Lasst uns durch die Lappen gehen!

Verschiedene Sprossen sprießen

Für Anne

Eine Pfüt­ze in der Küche
Liegt in der Son­ne
Dehnt sich und streckt
Ein Bein aus, ein zwei­tes
Beult sich, zeigt ein brei­tes Maul,
Zwei Augen aus­ge­stülpt
Platsch: ein Hüpfer

Eine Krö­te in der Küche
Erdig braun und schwarz
Mit War­zen wie Wachol­der­bee­ren
Wan­dert gemäch­lich
Über den Rand der Spü­le
Wäh­rend ihre Meta­mor­pho­sen
Kro­ta, Krux, Örter, Rüt und Krä­te
Schon flink die Flie­sen erklim­men
Und garan­tiert nie wie­der
In die tra­di­tio­nel­len Fort­pflan­zungs­ge­wäs­ser
Zurück­keh­ren werden

Getüm­mel in der Küche
Die feuch­ten Wesen an der Wand
Ver­dre­hen den Koch­löf­feln die Köp­fe
Brin­gen Rosi­nen auf ande­re Ideen
Zie­hen Schleim­spu­ren, die glit­zern
Haben so lan­ge Zungen

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Streifzug durchs Rudiversum

Film von Anne Fri­si­us mit einem Gedicht von mir
zum 80. Geburts­tag mei­nes Adop­tiv­on­kels Rudolf Fri­si­us, Pro­fes­sor für Neue Musik

Gabel führt zwei Serviettenringe über eine Ebene

Streif­zug durchs Rudiversum

Wer rudert so spät durch Nacht und Noten?
Das ist der Rudi in geis­ti­gen Fluten

Kory­phäe, Kos­mo­po­lit
Kon­zep­te Kon­zer­te ein Maxi­mum an Lexi­kon
Kon­gres­se Kon­klu­sio­nen Kol­li­sio­nen mit Idio­ten
Kon­den­sa­tor für kon­kre­te Kom­po­nis­ten
Mit einem König­reich an Zitaten

Was ist Klang?
Ein lee­rer Eimer hol­ter­di­pol­ter
Die Trep­pe run­ter
Spat­zen­schrit­te auf dem Blech­dach
Spa­ten­sti­che ins Sty­ro­por
Mak­ka­ro­ni wenn sie bre­chen unter Trit­ten auf den Flie­sen
Das Gegen­teil von Musik ist Musik

Rudi, Forel­le der Vor­trags­rei­he
Mit Vor­lie­be für Zet­tel und Ton­bän­der
Mit Radio Reden quer durch die Fre­quen­zen
Prä­sen­tiert er ele­gant
Elek­tro­ni­sche Lek­tio­nen
Als schrei­ben­der Beglei­ter
Von Geis­tern mit ähn­li­chem Sie­de­punkt
Kagel Rie­del Schne­bel Rihm
Obses­si­on: Stockhausen

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Briefträgerin

Wiese mit leuchtenden PusteblumenUm den Ein­stieg in die Ver­ren­tung sanft zu gestal­ten, hat unse­re Brief­trä­ge­rin einen neu­en Arbeits­mo­dus ein­ge­führt. Und zwar unter dem Mot­to: “Kür­zer tre­ten!” Mon­tag, Diens­tag, Don­ners­tag und Frei­tag trägt sie wie gewohnt Brie­fe und Päck­chen aus. Mitt­woch und Sams­tag trägt sie sie nur in ihre Woh­nung, sta­pelt sie dort auf diver­sen Tischen und Fens­ter­bän­ken, und wir kön­nen sie abho­len.
“Jah­re­lang habe ich euch besucht, jetzt machen wir es mal umge­kehrt.” Arbeits-Inver­si­on nennt sie das Kon­zept. Ursprüng­lich hat­te sie in ihrem Flur einen Emp­fangs­be­reich ein­ge­rich­tet, wo sie jede Per­son begrüßt und ihr die Sen­dun­gen per­sön­lich über­reicht hat. Mitt­ler­wei­le liegt sie auf dem Sofa und deu­tet nur noch auf den Sta­pel, in dem sich das Gewünsch­te befin­det. “Ich gewöh­ne mich immer bes­ser an mei­ne Ren­ten­zeit”, meint sie.
Ihr Kon­zept wird gut ange­nom­men. Die Leu­te rei­ßen sich dar­um, die Brie­fe für das gan­ze Haus abho­len zu dür­fen, vor allem die Rentner*innen. Eine Wei­le freue ich mich über den Ser­vice, dann pro­tes­tie­re ich: “Ich möch­te die Brief­trä­ge­rin auch ein­mal besu­chen!” An einem Sams­tag ist es dann so weit. Ich ste­he in ihrem Wohn­zim­mer, auf einem dicken grü­nen Tep­pich, sie begrüßt mich herz­lich: “Schön, dass du auch ein­mal kommst! Möch­test du einen Ing­wer­tee?” Wir duzen uns schon län­ger. Ich glau­be, Glo­ria ist mit dem gan­zen Vier­tel per Du.
“Ger­ne”, sage ich. Wäh­rend sie den Tee aus der Küche holt, sehe ich mich in ihrem Wohn­zim­mer um. Über­all lie­gen Post­sen­dun­gen, geord­net und mit Schil­dern ver­se­hen, auf denen die Haus­num­mern ste­hen. Ich bin ein biss­chen auf­ge­regt, als ich den Sta­pel für unser Haus ent­de­cke. Wir muss­ten alle ein For­mu­lar unter­schrei­ben, in dem wir die Nach­barn bevoll­mäch­ti­gen, unse­re Post abzu­ho­len.
“Heu­te habe ich die Vor­la­dung bekom­men”, erzählt Glo­ria. “Sie ver­su­chen, mir Arbeits­ver­wei­ge­rung nach­zu­wei­sen. Und Ver­let­zung des Post­ge­heim­nis­ses. Bis jetzt haben sie aber noch kei­ne Lücke gefun­den. Alle Kund*innen sind zufrie­den. Herr Schil­ling hat sogar eine Peti­ti­on für mich gestar­tet. Wenn du möch­test, kannst du auch unter­schrei­ben.” “Natür­lich”, sage ich, “ich fin­de dei­ne Idee geni­al.”
“Ich auch.” Sie strahlt. “War­um mit Abzü­gen in die Ren­te gehen, nur weil ich die­sen Job nicht mehr jeden Tag schaf­fe?” Sie gießt uns Tee ein. “Zucker? Oder Honig?” Ich neh­me mir Honig. “Honig, natür­lich! Im Eng­li­schen heißt es doch Honey­moon, nicht wahr?” Sie lächelt mich an, ich wer­de ein biss­chen rot und kon­zen­trie­re mich dar­auf, den Honig im Tee zu ver­rüh­ren. “Ver­zeih mir, wenn ich neu­gie­rig bin, aber … von wem war eigent­lich der rote Brief?”
“Was für ein roter Brief?” Ich set­ze mich ker­zen­ge­ra­de hin, und wer­de jetzt rich­tig rot, so als ob die­ser Brief, von dem ich gar nichts weiß, auf mich abfär­ben wür­de. “Du musst es mir natür­lich nicht erzäh­len …” “Aber ich habe kei­nen roten Brief bekom­men! Wirk­lich nicht.” “Du hast den Brief nicht bekom­men?” Sie wird jetzt, im Gegen­satz zu mir, weiß im Gesicht, und ich weiß natür­lich war­um. Bei Unre­gel­mä­ßig­kei­ten in der Zustel­lung ist sie dran.

