Lat­ten­rost gehört mir nicht”, erklä­re ich. “Neh­men Sie ihn ruhig mit”, meint die Frau. “Auf dem Sperr­müll ist doch wie weg geworfen.” 

Lasst uns durch die Lappen gehen!

Verschiedene Sprossen sprießen

Für Anne

Eine Pfüt­ze in der Küche
Liegt in der Son­ne
Dehnt sich und streckt
Ein Bein aus, ein zwei­tes
Beult sich, zeigt ein brei­tes Maul,
Zwei Augen aus­ge­stülpt
Platsch: ein Hüpfer

Eine Krö­te in der Küche
Erdig braun und schwarz
Mit War­zen wie Wachol­der­bee­ren
Wan­dert gemäch­lich
Über den Rand der Spü­le
Wäh­rend ihre Meta­mor­pho­sen
Kro­ta, Krux, Örter, Rüt und Krä­te
Schon flink die Flie­sen erklim­men
Und garan­tiert nie wie­der
In die tra­di­tio­nel­len Fort­pflan­zungs­ge­wäs­ser
Zurück­keh­ren werden

Getüm­mel in der Küche
Die feuch­ten Wesen an der Wand
Ver­dre­hen den Koch­löf­feln die Köp­fe
Brin­gen Rosi­nen auf ande­re Ideen
Zie­hen Schleim­spu­ren, die glit­zern
Haben so lan­ge Zungen

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Streifzug durchs Rudiversum

Film von Anne Fri­si­us mit einem Gedicht von mir
zum 80. Geburts­tag mei­nes Adop­tiv­on­kels Rudolf Fri­si­us, Pro­fes­sor für Neue Musik

Gabel führt zwei Serviettenringe über eine Ebene

Streif­zug durchs Rudiversum

Wer rudert so spät durch Nacht und Noten?
Das ist der Rudi in geis­ti­gen Fluten

Kory­phäe, Kos­mo­po­lit
Kon­zep­te Kon­zer­te ein Maxi­mum an Lexi­kon
Kon­gres­se Kon­klu­sio­nen Kol­li­sio­nen mit Idio­ten
Kon­den­sa­tor für kon­kre­te Kom­po­nis­ten
Mit einem König­reich an Zitaten

Was ist Klang?
Ein lee­rer Eimer hol­ter­di­pol­ter
Die Trep­pe run­ter
Spat­zen­schrit­te auf dem Blech­dach
Spa­ten­sti­che ins Sty­ro­por
Mak­ka­ro­ni wenn sie bre­chen unter Trit­ten auf den Flie­sen
Das Gegen­teil von Musik ist Musik

Rudi, Forel­le der Vor­trags­rei­he
Mit Vor­lie­be für Zet­tel und Ton­bän­der
Mit Radio Reden quer durch die Fre­quen­zen
Prä­sen­tiert er ele­gant
Elek­tro­ni­sche Lek­tio­nen
Als schrei­ben­der Beglei­ter
Von Geis­tern mit ähn­li­chem Sie­de­punkt
Kagel Rie­del Schne­bel Rihm
Obses­si­on: Stockhausen

