Schlüssel

Sie hat mir ihre Schlüs­sel gege­ben! Ich ver­su­che, mir mein Ent­zü­cken nicht anmer­ken zu las­sen. Wäh­rend ihrer Erklä­run­gen zum Gie­ßen habe ich das Gefühl, dass ihre Wor­te nicht nur ihren Blu­men, son­dern auch mir gel­ten: “Das Was­ser bit­te immer hand­warm”, oder “Die Pflan­zen im Schlaf­zim­mer nicht ver­ges­sen.” An das Schlaf­zim­mer den­ke ich bestimmt.

“Der Frau­en­farn braucht beson­ders viel Was­ser.” Ich nicke wis­send. Was­ser, ein Sym­bol für Lie­be. Bei­de flie­ßen und sind lebens­not­wen­dig. Und auch nach Was­ser muss manch­mal gebohrt wer­den, damit es zum Vor­schein kommt. “Für die Orchi­dee nur wei­ches Was­ser neh­men”, sagt Son­ja, und sogleich füh­le ich mich der Orchi­dee ver­wandt. Sie ist blau und im Blu­men­topf steckt ein Schild mit ihrem Namen: “Van­da blue magic”. Ob Son­ja mir mit die­sem Schild eine Bot­schaft zukom­men las­sen woll­te? Ich habe auf jeden Fall das pri­ckeln­de Gefühl, dass ich blue magic bald erle­ben werde.

“Du musst mit den Fin­gern über­prü­fen, ob das Sub­strat noch feucht ist.” Jetzt wer­de ich, im Gegen­satz zur Orchi­dee, rot, und täu­sche Hus­ten vor, damit ich mich abwen­den kann. “Na, das wird dir viel­leicht alles zu viel”, sagt Son­ja und ich füh­le mich durch­schaut. “Könn­test du es mir auf­schrei­ben?” “Ja, das wird das Bes­te sein.” Ich läch­le, und weiß, dass ich die­ses Blatt an mei­nem Her­zen auf­be­wah­ren werde.

Sie lächelt nicht. Son­ja, das klingt nach Son­ne und Ja!, aber lei­der bleibt sie ein fer­ner küh­ler Mond, auch als sie sich von mir ver­ab­schie­det. Es ist sicher nur Fas­sa­de, sage ich mir. Sie ist wahr­schein­lich zu schüch­tern, um mir ihre wah­ren Gefüh­le zu zei­gen. Immer­hin habe ich jetzt, nach­dem ich mona­te­lang um sie her­um geschli­chen bin, ihre Schlüs­sel! Zwar nur des­halb, wie sie mir erklärt hat, weil alle ihre Freund*innen auch im Urlaub sind, und ihr nie­mand anders fürs Blu­men­gie­ßen ein­ge­fal­len ist. Das klang nicht sehr schmei­chel­haft. Aber so eine unge­schick­te For­mu­lie­rung soll unse­rem Glück nicht im Wege stehen.

Zu Hau­se befreie ich die zwei Schlüs­sel von der häss­li­chen brau­nen Schnur, mit der sie ver­bun­den waren. Der klo­bi­ge Haus­tür­schlüs­sel lässt mich kalt; ich klem­me ihn an mei­nen Schlüs­sel­bund. Aber Son­jas Woh­nungs­schlüs­sel! So ein bezau­bern­des Klein­od mit rei­zen­den Zacken und einem schma­len Köpf­chen! Was mache ich mit ihm? Ich wür­de ihn ja ger­ne an einem roten Band um den Hals tra­gen, befürch­te aber Nach­fra­gen. Schließ­lich ste­cke ich ihn in mei­ne Hosen­ta­sche. Dort kann ich immer nach ihm tas­ten, und ihn manch­mal heim­lich her­aus­ho­len und küssen.

Gleich am nächs­ten Tag mache ich mich auf den Weg. Son­jas Haus, Teil eines 60er Jah­re Wohn­blocks, liegt von der Stra­ße zurück­ge­setzt. Ein klei­ner Weg führt an zwei ande­ren Häu­sern vor­bei zum Ein­gang. Ich bin so auf­ge­regt. Was, wenn sie mir einen Lie­bes­brief hin­ter­las­sen hat? Und was, wenn sie mir kei­nen Lie­bes­brief hin­ter­las­sen hat? Die Haus­tür wirkt auf ein­mal sper­rig. Und Son­ja so unerreichbar.

