Röhren

Unterseite eines Schiffrumpfs mit Eingang zum Röhrensystem

“Wo Sie eine Wand sehen, da sind in Wirk­lich­keit lau­ter Röh­ren, mit ein biss­chen Zie­gel und Mör­tel drum­rum”, sagt der Instal­la­teur und ich nicke. Ich bin sehr froh, dass er gekom­men ist und die­se sprit­zen­de zischen­de Was­ser­ka­ta­stro­phe gestoppt hat. “Wenn Sie möch­ten, neh­me ich Sie mal mit, ins Röh­ren­sys­tem.” Ich nicke wie­der. War­um nicht. “Sie müss­ten aller­dings vor­her drei Wochen fas­ten.” Erst jetzt fällt mir auf, dass er ziem­lich lang­ge­streckt ist. “Das habe ich noch nie gemacht”, wen­de ich ein. “Ganz ein­fach. Nichts essen, das ist alles.” “Prak­tisch”, sage ich diplo­ma­tisch. Ich möch­te es mir nicht mit ihm ver­scher­zen. Es ist so schwer, gute Hand­wer­ker zu bekom­men.
Nach­dem er sich ver­ab­schie­det und die Woh­nungs­tür geschlos­sen hat, mache ich sie wie­der auf, um ihm sicher­heits­hal­ber doch noch zu sagen, dass er sich kei­ne Hoff­nun­gen zu machen braucht. Da sehe ich, dass er bäuch­lings auf sei­nem Werk­zeug­kof­fer liegt und so die Stu­fen hin­un­ter rutscht. Am Ende der Trep­pe gelingt ihm mit einem ele­gan­ten Schwung der Unter­schen­kel die 180 Grad Wen­de mühe­los, bevor er die nächs­ten Stu­fen run­ter­saust. Ich war­te, bis er im Erd­ge­schoss ankommt, und bin froh, dass ihm nie­mand im Trep­pen­haus begeg­net ist.