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Briefträgerin

Wiese mit leuchtenden PusteblumenUm den Ein­stieg in die Ver­ren­tung sanft zu gestal­ten, hat unse­re Brief­trä­ge­rin einen neu­en Arbeits­mo­dus ein­ge­führt. Und zwar unter dem Mot­to: “Kür­zer tre­ten!” Mon­tag, Diens­tag, Don­ners­tag und Frei­tag trägt sie wie gewohnt Brie­fe und Päck­chen aus. Mitt­woch und Sams­tag trägt sie sie nur in ihre Woh­nung, sta­pelt sie dort auf diver­sen Tischen und Fens­ter­bän­ken, und wir kön­nen sie abho­len.
“Jah­re­lang habe ich euch besucht, jetzt machen wir es mal umge­kehrt.” Arbeits-Inver­si­on nennt sie das Kon­zept. Ursprüng­lich hat­te sie in ihrem Flur einen Emp­fangs­be­reich ein­ge­rich­tet, wo sie jede Per­son begrüßt und ihr die Sen­dun­gen per­sön­lich über­reicht hat. Mitt­ler­wei­le liegt sie auf dem Sofa und deu­tet nur noch auf den Sta­pel, in dem sich das Gewünsch­te befin­det. “Ich gewöh­ne mich immer bes­ser an mei­ne Ren­ten­zeit”, meint sie.
Ihr Kon­zept wird gut ange­nom­men. Die Leu­te rei­ßen sich dar­um, die Brie­fe für das gan­ze Haus abho­len zu dür­fen, vor allem die Rentner*innen. Eine Wei­le freue ich mich über den Ser­vice, dann pro­tes­tie­re ich: “Ich möch­te die Brief­trä­ge­rin auch ein­mal besu­chen!” An einem Sams­tag ist es dann so weit. Ich ste­he in ihrem Wohn­zim­mer, auf einem dicken grü­nen Tep­pich, sie begrüßt mich herz­lich: “Schön, dass du auch ein­mal kommst! Möch­test du einen Ing­wer­tee?” Wir duzen uns schon län­ger. Ich glau­be, Glo­ria ist mit dem gan­zen Vier­tel per Du.
“Ger­ne”, sage ich. Wäh­rend sie den Tee aus der Küche holt, sehe ich mich in ihrem Wohn­zim­mer um. Über­all lie­gen Post­sen­dun­gen, geord­net und mit Schil­dern ver­se­hen, auf denen die Haus­num­mern ste­hen. Ich bin ein biss­chen auf­ge­regt, als ich den Sta­pel für unser Haus ent­de­cke. Wir muss­ten alle ein For­mu­lar unter­schrei­ben, in dem wir die Nach­barn bevoll­mäch­ti­gen, unse­re Post abzu­ho­len.
“Heu­te habe ich die Vor­la­dung bekom­men”, erzählt Glo­ria. “Sie ver­su­chen, mir Arbeits­ver­wei­ge­rung nach­zu­wei­sen. Und Ver­let­zung des Post­ge­heim­nis­ses. Bis jetzt haben sie aber noch kei­ne Lücke gefun­den. Alle Kund*innen sind zufrie­den. Herr Schil­ling hat sogar eine Peti­ti­on für mich gestar­tet. Wenn du möch­test, kannst du auch unter­schrei­ben.” “Natür­lich”, sage ich, “ich fin­de dei­ne Idee geni­al.”
“Ich auch.” Sie strahlt. “War­um mit Abzü­gen in die Ren­te gehen, nur weil ich die­sen Job nicht mehr jeden Tag schaf­fe?” Sie gießt uns Tee ein. “Zucker? Oder Honig?” Ich neh­me mir Honig. “Honig, natür­lich! Im Eng­li­schen heißt es doch Honey­moon, nicht wahr?” Sie lächelt mich an, ich wer­de ein biss­chen rot und kon­zen­trie­re mich dar­auf, den Honig im Tee zu ver­rüh­ren. “Ver­zeih mir, wenn ich neu­gie­rig bin, aber … von wem war eigent­lich der rote Brief?”
“Was für ein roter Brief?” Ich set­ze mich ker­zen­ge­ra­de hin, und wer­de jetzt rich­tig rot, so als ob die­ser Brief, von dem ich gar nichts weiß, auf mich abfär­ben wür­de. “Du musst es mir natür­lich nicht erzäh­len …” “Aber ich habe kei­nen roten Brief bekom­men! Wirk­lich nicht.” “Du hast den Brief nicht bekom­men?” Sie wird jetzt, im Gegen­satz zu mir, weiß im Gesicht, und ich weiß natür­lich war­um. Bei Unre­gel­mä­ßig­kei­ten in der Zustel­lung ist sie dran.

