Es ist wieder einmal soweit. Ich muss die Mülltonne raus stellen. Zuerst versuche ich, es zu ignorieren. Dann fluche ich eine halbe Stunde vor mich hin. Aber es bleibt mir nichts anderes übrig; ich muss es jetzt hinter mich bringen. Seufzend ziehe ich den Ledermantel, die bissfesten Handschuhe und die Stiefel mit den Stahlkappen an, setze den Rucksack auf und nehme Stock, Helm und Taschenlampe mit in den Keller.
Früher hatte ich einen kleinen Kellerraum direkt unter dem Haus, aber dann hat der örtliche Tierschutzverein alle verfügbaren Räume beschlagnahmt, um die immer größere Anzahl an ausgesetzten Hunden, Katzen, Hamstern, Mäusen, Papageien und anderen Tieren unterzubringen. Weil mir aber laut Mietvertrag ein Kellerraum zusteht, habe ich einen Ersatzkeller bekommen. Er liegt einen Kilometer stadtauswärts und ist mit meinem Keller durch einen unterirdischen Gang verbunden. Der Ersatzkeller ist der untere Teil eines Hauses, das einer Erben-Gemeinschaft gehört. Diese kann sich nicht einigen, was mit dem Haus passieren soll, das mittlerweile baufällig und einsturzgefährdet ist. Aber der Keller ist noch in Ordnung.
Es ist ein großer Raum, den ich dort zur Verfügung habe, sogar mit Wasseranschluss und zwei Steckdosen. Ich könnte ein zweites Badezimmer einrichten oder einen Partykeller. Aber der Weg ist eine Tortur. Deshalb steht in diesem Ersatzkeller nur meine Mülltonne. Und die auch nur, weil ich nicht weiß, wo ich sie sonst hinstellen soll.
Ich sammle den Müll auf dem Balkon, wo ich ihn mit einer Vakuumpresse in einen großen Eimer hinein stopfe, bis der randvoll ist. Das sind dann so ungefähr 10 Kilo. Diesen Mülleimer packe ich in einen eigens angefertigten Rucksack, der sich luftdicht verschließen lässt. Es ist nämlich günstig, bei der Unternehmung die Hände frei zu haben.
Ich schließe die Kellertür auf. Bestialischer Gestank nach Exkrementen schlägt mir entgegen und aus allen Räumen kläfft, brüllt, jault und kreischt es. Von überall her funkeln Augen mich an. Die Tiere pressen ihre Gesichter gegen die Gitterstäbe, in der Hoffnung auf Futter oder Streicheleinheiten oder, hauptsächlich, Freiheit. Hunde mit langen dünnen Schnauzen schnappen nach mir, auch Papageienschnäbel hacken blitzschnell zwischen den Gitterstäben hindurch. Mit dem Stock halte ich mir die Tiere vom Leib. Ich versuche, keines zu treffen, was mir aber nicht gelingt. Aufheulen, Wimmern und wütendes Kreischen versetzen mich in Panik und ich fange an zu rennen. Wie ein Echo schwappt die Angst zu den Tieren, sie werfen sich gegen die Gitter, voller Verzweiflung.
Ich atme auf, als ich diesen Teil des Ganges hinter mir habe und die Zwischentür schließen kann. Hier ist die Luft besser und der Lärm der Tiere verebbt langsam, aber es gibt kein Licht mehr, nur den Strahl meiner Taschenlampe. Im Boden klaffen große Löcher, manchmal häuft sich auch Geröll, über das ich klettern muss, und von der Decke lösen sich ab und zu Gesteinsbrocken. Poröse Stellen klopfe ich zuerst mit meinem Stock ab, bevor ich mich daran vorbei traue. Der Helm schützt mich zwar bei den kleinen Steinen, aber ein größerer Brocken könnte mich zu Fall bringen und dies ist ein sehr ungünstiger Ort, um bewusstlos zu werden oder mit gebrochenen Knochen liegen zu bleiben.
Es ist nur ein Kilometer, aber jedes Mal kommt es mir viel länger vor und ich bin erschöpft, wenn ich bei meinem Ersatzkeller ankomme. Es bedrückt mich, unter der Erde zu sein und zu wissen, dass es nur einen Ausgang gibt und ich in die entgegengesetzte Richtung gehe. Ich gerate immer weiter in diese Sackgasse hinein, und an ihrem Ende steht ein Haus, das verrottet, weil Menschen sich nicht darauf einigen können, ihr Erbe unter sich aufzuteilen.
Ich schließe die Tür zu meinem Keller auf und mir wird fast schwindelig vom Gestank der Mülltonne. Ich sollte sie wirklich öfter raus stellen, denke ich. Andererseits habe ich großes Verständnis für mich, dass ich das immer so lange hinaus zögere, bis es nicht mehr anders geht.