Als es in mei­nem Bad so schreck­lich nass wur­de, habe ich alle Instal­la­ti­ons­fir­men aus den gel­ben Sei­ten ange­ru­fen, ins­ge­samt neun, aber nie­mand konn­te kom­men. Herrn Adria­no habe ich im Inter­net gefun­den, mit der Anzei­ge: “Kom­me sofort, mache alles.” Das klang ver­däch­tig, aber es blieb mir nichts ande­res übrig, als ihn anzu­ru­fen. Ich glau­be nicht, dass er ein nor­ma­ler Instal­la­teur ist. Die Repa­ra­tur hat er aller­dings gründ­lich und sogar ziem­lich güns­tig durch­ge­führt.
Am nächs­ten Tag klin­gelt mein Tele­fon. “Fas­ten Sie schon?” “Fast”, sage ich. Ich sit­ze gera­de beim Früh­stück. “Es ist wegen der Röh­ren”, sagt er. “Sie möch­ten doch nicht irgend­wo ste­cken blei­ben?” Nein, das möch­te ich nicht. “Ich weiß gar nicht, was mich da erwar­tet, in so einem Röh­ren­sys­tem.” “Ja”, sagt er, “das weiß man vor­her nie.” “Ich mei­ne, ist es nicht schreck­lich dun­kel und sti­ckig? Und sowie­so viel zu eng, egal, wie­viel ich fas­te?” Er schweigt. Dann sagt er: “Es kommt auf den Antrieb an.“
Ich begin­ne tat­säch­lich zu fas­ten. Es ist nicht so schlimm, wie ich es mir vor­ge­stellt habe. Aller­dings schumm­le ich und esse zwi­schen­durch Klei­nig­kei­ten, aber das machen wahr­schein­lich alle Fas­ten­den. Ich bin jetzt oft müde, und wenn ich kann, lege ich mich stun­den­lang aufs Sofa und döse. Essen­sein­la­dun­gen und auch ande­re Tref­fen sage ich ab, indem ich behaup­te, eine Magen­krank­heit zu haben, die eine spe­zi­el­le Diät erfor­dert. Röh­ren-Gas­tri­tis. Ich möch­te mei­nen Freund*innen nicht erzäh­len, dass ich jetzt fas­te, damit ich mit mei­nem Instal­la­teur eine Expe­di­ti­on ins Röh­ren­sys­tem machen kann.
Ich träu­me von Laby­rin­then, Dickicht, Koral­len­rif­fen. Als ich dem Instal­la­teur erzäh­le, dass ich beschlos­sen habe, mit­zu­kom­men, sagt er fei­er­lich: “Sie eröff­nen mir das Meer.” Er ist selt­sam. Ich mag ihn. Wir tele­fo­nie­ren oft. Nicht viel, nur so ein paar Wor­te. Ich schla­ge vor, dass wir uns duzen. Er ist ein­ver­stan­den, aber als ich ihn nach sei­nem Vor­na­men fra­ge, zögert er auf­fal­lend lan­ge, bevor er ant­wor­tet, so als ob er sich erst dar­an erin­nern müss­te, wie er heißt. “Toni”, sagt er schließ­lich. “Toni Adria­no — das könn­te ein ita­lie­ni­scher Name sein.” “Ja. Könn­te.“
Er bringt mir eine fünf Meter lan­ge Röh­re vor­bei, zum Üben. Ich lege sie in den Flur und schlüp­fe mehr­mals am Tag von einem Ende zum ande­ren. Ich den­ke jetzt öfter an Regen­wür­mer.
Genau nach Ablauf der drei Wochen steht Toni vor der Tür: “Wol­len wir los?” Zum ers­ten Mal bemer­ke ich Unge­duld an ihm. “Okay!” Ich bin froh, dass ich mei­nen heim­li­chen Hafer­brei schon geges­sen habe. “Wie­vie­le Stun­den wer­den wir unter­wegs sein?” Er sieht rat­los aus.
Wir fah­ren in Tonis Lie­fer­wa­gen zum alten Kino Ipo­kos­mo, das schon vor Jah­ren auf­ge­ge­ben wur­de und immer noch leer­steht. Über eine Trep­pe, die an den Sei­ten abbrö­ckelt, gehen wir zum Vor­führ­raum hoch. Dort, links vom Sicht­fens­ter auf den Kino­raum, ist der Ein­gang zum Röh­ren­sys­tem. Toni ver­bin­det uns mit einem Seil und steigt ein. Ich fol­ge ihm ins Dun­kel und ver­lie­re sofort die Ori­en­tie­rung.
Wir krie­chen ein paar Meter, dann rut­schen wir in einem schwar­zen wei­chen Schlund in eine grö­ße­re Dun­kel­heit hin­ein, die von einer Sei­te auf die ande­re fällt, wir flie­ßen auf dem Bauch hin­durch und wer­den von einem Sog erfasst, der uns mit­reißt, ein Luft­strom, der uns voll Geschwin­dig­keit pumpt: eine rasen­de Rei­se, stun­den- oder tage­lang, stumm und licht­los, bis ein Punkt grö­ßer wird und hel­ler und etwas knirscht und bremst. Wir plump­sen in den Sand wie Nie­der­schlag, die Split­ter der Son­ne drin­gen in mich ein. Das Meer schreit und kommt her­an­ge­lau­fen bis zu mei­nen Füßen, Gischt spritzt. Toni löst umständ­lich unser Ver­bin­dungs­seil.
Ich set­ze mich auf. “Das war unglaub­lich! War­um hast du das nicht gleich gesagt! Vie­len Dank, es war wie flie­gen. Wo sind wir denn hier?” Toni schaut mit ver­zück­tem Gesicht aufs Was­ser: “Adria.” Dann sieht er mich an und wird trau­rig: “Ich wer­de dich ver­mis­sen.” “Mich ver­mis­sen? Das brauchst du nicht! Mei­net­we­gen kön­nen wir jedes Wochen­en­de einen Aus­flug ins Röh­ren­sys­tem machen.” “Es war sehr schön mit dir.” Sei­ne Unter­lip­pe schiebt sich vor, die Augen wer­den rund. “Aber ich bin bald nicht mehr da.” “Wo willst du hin?” “Ich habe ein­mal einer sehr mäch­ti­gen Frau den gro­ßen Zeh abge­bis­sen.” Ich star­re ihn an. “Es war ein Ver­se­hen, aber sie hat es mir sehr übel genom­men und mich zur Stra­fe in einen Instal­la­teur ver­wan­delt.“
Die Wor­te wer­den jetzt undeut­li­cher, sei­ne Haut glänzt auf ein­mal blau. “Um den Zau­ber auf­zu­he­ben, muss­te ich eine Per­son fin­den, die bereit war, drei Wochen zu fas­ten und mich ins Röh­ren­sys­tem zu beglei­ten. Vie­len, vie­len Dank dafür!” Er nimmt den Beu­tel ab, den er umhän­gen hat und reicht ihn mir: “Das ist für dich.” Er hat kei­ne Fin­ger mehr, sie sind zu einer grau­blau­en Flä­che zusam­men gewach­sen. Erschro­cken wei­che ich zurück. “Wer bist du denn in Wirk­lich­keit?” “Toni ist fast … rich­tig“
Sein Kopf wird läng­lich, der Mund spitzt sich zu, er kann nicht mehr spre­chen, macht eine Bewe­gung mit der Flos­se, wie ein Win­ken, das Meer kommt und holt ihn. Bei der Berüh­rung mit dem Was­ser voll­endet sich die Ver­wand­lung, ein fisch­för­mi­ger Bogen springt in die Wel­len, sei­ne sichel­för­mi­ge Schwanz­flos­se ver­schwin­det in den Flu­ten.
Lan­ge sit­ze ich da und schaue aufs Meer. Ab und zu sehe ich die Schwanz­flos­se und win­ke. Viel­leicht sieht er es ja. Ich ver­mis­se Toni. Es war nett mit ihm. Wenigs­tens konn­te ich ihm hel­fen. Er ist wie­der das, was er sein möch­te. Und muss nicht mehr bäuch­lings Trep­pen hin­un­ter rut­schen. Jetzt ist mir klar, woher er die­sen Unter­schen­kel-Schwung hat.
Ich öff­ne sei­nen Beu­tel. Der Schlüs­sel für den Lie­fer­wa­gen. Ein Porte­mon­naie mit einem dicken Bün­del an Geld­schei­nen. Ein Foto vom Meer. Dan­ke, Toni. Ich ste­he auf. Er wird nicht zurück­kom­men. Sicher passt er in Zukunft auf, wo er sei­ne Zäh­ne rein ver­senkt. Und ich auch. Das ist ja klar: nie wie­der esse ich Thunfisch.