„Brief­trä­ge­rin“ weiterlesen

Update

Rosanes viertelsternförmiges Gitter mit Puschelblumen

Wenn mein PC abstürzt und sich danach nicht mehr rührt, so wie jetzt, aus­ge­rech­net als ich end­lich mei­ne Steu­er­erklä­rung machen will, dann blei­be ich ganz ruhig. Ich habe ja Phi­lo. Den rufe ich an, der kommt inner­halb von zwei Tagen, hockt sich vor das Gerät und bleibt so lan­ge, bis es repa­riert ist. Wenn’s län­ger dau­ert, legt er sich zwi­schen­durch auf’s Sofa. Sei­ne lan­gen Bei­ne ragen dann einen hal­ben Meter über die Arm­leh­ne hin­aus, und er kann in die­ser Posi­ti­on erstaun­lich gut schla­fen.
Aber Phi­lo hat sein Han­dy aus­ge­schal­tet. Das ist noch nie pas­siert. Was ist los mit ihm? Ich hof­fe, er macht kei­ne digi­ta­le Diät. Ich weiß eigent­lich nicht viel über ihn. Ich habe ihn ken­nen­ge­lernt, als sein Lade­ka­bel den letz­ten Halt in der Jacken­ta­sche ver­lor und auf die Stra­ße fiel. Ich hob es auf und rief ihm nach. Er sah mich erst miss­trau­isch an, aber als er sein Kabel erkann­te, lächel­te er. “Dan­ke!” Er hol­te aus sei­nem Porte­mon­naie eine Visi­ten­kar­te und drück­te sie mir in die Hand. “Linux”, stand dar­auf, und eine Han­dy­num­mer. “Äh, heißt du so?” “Lei­der nicht”, mein­te er.
Als er dann das ers­te Mal da war, habe ich ihn nach sei­nem Namen gefragt. Er seufz­te. “Phi­lo. Mei­ne Eltern hat­ten ein Ren­de­vouz im Bota­ni­schen Gar­ten. Und unter dem Phi­lo­den­dron haben sie sich das ers­te Mal geküssst.” Er sah unglück­lich aus. “Da kannst du ja froh sein, mein­te ich, dass es nicht bei der Kame­lie war. Oder beim Bam­bus. Dann hät­ten sie dich womög­lich Bam­bi genannt.” Er sah mich erstaunt an. “Du hast es geschafft. Zum ers­ten Mal in mei­nem Leben bin ich für mei­nen Namen dank­bar.“
Das war unser ein­zi­ges rich­ti­ges Gespräch. Er macht mir einen beson­ders güns­ti­gen Preis, ich weiß aber nicht, ob wegen dem Kabel oder dem Namen­s­hin­weis. Die Visi­ten­kar­te habe ich noch. Auf der Rück­sei­te steht eine Adres­se. Ich beschlie­ße, hin­zu­fah­ren. Es ist eine klei­ne Stra­ße, Sack­gas­se, die Num­mer 37 ganz am Ende. Ein Wohn­haus aus roten Zie­gel­stei­nen. Auf einem Klin­gel­schild steht Linux. Ob das Phi­los Büro ist?
Ich kling­le und sofort ertönt ein Summ­ton, mit dem sich die Haus­tür öff­net. Im drit­ten Stock steht Phi­lo in der geöff­ne­ten Woh­nungs­tür, im Pyja­ma. Es scheint ihm aber nicht pein­lich zu sein. “Äh, Ent­schul­di­gung. Ich habe dich tele­fo­nisch nicht erreicht …” “Komm rein!” Ich fol­ge ihm in die Küche. Auf dem Tisch lie­gen Bücher, Haar­span­gen, zwei Schar­nie­re und eine Plas­tik­tü­te mit Reis. Eine Ker­ze brennt, dane­ben steht ein Kaf­fee­be­cher. Phi­lo nimmt ihn und trinkt. “Willst du auch einen?“
Ich schütt­le den Kopf, räus­pe­re mich. “Sor­ry, dass ich dich stö­re. Ich woll­te nur fra­gen, ob du mei­nen PC repa­rie­ren könn­test.” Phi­lo zuckt zusam­men und sieht trau­rig aus. Er nimmt die Reistü­te, hält sie vor­sich­tig wie ein Baby, kippt sie von einer Sei­te zur ande­ren. Der Reis rie­selt, etwas Schwar­zes kommt dar­un­ter zum Vor­schein. “Was­ser­scha­den. Es muss trock­nen”, sagt er. “24 Stun­den lang.” Er starrt betrübt auf die Tüte. “Dein Han­dy? Tut mir Leid.”