Ich stopfe den restlichen Müll in die Tonne und klebe den Deckel sorgfältig mit Dichtungsband ab. Dann sinke ich auf den Stuhl, den einzigen Einrichtungsgegenstand. Es ist wirklich kein schöner Ort zum Verweilen, aber ich muss Kraft schöpfen für das, was jetzt auf mich zu kommt. Die Mülltonne ist schwer wie eine Waschmaschine, ich schaffe es kaum, sie zu bewegen, die Räder ächzen unter dem Gewicht, ich fürchte den Tag, an dem sie abbrechen. Ich zerre die Tonne in den Gang hinaus, und jetzt beginnt der beschwerliche Rückweg: über das Geröll rumpeln, den Löchern ausweichen, die Decke nicht vergessen! Leuchten, aufpassen und ziehen, und schon höre ich es rascheln. Die Ratten.
Magisch angezogen vom Gestank der Mülltonne schlüpfen sie aus den Löchern, den Winkeln und Nischen … Immer mehr, immer aufdringlicher werden sie, springen auf die Mülltonne, rutschen an der Plastikwand ab, und springen wieder, immer höher, sie erreichen den Deckel und reißen am Dichtungsband. Sie springen auch an mir hoch, beißen in die Stiefel, klettern an ihnen hoch, versuchen, an das weiche Fleisch der Kniekehlen zu kommen.
Ich renne jetzt, mit der Mülltonne, schweißüberströmt, schlingere über das Geröll, springe über die Löcher … ein endloser Weg, ein Albtraum. Seit ich diesen Keller habe, muss ich öfter das Märchen “Der Rattenfänger” denken. Wie dieser Typ mit seiner Flöte so locker dahin spaziert und die Ratten ihm in Zweierreihen geordnet folgen. Vielleicht sollte ich es auch einmal mit einer Flöte probieren. Ich habe nur keine Hand mehr frei.
Endlich erreiche ich die Zwischentür und reiße sie auf. Jetzt tobt das Inferno. Die ausgehungerten Ratten stürzen sich auf die kleineren Haustiere, Hunde und Katzen beißen die Ratten tot. Es riecht nach warmen Blut, die Schreie sind unerträglich — zum Glück sind es nur ein paar Meter zur Kellertür, und dann bin zumindest ich entkommen. Ich denke jetzt nicht an die missmutigen Gesichter der Tierschutzverein-Mitarbeitenden, wenn sie morgen die Leichen raustragen und auf dem ehemaligen Schulgelände begraben. Ich will jetzt nur noch meine Tonne abstellen und mich dann erholen.
Erst als ich schon an der Straße bin, fällt mir auf, dass etwas nicht stimmt. Es sind keine anderen Tonnen da. Heute ist doch Mittwoch. Und ungerade Woche. Ratlos schaue ich die Straße hinunter. Dann fällt mir ein, dass morgen Feiertag ist.
Was mache ich jetzt? Auf der Mülltonne klebt ein Zettel mit meinem Namen und der Hausnummer, denn jede Tonne muss eindeutig zugeordnet werden können. Ich kann sie also nicht einfach stehen lassen, das gibt sofort Ärger. Und ich will auf keinen Fall zurück.
Langsam gehe ich mit meiner Mülltonne den Bürgersteig entlang. Abends ist hier kaum jemand auf der Straße. Ich könnte an einem einsamen Ort, hinter einer dichten Hecke … Während ich noch überlege, wo ich meinen stinkenden Ballast am besten los werde, fährt von hinten ein Auto heran, hält mit mir Schritt. Polizei.
Der Polizist auf dem Beifahrersitz kurbelt das Fenster herunter. Er sagt nichts, schaut mich nur an, rümpft die Nase. Ich fange von alleine zu erzählen an. “Diese Mülltonne! Sie riecht nicht so gut, deshalb wollte ich sie mal ein bisschen auslüften …” Er sagt immer noch nichts, kurbelt das Fenster wieder hoch. Das Auto bleibt neben mir. Ich weiß schon: welche grausamen Verbrechen in anderen Teilen der Stadt auch begangen werden: diese beiden Polizisten werden an meiner Seite bleiben und mich und meine Müllabsichten bewachen.
Ich gehe weiter, der Ledermantel drückt, meine Arme schmerzen, ich kann den Gestank nicht mehr ertragen. An der Kreuzung zögere ich. Ich habe die Freiheit, überall hin zu gehen, wenn ich nur diese Mülltonne hinter mir her ziehe, und solange ich sie ziehe, bleibt das Polizeiauto im Schritttempo neben mir. Ich versuche, nicht zu weinen. Ich hebe das Gesicht zum Himmel, damit die Tränen von den Augen in den Kopf zurück fließen, und da fängt es an zu schneien.