Ich hole den Schlüs­sel aus mei­ner Hosen­ta­sche, um mir Mut zu machen. Ich muss an mich glau­ben. Wenn ich mich lie­bens­wert fin­de, wird Son­ja es doch wohl auch tun. Oder? Plötz­lich räus­pert sich jemand, ein Rie­se ragt neben mir auf, ich erschre­cke, und Son­jas Schlüs­sel springt aus mei­ner Hand. Er stürzt — nicht auf den Git­ter­rost, son­dern gera­de­wegs durch eines der Löcher hindurch.

Sofort fal­le ich auf die Knie. Da liegt er, mein Lie­bes­schlüs­sel, im Unter­grund. “Oh nein”, rufe ich, “oh nein!” Der Git­ter­rost, ein mas­si­ves Unge­tüm, ist mit acht Schrau­ben befes­tigt, die so aus­se­hen, als sei­en sie seit den 60er Jah­ren nicht mehr bewegt wor­den. Ver­zwei­felt schaue ich zu dem Mann hoch, der die­ses Desas­ter aus­ge­löst hat. Er hält auch einen Schlüs­sel in der Hand, und ich begrei­fe, dass er hier wohnt und mei­ne Ret­tung sein könnte.

Rasch ste­he ich auf. “Könn­ten Sie viel­leicht — so nett sein und einen Schrau­ben­zie­her aus Ihrer Woh­nung holen?” Er schüt­telt den Kopf. Dann holt er etwas Blau­es aus sei­ner Hosen­ta­sche und hält es mir unter die Nase. Barsch erklärt er: “Immer dabei!”. Er lässt sich auf ein Knie nie­der, rollt den blau­en Stoff aus und erfreut erken­ne ich, dass es ein Schrau­ben­zie­her Set ist. Mit Hän­den, die unge­fähr dop­pelt so groß sind wie mei­ne, schraubt der Mann mühe­los die ros­ti­gen Schrau­ben her­aus. Ich seuf­ze vor Erleich­te­rung. “Dan­ke”, sage ich. Gleich­zei­tig füh­le ich mich ein biss­chen unwohl mit ihm. Er hat so etwas Unzugängliches.

Nach­dem er die letz­te Schrau­be raus gedreht hat, greift er läs­sig mit einer Hand in das Git­ter hin­ein und hebt es hoch. Ich schnap­pe mir den Schlüs­sel und ste­cke ihn sofort ein. Jetzt kann doch noch alles gut wer­den. “Vie­len, vie­len Dank”, sage ich. Er gibt einen zufrie­de­nen Laut von sich, und legt das Git­ter zurück an sei­nen Platz. Da pas­siert etwas in sei­nem Gesicht, ein Anflug von Unsi­cher­heit, der in Ärger umschlägt.

“Schei­ße”, mur­melt er, und dann lau­ter: “So eine Schei­ße!” Es dau­ert eine Sekun­de, bis ich begrei­fe, dass er mit sei­nen Fin­gern im Git­ter fest­steckt. Er schaut mich vor­wurfs­voll an, ich wei­che zurück. Ich möch­te eigent­lich nicht so viel mit ihm zu tun haben, aber ich kann ihn ja nicht hier ste­cken las­sen. Ich rate ihm: “Ver­su­chen Sie doch mal ganz ruhig …” 

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Auf der Suche nach Wegen … Jenseits vom binären “Backe hinhalten oder Ohrfeigen austeilen”