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Unterführung

Spiegelung von Häusern in einem Fenster

Es schlaucht. Die­ser Aus­druck ent­stand wahr­schein­lich in einer Bahn­hofs-Unter­füh­rung. Von allen Bahn­stei­gen strö­men Men­schen die Trep­pen hin­un­ter in den Schlauch hin­ein. Es ist eng und sti­ckig, zu vie­le Gerü­che, alle Fens­ter zei­gen nur Geschäf­te, kei­ne Aus­sicht. Aber nach einer Zug­fahrt gibt es kei­ne ande­re Mög­lich­keit, als die­sen trost­lo­sen Ort zu durch­que­ren, um ins Freie zu kom­men. Ich habe es fast bis zum Aus­gang geschafft, als etwas Mas­si­ves dröhnt und rat­tert und auf mich zu kommt. Es ist eine oran­ge Maschi­ne mit Bürs­ten­fü­ßen — und mit­ten­drin ein bekann­tes Gesicht.
Einen Moment spä­ter kann ich es zuord­nen. Es gehört Mah­mud aus dem Gar­ten­ver­ein. Wenn er oder sei­ne Frau an mei­ner Par­zel­le vor­bei kom­men, unter­hal­ten wir uns manch­mal, über Schne­cken, Hage­but­ten oder die bes­te Art, Kar­tof­feln zu set­zen. Es ist nicht nur die unge­wohn­te Umge­bung, die mir das Erken­nen von Mah­mud erschwert hat, son­dern auch sei­ne grell­oran­ge Klei­dung und die Tat­sa­che, dass er Teil einer Gerä­te-Kom­bi­na­ti­on ist. Mah­mud schiebt einen rie­si­gen Staub­sauber mit brei­ter Düse und rotie­ren­den Bürs­ten an der Sei­te vor sich her und zieht einen Wagen, der brummt und zischt und eine feuch­te Spur zurück lässt. Ich könn­te jetzt einen Schne­cken­witz machen, aber mir ist bei die­sem Anblick nicht zum Lachen zumu­te.
Mah­mud und Aisha haben mir mal ihren Gar­ten gezeigt. Und als ich das ele­gan­te Gar­ten­haus bewun­der­te, mein­te er: “Selbst gebaut. Das ist mein Beruf. Aber lei­der, arbei­ten kann ich nicht, als Tisch­ler. Nicht aner­kannt.” Statt­des­sen macht er so einen Job. Ich fin­de es trau­rig, und mir ist es unan­ge­nehm, so als ob ich ihn bei etwas Pein­li­chem erwischt hät­te. Nicht, dass mir das fremd wäre. Ich habe auch schon Putz­jobs gemacht. Aber nie so öffent­lich.
Ich über­le­ge, ob ich so tun soll, als hät­te ich ihn nicht gese­hen, und fin­de mich beschä­mend. Im nächs­ten Moment ent­deckt Mah­mud mich und winkt mir: “Hal­lo!” Er stellt sei­ne Maschi­ne aus. Sie jault auf, schüt­telt sich, bleibt schließ­lich ste­hen. “Gut dich zu sehen”, sagt er. “Kannst du mir einen Gefal­len tun?” “Ja, ger­ne.” Ich bin erleich­tert, dass ihm anschei­nend nichts pein­lich ist. “Ich muss drin­gend mit Aisha tele­fo­nie­ren. Hier unten hab ich kei­nen Emp­fang. Kannst du mich kurz ver­tre­ten?” Ich zöge­re, nicke aber.
Er zieht schon sei­ne Jacke aus, steigt aus der Vor­rich­tung, die ihn umfan­gen hält. “Die Jacke musst du anzie­hen, ist Pflicht. Ruck­sack kannst du hier unten rein tun. Du fährst ein­fach wei­ter, Gang ent­lang und zurück. Haupt­sa­che, die Maschi­ne bleibt nicht lan­ge ste­hen, sonst kommt der Kon­trol­leur.” Schnell schlüp­fe ich in die Jacke, und neh­me Mah­muds Platz ein. Es gibt kei­ne Mög­lich­keit, mich hin­zu­set­zen, ich muss mit­lau­fen, und bin Teil des Antriebs. Ein biss­chen mul­mig ist mir schon zumu­te, als ich mir die Gur­te umle­ge und die Hal­te­run­gen schlie­ße, bis ich fest ein­ge­bun­den bin. Aber ich sage mir, dass es eine gute Gele­gen­heit ist, etwas für Mah­mud zu tun. Er hat schließ­lich auch ein­mal bei mir Rasen gemäht, als ich ihm erzählt habe, dass ich einen Hexen­schuss habe.
“Fer­tig?”, fragt Mah­mud. Ich nicke, und die Maschi­ne beginnt zu vibrie­ren, es dröhnt und drängt vor­wärts, ich wer­de mit gescho­ben und schon bin ich ein vor­über­ge­hen­der Cyborg. Und gefan­gen in der Unter­füh­rung. Ich ver­su­che, mich nicht elend zu füh­len. Für eine Wei­le wer­de ich das wohl aus­hal­ten. Schließ­lich muss Mah­mud das jeden Tag vie­le Stun­den lang ertra­gen. Immer­hin habe ich jetzt einen Schutz­pan­zer. Und eine ganz ande­re Per­spek­ti­ve. Es ist eine eigen­ar­ti­ge Erfah­rung. Ich bin so auf­fäl­lig und bekom­me kei­ner­lei Beach­tung. Die Leu­te wei­chen dem Putz­ge­rät aus und sehen mich strikt nicht an. Ich bin qua­si unsicht­bar.
Erst am Ende des Tun­nels mer­ke ich, dass ich nicht weiß, wie man die­sen Putzo­mat wen­det. Und den Aus­stell­knopf hat mir Mah­mud auch nicht gezeigt. Womög­lich muss ich wei­ter fah­ren, durch die auto­ma­ti­sche Schie­be­tür raus, am Taxi­stell­platz vor­bei und dann über die Kreu­zung. Wenn ich da bei Rot drü­ber fah­re, krie­ge ich womög­lich Punk­te in Flens­burg.
Im letz­ten Moment fin­de ich einen Hebel und sche­re zur Sei­te aus. Die­se ziem­lich abrup­te Bewe­gung fin­det nun doch Beach­tung, weil ich eini­gen Leu­ten den Weg abschnei­de. Ver­är­ger­te Gesich­ter, Schimp­fen über mei­nen Fahr­stil. Ich bah­ne mir einen Weg quer zur Aus­rich­tung des Men­schen­stroms und ver­su­che, wie­der in eine Längs­bahn ein­zu­sche­ren. Da sehe ich sie und sie sieht mich: Nelly.

