Mülltonne

Graffiti einer Getränkedose auf Beinen

Es ist wie­der ein­mal soweit. Ich muss die Müll­ton­ne raus stel­len. Zuerst ver­su­che ich, es zu igno­rie­ren. Dann flu­che ich eine hal­be Stun­de vor mich hin. Aber es bleibt mir nichts ande­res übrig; ich muss es jetzt hin­ter mich brin­gen. Seuf­zend zie­he ich den Leder­man­tel, die biss­fes­ten Hand­schu­he und die Stie­fel mit den Stahl­kap­pen an, set­ze den Ruck­sack auf und neh­me Stock, Helm und Taschen­lam­pe mit in den Kel­ler.
Frü­her hat­te ich einen klei­nen Kel­ler­raum direkt unter dem Haus, aber dann hat der ört­li­che Tier­schutz­ver­ein alle ver­füg­ba­ren Räu­me beschlag­nahmt, um die immer grö­ße­re Anzahl an aus­ge­setz­ten Hun­den, Kat­zen, Hams­tern, Mäu­sen, Papa­gei­en und ande­ren Tie­ren unter­zu­brin­gen. Weil mir aber laut Miet­ver­trag ein Kel­ler­raum zusteht, habe ich einen Ersatz­kel­ler bekom­men. Er liegt einen Kilo­me­ter stadt­aus­wärts und ist mit mei­nem Kel­ler durch einen unter­ir­di­schen Gang ver­bun­den. Der Ersatz­kel­ler ist der unte­re Teil eines Hau­ses, das einer Erben-Gemein­schaft gehört. Die­se kann sich nicht eini­gen, was mit dem Haus pas­sie­ren soll, das mitt­ler­wei­le bau­fäl­lig und ein­sturz­ge­fähr­det ist. Aber der Kel­ler ist noch in Ord­nung.
Es ist ein gro­ßer Raum, den ich dort zur Ver­fü­gung habe, sogar mit Was­ser­an­schluss und zwei Steck­do­sen. Ich könn­te ein zwei­tes Bade­zim­mer ein­rich­ten oder einen Par­ty­kel­ler. Aber der Weg ist eine Tor­tur. Des­halb steht in die­sem Ersatz­kel­ler nur mei­ne Müll­ton­ne. Und die auch nur, weil ich nicht weiß, wo ich sie sonst hin­stel­len soll.
Ich samm­le den Müll auf dem Bal­kon, wo ich ihn mit einer Vaku­um­pres­se in einen gro­ßen Eimer hin­ein stop­fe, bis der rand­voll ist. Das sind dann so unge­fähr 10 Kilo. Die­sen Müll­ei­mer packe ich in einen eigens ange­fer­tig­ten Ruck­sack, der sich luft­dicht ver­schlie­ßen lässt. Es ist näm­lich güns­tig, bei der Unter­neh­mung die Hän­de frei zu haben.

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Gibt es Alltag?