Scheiben einer roten Zwiebel bilden eine Gruppe

“Ich grün­de jetzt eine Gesprächs­grup­pe!”, sage ich zu Fio­na: “Zusam­men­kom­men, inne­hal­ten und alle Toten betrau­ern, gemein­sa­me Per­spek­ti­ven fin­den.” “Das wird schwie­rig”, meint sie. Wahr­schein­lich hat sie recht. Aber war­um sind auf ein­mal alle im Krieg?
Irgend­wie müs­sen wir doch dar­über reden kön­nen, oder? Natür­lich, ein­fach ist es nicht. Was weiß ich schon dar­über? Habe ich auch alle wesent­li­chen Infor­ma­tio­nen? Mit wel­chen Reak­tio­nen muss ich rech­nen? Ich habe Angst, etwas Fal­sches zu sagen. Aber das Schwei­gen ist so bedrü­ckend, für alle. Wie soll die­ses Blut­ver­gie­ßen jemals enden? 
“So darfst du nicht den­ken”, sagt Lisa. “Du musst dich ent­schei­den, Isra­el oder Hamas. Wer will so eine ter­ro­ris­ti­sche isla­mis­ti­sche Grup­pe unter­stüt­zen? Die wür­den dich auch umbrin­gen, also ist die Sache doch klar!” Hm. Die israe­li­sche Regie­rung möch­te ich auch nicht unter­stüt­zen. Ich habe den Ein­druck, dass Men­schen­le­ben kei­nen gro­ßen Wert für sie haben, weder die paläs­ti­nen­si­schen noch die der Gei­seln.
“Es gibt kei­nen Raum für die schreck­li­chen Ereig­nis­se des 7. Okto­ber”, sagt Lena, “mir fehlt die Empa­thie.” Ich stim­me ihr zu. Es ist trau­rig, wenn dazu geschwie­gen wird. Wie kön­nen wir Soli­da­ri­tät mit jüdi­schen Men­schen zei­gen? In wel­chen Aus­sa­gen und Hal­tun­gen ver­steckt sich Anti­se­mi­tis­mus?
“Ich fin­de es schwie­rig”, sagt Luis, “wenn Soli­da­ri­tät mit Isra­el gleich­ge­setzt wird damit, das Töten und Hun­gern las­sen von Palästinenser*innen gut­zu­hei­ßen.” Das ver­ste­he ich. Ich möch­te Empa­thie für die so hef­tig getrof­fe­ne israe­li­sche Gesell­schaft zei­gen kön­nen ohne dass das als Unter­stüt­zung für die­sen Krieg gewer­tet wird. Empa­thie ja, Krieg nein: Wie kann ich das hin­krie­gen, aus­ein­an­der­hal­ten? Bin ich doch par­tei­isch, obwohl ich für bei­de Sei­ten sein möch­te? 
“Du bist ja nicht betrof­fen”, sagt Lui­se, “sonst wür­dest du anders reden!” “Das kann sein”, gebe ich zu. Viel­leicht hät­te ich auch schlimms­te Rachefan­ta­sien, wenn mei­nen Liebs­ten etwas ange­tan wer­den wür­de. Aber ich wür­de mir, zumin­dest von mei­nem jet­zi­gen Wer­te­sys­tem aus­ge­hend, wün­schen, dass mich dann jemand stoppt, wenn ich mit dem Mes­ser los­zie­he und es mich nach Blut gelüs­tet. Und gera­de von mei­nen Freund*innen wür­de ich mir das wün­schen. Dass sie mich zur Besin­nung brin­gen. Mir nahe­brin­gen, dass mein Schmerz nicht ver­sie­gen wird, wenn noch jemand stirbt. Dass ich dadurch auch nicht siche­rer oder bes­ser leben wer­de, im Gegen­teil. Und dass ich es hin­ter­her bereu­en wer­de, jeman­den umge­bracht zu haben, selbst wenn es straf­los bleibt. 
Das lässt Lui­se nicht gel­ten. “Es geht ja nicht um einen ein­ma­li­gen Angriff! Die Hamas hört ein­fach nicht auf, Rake­ten zu schie­ßen. Die müs­sen gestoppt und auf­ge­löst wer­den.” Ganz offen­sicht­lich funk­tio­niert das mit der jet­zi­gen Stra­te­gie nicht. Also muss eine ande­re Lösung her. 
“Deutsch­land hat eine beson­de­re Ver­ant­wor­tung für Isra­el”, sagt mein Onkel Lars. Ja, auf jeden Fall. Und es hat eine beson­de­re Ver­ant­wor­tung für die Palästinenser*innen.

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Aprilscherze 2024

Hier­mit stel­le ich vier mei­ner dies­jäh­ri­gen April­scher­ze vor. Wenn ihr kei­nen bekom­men habt, nicht trau­rig sein! Schickt mir doch eine Mail unter sabindemar@​web.​de, dann seid ihr nächs­tes Mal auch dabei. Oder hät­tet ihr viel­leicht lie­ber einen ande­ren bekom­men als den, den ich euch zuge­schickt habe? Sagt Bescheid, dann kann ich euch nächs­tes Jahr hof­fent­lich bes­ser zuord­nen. Bit­te habt Ver­ständ­nis dafür, dass ich immer nur einen April­scherz pro Per­son ver­schi­cke.
Ihr dürft die Scher­ze auch ger­ne mit bis zu 10 Punk­ten bewer­ten, ich arbei­te uner­müd­lich dar­an, mei­ne April­scher­ze zu ver­bes­sern. Außer­dem pla­ne ich, ein Buch mit mei­nen gesam­mel­ten April­scher­zen her­aus­zu­ge­ben. Dem­nächst mehr dazu!
Lie­be Grü­ße, eure April­fi­sche­rin Sabi­ne de Mar­tin Pescatore