„Unter­füh­rung“ weiterlesen

Wortwechsel

Rohrenden, im Cartoon-Modus aufgenommen

Vor mei­ner Woh­nungs­tür tut sich etwas. Ich höre Stim­men. Da stimmt was nicht. Ich woll­te gera­de ein­kau­fen gehen, hab die Schu­he schon an, die Jacke auch und den Ruck­sack vol­ler lee­rer Fla­schen auf dem Rücken. Jetzt traue ich mich nicht, raus zuge­hen. Ein Blick durch den Spi­on zeigt mir den Nach­barn von oben, Herrn Konf, mit dem Rücken zu mir, im Gespräch mit den neu­en Nach­barn gegen­über, die vori­ge Woche ein­ge­zo­gen sind, und deut­lich klei­ner sind als er.
Mit Frau Zabada­ni habe ich mich schon ein biss­chen unter­hal­ten und zag­haft mein Ara­bisch aus­pro­biert, was auf gro­ße Begeis­te­rung stieß und eine Ein­la­dung zur Fol­ge hat­te. “Komm her­ein, komm.” Mein Kopf­schüt­teln zeig­te wenig Wir­kung. Frau Zabada­ni zog mich in ihre Woh­nung, ließ mich auf dem rie­si­gen Sofa Platz neh­men und stell­te Kaf­fee und Bas­busa, ein süßes Gebäck aus Grieß, vor mich hin. Dann zeig­te sie mir die Bücher von ihrem Deutsch­kurs. A1. Alle Auf­ga­ben auf den ers­ten 20 Sei­ten waren rich­tig aus­ge­füllt. Aber Frau Zabada­ni war nicht zufrie­den.
Lakin an-naas la yata­had­dathun kama fi-lki­t­ab!, rief sie aus. “Aber die Leu­te spre­chen nicht so, wie es im Buch steht!” Sie erzähl­te, dass sie beim Ein­kau­fen “Guten Tag” gesagt hat­te, und die Ver­käu­fe­rin ein “Nein!” zur Ant­wort gege­ben hat. “Was war falsch?” Ich über­leg­te. “Wahr­schein­lich sag­te sie nicht ‘Nein’, son­dern ‘Moin’. Das ist hier der Gruß für alle Tages­zei­ten.” “Moin?” “Moin”, bestä­tig­te ich, “oder Moin, Moin.“
Und das ruft sie jetzt, laut und ver­zwei­felt: “Moin! Moin!” Und Herr Konf schüt­telt den Kopf und sagt: “Nein”. Herrn Konf habe ich noch nie besucht, und unser gemein­sa­mer Wort­schatz beschränkt sich auf zehn Wör­ter, wobei wir ‘Guten Tag!’ am häu­figs­ten ver­wen­den. Er sieht auch immer gleich aus, die Kla­mot­ten und das Gesicht ver­än­dern sich kaum, so als ob er eine Sta­tis­ten­rol­le im Trep­pen­haus hät­te, mit der Auf­la­ge, mög­lichst unauf­fäl­lig zu sein. Dabei hat er so einen inter­es­san­ten Namen. Er könn­te der Anfang zu ver­schie­de­nen Wör­tern sein. Nicht nur kon­form, Herr Konf! Ich weiß nicht, ob er Sinn für Sprach­spie­le hat.
Im Moment gibt es wohl einen Kon­flikt. Ich beu­ge mich näher an den Spi­on her­an, um mehr sehen zu kön­nen. Dadurch ver­schie­ben sich die Fla­schen in mei­nem Ruck­sack und scha­ben anein­an­der. Die­ses Geräusch lässt Herrn Konf zu mei­ner Tür bli­cken. Vor­sich­tig wei­che ich zurück, aber es ist zu spät. Er klin­gelt bei mir. Ich erstar­re.