Abtropfgitterstäbe, von Kabeln durchkreuzt

All­täg­li­che Hand­lun­gen und die, für die sie nicht zum All­tag gehö­ren (Auf­zäh­lung unvoll­stän­dig):
1. Auf­wa­chen
Leu­te im Koma; Zom­bies
2. Auf­ste­hen
Bein­lo­se; Bett­läg­ri­ge; Pro­me­theus und sei­ne Schick­sals
genoss*innen in Fol­ter­ge­fäng­nis­sen und Psych­ia­trien; Leu­te, die zum Auf­ste­hen Hil­fe brau­chen, an Tagen, an denen sie die­se Hil­fe nicht bekom­men
3. Anzie­hen (bzw. das Nacht­ge­wand aus­zie­hen und etwas ande­res anzie­hen)
Alle, die ihre Klei­dung län­ger als einen Tag tra­gen, weil sie ent­we­der nichts zum Wech­seln haben, nicht die Unter­stüt­zung bekom­men, die sie bräuch­ten oder ihr Inter­es­se oder die Moti­va­ti­on, etwas ande­res anzu­zie­hen, zu gering sind
4. Sich waschen
Wer kei­nen Zugang zu Was­ser oder ande­ren rei­ni­gen­den Sub­stan­zen wie Sand hat, (zum Bei­spiel in Lagern und auf Kran­ken­haus-Sta­tio­nen, die unter­be­setzt sind); wer kei­ne Lust zum Waschen hat; kei­ne Not­wen­dig­keit sieht bzw. riecht; kei­ne Zeit dafür hat
5. Früh­stü­cken
Die Men­schen, die nicht früh­stü­cken kön­nen, weil sie nichts zum Früh­stü­cken haben oder weil ihnen nie­mand beim Früh­stü­cken hilft; die, die nicht früh­stü­cken wol­len; die, die das Kon­zept “Früh­stück” nicht ken­nen
All­tag ist etwas Per­sön­li­ches. Wer “All­tag” und “all­täg­lich” für meh­re­re, vie­le, eine unüber­schau­ba­re Men­ge an Men­schen sagt oder schreibt, ver­all­ge­mei­nert unzu­läs­sig.
Im eige­nen Leben ist All­tag das, was immer gleich bleibt, alle Tage. Doch jeden Tag ist etwas anders: zum Bei­spiel Tem­pe­ra­tur, Licht, Luft­feuch­tig­keit, Mond­pha­se, Mens­trua­ti­ons­pha­se, Gerü­che, Gefüh­le, Gedan­ken, Blut­druck, Haut­wi­der­stand, Haar­län­ge, Magen­in­halt, Inhalt des Kühl­schranks, Inhalt des Müll­ei­mers. Und lau­fend ver­än­dert sich alles, mit unter­schied­li­chen Geschwin­dig­kei­ten.
Wer dem All­tag ent­flie­hen möch­te, hat unend­lich vie­le Mög­lich­kei­ten dazu; denn All­tag gibt es nur in dem Augen­blick, in dem er erschaf­fen wird, von einem Sein, das das eige­ne Tun als all­täg­lich empfindet.

Röhren

Unterseite eines Schiffrumpfs mit Eingang zum Röhrensystem

“Wo Sie eine Wand sehen, da sind in Wirk­lich­keit lau­ter Röh­ren, mit ein biss­chen Zie­gel und Mör­tel drum­rum”, sagt der Instal­la­teur und ich nicke. Ich bin sehr froh, dass er gekom­men ist und die­se sprit­zen­de zischen­de Was­ser­ka­ta­stro­phe gestoppt hat. “Wenn Sie möch­ten, neh­me ich Sie mal mit, ins Röh­ren­sys­tem.” Ich nicke wie­der. War­um nicht. “Sie müss­ten aller­dings vor­her drei Wochen fas­ten.” Erst jetzt fällt mir auf, dass er ziem­lich lang­ge­streckt ist. “Das habe ich noch nie gemacht”, wen­de ich ein. “Ganz ein­fach. Nichts essen, das ist alles.” “Prak­tisch”, sage ich diplo­ma­tisch. Ich möch­te es mir nicht mit ihm ver­scher­zen. Es ist so schwer, gute Hand­wer­ker zu bekom­men.
Nach­dem er sich ver­ab­schie­det und die Woh­nungs­tür geschlos­sen hat, mache ich sie wie­der auf, um ihm sicher­heits­hal­ber doch noch zu sagen, dass er sich kei­ne Hoff­nun­gen zu machen braucht. Da sehe ich, dass er bäuch­lings auf sei­nem Werk­zeug­kof­fer liegt und so die Stu­fen hin­un­ter rutscht. Am Ende der Trep­pe gelingt ihm mit einem ele­gan­ten Schwung der Unter­schen­kel die 180 Grad Wen­de mühe­los, bevor er die nächs­ten Stu­fen run­ter­saust. Ich war­te, bis er im Erd­ge­schoss ankommt, und bin froh, dass ihm nie­mand im Trep­pen­haus begeg­net ist.

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