1 Mate­ria­li­en gesucht!
Lie­be Freund*innen,
eini­ge von euch wis­sen ja bereits, dass wir unse­ren nächs­ten Urlaub in Nea­pel ver­brin­gen wer­den, und wir freu­en uns schon sehr dar­auf! Aller­dings brau­chen wir für die Rei­se noch Zube­hör und woll­ten uns des­halb an euch wen­den. 
Nea­pel ist bekannt für sei­nen ein­drucks­vol­len Vul­kan, der ein bis zwei Mal in 100 Jah­ren aus­bricht. Der letz­te Aus­bruch ist 80 Jah­re her. Zur Sicher­heit haben wir eine Unter­kunft in groß­zü­gi­gem Abstand zum Vesuv gebucht. Aller­dings liegt Nea­pel zwi­schen zwei Vul­ka­nen, wie wir jetzt fest­ge­stellt haben, und wer sich vom einen ent­fernt, nähert sich dem ande­ren. Wir sind also vom Regen in die Trau­fe gekom­men bzw, wie das ita­lie­ni­sche Sprich­wort pas­sen­der sagt: von der Pfan­ne in die Glut gefal­len. (Cade­re dal­la padel­la nella brace) 
Wir wer­den näm­lich im Ein­fluss­be­reich der phle­gräi­schen Fel­der woh­nen. Die­se Fel­der kann­ten wir vor­her nicht, aber lang­sam däm­mert uns, war­um unse­re Unter­kunft so güns­tig ist. Phle­grä­isch ist das Gegen­teil von phleg­ma­tisch. Die Fel­der sind immer aktiv, und mit meh­re­ren gut gefüll­ten Mag­ma-Kam­mern dicht unter der Erd­ober­flä­che gel­ten sie als Euro­pas größ­ter Super-Vulkan.

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Delikatöse Bedrohung

Ameisenköder, der wie ein Gesicht aussieht, mit roten Augen und Mund, auf einem Heizungsgitter

Du dach­test immer, dass es plötz­lich pas­siert: alle Lam­pen gehen gleich­zei­tig aus, weil jemand über Nacht die Macht an sich geris­sen und jetzt das Sagen hat. Will­kür­li­che Ver­bo­te, kei­ne Mei­nungs­frei­heit mehr, Gefäng­nis­se fül­len sich mit Unschul­di­gen. Aber, kein Grund zur Sor­ge oder gar Vor­sor­ge: so etwas pas­siert nur in Län­dern, die vor­her auch schon suspekt waren, und nicht bei uns.
Denn wir haben Deli­ka­tes­se! Das ist nicht nur das bes­se­re, son­dern das bes­te. Deli­ka­tes­se gibt es nur in Euro­pa, oder in Län­dern, die Europäer*innen besie­delt haben. Die Deli­ka­tes­se ist sogar in Euro­pa gebo­ren, des­halb stol­zie­ren wir. Auch wenn schon von Anfang an nicht alle einen Löf­fel in die Hand bekom­men haben, und das bis heu­te so geblie­ben ist, gilt die Deli­ka­tes­se bei den Pri­vi­le­gier­ten als Mus­ter­bei­spiel der Gleich­be­rech­ti­gung und gut gefeit gegen alles Unge­nieß­ba­re. 
Aber was, wenn es nicht so plötz­lich kommt? Wenn die Lam­pen nach und nach aus­ge­hen, und sich etwas ein­schleicht, hier und da, und schon längst nicht mehr schleicht, son­dern stampft? Und du dich fragst, wann und wie ist das denn pas­siert? 
Seit Jah­ren gewöh­nen wir uns dar­an, dass an unse­ren Tel­ler­rän­dern mas­sen­haft Men­schen ster­ben. Denn nicht alle sol­len mit­es­sen. Mit­ten in der Deli­ka­tes­se kei­men neue Delik­te: Men­schen ret­ten kann jetzt bestraft wer­den. Dann näm­lich, wenn es die fal­schen Men­schen sind. Mit­es­ser.
Wer an einem See steht und zusieht, wie jemand ertrinkt, wird ver­ur­teilt wegen unter­las­se­ner Hil­fe­leis­tung. Am Mit­tel­meer ist es umge­kehrt. Bei Men­schen­ret­tung dro­hen 100 Jah­re Haft und mehr. Denn Leu­te, die wir nicht wol­len, haben ihr Recht auf Leben ver­wirkt. Nie­mand soll ver­hin­dern, wenn sie unter­ge­hen. Mit ihnen ver­sin­ken die Wer­te des Abend­lan­des.
100 Mil­li­ar­den für Mili­tär und die Rüs­tungs­in­dus­trie: eine Ent­schei­dung des Kai­sers. Auf­rüs­tung ist wie­der ange­sagt. Bei der medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung wird gespart, weil es auch so irgend­wie funk­tio­niert. Du musst dir eine Krank­heit schon leis­ten kön­nen. Gesund­heit ist das größ­te Gutdünken. 