Ich ver­flu­che den Ruck­sack auf mei­nem Rücken, der jede mei­ner Bewe­gun­gen mit einem Klir­ren unter­malt. Sonst könn­te ich jetzt wenigs­tens in die Küche gehen und so tun, als hät­te ich nichts gehört. Herr Konf klin­gelt noch ein­mal. Er ruft sogar: “Könn­ten Sie zur Hil­fe kom­men!“
Ich bin so über­rascht, dass ich sofort öff­ne. Geball­te Erwar­tun­gen rich­ten sich auf mein Erschei­nen. Mir wird schwin­de­lig. “Ich muss los”, sage ich und weiß schon, dass es kein Ent­kom­men gibt. Ich müss­te Herrn Konf bei­sei­te schie­ben, um zur Trep­pe abwärts durch zu kom­men. Und ich will kei­ne Kon­fron­ta­ti­on mit ihm.
Ich läch­le ihn an. Wie wär’s mit Kon­fi­tü­re? “Sie kön­nen doch Ara­bisch”, sagt er zu mir. Es klingt ankla­gend. Bevor ich mich ver­tei­di­gen kann, nickt Frau Zabada­ni bekräf­ti­gend mit dem Kopf. ““Ja, ja!”, meint sie. “Über­set­zen Sie”, for­dert er mich auf. “Äh … Für das bila­te­ra­le Dol­met­schen”, wen­de ich ein, “muss man meh­re­re Jah­re lang stu­diert haben, und dann ein zwei­jäh­ri­ges Prak­ti­kum absol­vie­ren, bevor .…” “Pap­per­la­papp”, sagt Herr Konf reso­lut, “ein paar Sät­ze wer­den Sie wohl auch so hin­krie­gen.“
Herr und Frau Zabada­ni sehen mich hoff­nungs­voll an. Das Netz zieht sich zusam­men. Ich hän­ge drin. Und es wird schief gehen. Dann habe ich es mir mit meh­re­ren Nach­barn ver­scherzt. Ich wer­de aus­zie­hen müs­sen. Wo ich doch gera­de erst ein hal­bes Jahr in die­ser schö­nen Woh­nung woh­ne. Ich sehe das alles so klar vor mir und weiß kei­nen Aus­weg.
Und da beginnt Herr Konf auch schon: “Die Schu­he …” Cir­ca 10 Paar Schu­he vor der Tür der Zabad­a­nis sind im Trep­pen­haus der ein­zi­ge Hin­weis dar­auf, dass hin­ter den Türen Men­schen leben. Aber schon das kann zu viel sein. Ich spü­re Herrn Kon­fs tie­fes Unbe­ha­gen. Ich spü­re die Besorg­nis der Zabad­a­nis. Sie wis­sen, dass etwas kri­ti­siert wird. Kann gut sein, dass sie die Schu­he sofort weg­räu­men wür­den, um kein Miss­fal­len zu erre­gen. Herr Konf hat mehr Macht und ist es gewohnt, sei­ne Vor­stel­lun­gen durch­zu­set­zen. Ich will ihm aber nicht dabei behilf­lich sein. In der Rol­le der Über­set­ze­rin wer­de ich zu sei­ner Hand­lan­ge­rin und wenn ich ableh­ne, wir­ke ich des­in­ter­es­siert an den Pro­ble­men mei­ner Nachbarn.

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