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Korinna

Korinna mit roten Haaren

Mei­ne Adop­tiv­tan­te*, Korin­na Rahls Fri­si­us, Schau­spie­le­rin, Sän­ge­rin und ältes­te Diri­gen­tin** Deutsch­lands, ist im Janu­ar mit 91 Jah­ren gestorben

* beid­sei­ti­ge Adop­ti­on nach Para­graph 33 % Simu­la­tio ben trovato

** sie­he den Film “Diri­gen­tin” von Anne Fri­si­us, https://​coope​ra​ti​va​-film​.de/​p​e​r​s​o​e​n​l​i​c​h​e​s​-​q​u​e​e​r​e​s​-​u​n​d​-​f​i​l​m​p​o​e​s​ie/

Ein roter Haar­schopf wie ein wil­des Pferd, und von Flau­sen zer­zaust leuch­te­ten die flie­gen­den Tep­pi­che dei­ner täg­li­chen Gedich­te, samt und son­ders unbot­mä­ßig. Vol­ler Neu­gier auf das, was hin­ter den Kon­ven­tio­nen wohnt, warst du viel­be­wun­dert, wenn auch oft nur heim­lich, für dei­ne herz­lich unbe­küm­mer­ten Tabubrüche.

Kunst war dir so selbst­ver­ständ­lich wie Was­ser, und im Güter­ver­kehr des Thea­ter- und Film­be­triebs gerietst du nicht von unge­fähr aufs Abstell­gleis. Oft genug wur­de dir das Ram­pen­licht aus­ge­dreht und im Dun­keln muss­test du dei­ne Krei­se dre­hen, und dei­nen eige­nen Aus­gang fin­den, ein unbe­irr­tes Weiterstreben.

Dei­ne Reden, stets dane­ben, bis sie den Punkt tra­fen. Du hast im All­tag das All gese­hen, und die Alche­mie genutzt; dei­ne Voka­beln waren immer über­ra­schend ver­ka­belt. Du kamst vom Hun­derts­ten zum Unter­gang des Über­blicks, als Seg­le­rin, die nie hielt, was der Fahr­plan ver­sprach, er ver­sprach sich eben, und das Spre­chen war dir ein Ster­nen­him­mel, es blink­te hier und dort und über­all fan­dest du ein Wort und einen Reim dar­auf über­ra­schend wie Urknall-Elektronenschwärme.

Und mit 60? Diri­gen­tin! Du hast Karls­ru­he nicht in Ruhe gelas­sen, son­dern 27 Jah­re lang mit dei­nem Orches­ter belebt. Wie­der warst du bla­ma­bel, eine Bla­ma­ge für alle, die wuss­ten, dass sich so etwas nicht gehört, aber dei­ne Auf­trit­te haben alle in den Schat­ten gestellt.

Korinna dirigiert das Neue Karlsruher Orchester, Auftritt 2019

Du bist nie auf dem Tep­pich geblie­ben. Bis zuletzt hast du gesun­gen und gedich­tet, und das Wie­sel durch den Lat­ten­zaun schlüp­fen las­sen. Du hast dich nicht abhal­ten las­sen, und wei­ter diri­giert nach dei­nem Gehör fürs Uner­hör­te, und bleibst mir dar­in die nächs­te Verwandte.

Pho­to­nach­weis Jase­min Alt, Anne Frisius

Hosen kaufen mit Rosetta

Wiese mit Rosen und bunten Hosen darauf

Heu­te kommt Roset­ta. Mei­ne Roset­ta. ROSE und Tee Tee Ah!
Ich darf drei Kan­nen Tee am Tag, mor­gens, nach­mit­tags, abends. Tee ist toll. Schwar­zer Tee, Milch, viel Milch, Zucker, Zucker, noch­mal Zucker. Ich lie­be Tee. Ich lie­be Roset­ta.
Die Tür geht auf! Roset­ta kommt. Ich lau­fe, win­ke, sie winkt zurück, geht ins Büro. Immer geht sie ins Büro. Sie stellt ihren Ruck­sack auf den Boden, hängt ihre Jacke an den Haken. Eine blaue Jacke hat sie. Ich zie­he sie ger­ne an. “Nein, Matil­da”, sagt Roset­ta und zieht mir die Jacke wie­der aus.
Ich war­te vorm Büro. Roset­ta fragt Peter: “Was war heu­te los?”
“Hel­ga war sehr unru­hig mor­gens, sie haben ihr Trop­fen gege­ben. Der Haus­meis­ter hat geflucht, als er das Klo ent­stopft hat. Da war ein Nagel­knip­ser drin, und die Zahn­span­ge von Robert.”
“Oh nein. Da ist sie also gelan­det.”
“Ach­so, und die Bril­le von Maria ist ver­bo­gen. Da muss gleich jemand mit ihr zum Opti­ker, so kann sie die nicht mehr auf­set­zen und ich glau­be, ohne Bril­le sieht sie nicht mal mehr ihre Kaf­fee­tas­se.“
Bril­le. Maria. Die Bril­le von Maria hat zwei dicke Schei­ben Glas, ganz glatt. Aber ich soll sie nicht strei­cheln. Ich hab eine Ket­te mit gro­ßen Glä­sern, strei­chel­glatt. Ich kann mei­ne Ket­te Roset­ta zei­gen!
Ich gehe zu mei­nem Allei­ne-Zim­mer. Der Schlüs­sel dreht sich im Schlüs­sel­loch, er sagt: “Auf, auf”. Frü­her war mein Zim­mer grö­ßer und wir hat­ten alle unse­re Bet­ten dar­in. Es gab kei­nen Schlüs­sel. Und kei­nen Tee, nur Kaf­fee. Wenn ich Tee woll­te, wenn ich irgend­et­was woll­te, wur­de ich aufs Bett gebun­den, an Hän­den und Füßen. Manch­mal lag einer auf mir drauf, ganz schwer und mit Stö­ßen, so weh, es hat vie­le Schmer­zen gemacht, ver­dammt.
Der Schrank hat auch weh getan, als er kaputt ging. Wie ich wütend war, weil mein Geburts­tag nicht kam. Immer hieß es: noch nicht! Und ich dach­te: jetzt muss doch mal Geburts­tag sein! Ich war­te schon so lan­ge. Und da hab ich auf den Schrank drauf­ge­hau­en. Der Schrank war schwach; er war nur Knä­cke­brot, aber dann hat­te er Mes­ser und ich hab geblu­tet und es tat weh. Blut tut immer weh. Und nie­mand hat mich getrös­tet, alle sind weit weg geblie­ben.
Jetzt habe ich einen neu­en Schrank. An der Sei­te hän­gen mei­ne Ket­ten und ich neh­me die mit den Strei­chel-Glä­sern. “Zu, zu”, sagt der Schlüs­sel. Ich lau­fe mit der Ket­te zu Roset­ta.
Roset­ta? Wo ist Roset­ta?
“Sie ist mit Maria zum Bril­le repa­rie­ren gefah­ren.“
Immer fährt sie mit ande­ren weg. Das soll sie nicht! Da steht der Kur­ze. Ich haue ihm auf den Kopf. Er rührt sich nicht, schaut nur blöd. Ich haue fes­ter. Da geht er.
Ich woh­ne in einem Wohn­heim für Beklopp­te. Roset­ta sagt, es heißt nicht so, aber wenn Hel­ga, Heinz und ich mor­gens im Hof auf den blau­en Bus war­ten, schrei­en die Jungs hin­term Zaun: “Da sind wie­der die Beklopp­ten.” Wir sind 14 Beklopp­te, und wir haben immer Besuch. Wenn die einen gehen, kom­men die ande­ren.
Ich war­te immer auf Roset­ta. Ich darf sie nicht besu­chen. Sie ist nicht mei­ne Freun­din, sagt sie, sie ist mei­ne Betreue­rin. Sie ist mir treu. Ich möch­te mei­nen Kopf an ihre Brust legen, ins Wei­che. Ich möch­te sie küs­sen. Ich möch­te Roset­ta mit ins Bett neh­men. Ich möch­te mit ihr Hosen kaufen.

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