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Etwas Übermutiges

Einzelne Blume in weißer bauchiger Vase auf dem Balkon

Ein­mal kauf ich mir ein Bal­kon für mich allein, mit blau­em Him­mel dran und ein paar wei­ßen Wol­ken. Auf mein Bal­kon wach­sen Tul­pen und Kro­kus. Und dann noch Krä­hen und Tau­ben: Wenn ich komm, wedeln sie mit den Flü­geln, dass es rauscht und schwirrlt. Das Haus bleibt da, aber wir flie­gen davon: mein Bal­kon, die Vögel, die Blu­men und ich. Hoch über die Häu­ser flie­gen wir drü­ber, tum­meln uns in die Wol­ken hin­ein. Die unten sind, gucken hoch und nei­den uns.
„Julia, du stehst ja immer noch auf dem Bal­kon! Ist dir nicht kalt?“
„Nein.“
„Komm doch wie­der rein, es wird lang­sam kühl.“
Ein flie­gen­der Bal­kon ist bes­ser als ein flie­gen­der Tep­pich, weil er Luft und Leh­nen hat: ich kann mich in den Lie­ge­stuhl schmie­gen oder am Lenk­rad ste­hen. Die Vögel zwit­schern und flü­geln, die Haa­re win­ken dem Wind, wir flie­dern durch den Früh­ling, trei­ben so schön dahin und alles ist ganz leicht.
„Julia, nicht so weit vor­beu­gen! Du fliegst mir noch vom Bal­kon. Komm jetzt rein!“
Sie sagen mir immer vor. Weil ich im Heim woh­ne. Es sind dau­ernd wel­che da, die auf uns auf­pas­sen. Nie hör‘n sie auf, uns zu hel­fen, damit wir leben kön­nen, wie sie es sagen. Sie schüt­zen uns, mal weich, mal hart. Sie brin­gen uns in Not und ber­gen uns. Es sind unse­re Ber­ge. Was täten wir ohne sie?
Ich geh rein, setz mich in mein Ses­sel, Pup­pe auf‘m Schoß. Die hab ich immer dabei. Die Ber­ge sagen: „Julia braucht ihre Pup­pe. Sie glaubt, es ist ihr Kind.“ Manch­mal huscheln sie dann lei­se mit­ein­an­der. Ich weiß schon, was sie sagen: dass die Ärz­te mein Bauch auf­ge­schnit­ten und mir alle mei­ne Babys weg­ge­nom­men haben.
Die Pup­pe hat auf dem Rücken ein Loch. Da war frü­her ein Kas­ten drin, der hat gere­det: „Guten Tag, ich hei­ße Bar­ba­ra.“ Den Kas­ten hab ich raus geschnit­ten. Die Pup­pe heißt Nil­le.
„Nil­le!“, maunzt Mar­git, „das ist doch kein Name!“
„Das geht dich ein Scheiß­dreck an.“
Von mein Ses­sel aus kann ich alles sehn: die Sofas, den Fern­se­her, den Ess­tisch, die Blu­men auf der Fens­ter­bank, Pri­meln. Ich mag es, wenn was blüht.
Jetzt stellt sich Mona in mei­ne Sicht; sie biegt sich vor und zurück, vor und zurück, nimmt Anlauf und kommt dann nicht los.
Mar­git schlägt mit den Fäus­ten auf die Wand, rennt raus, schreit im Flur. Das kommt manch­mal, weil sie Psy­ch­ro­se hat. Dann sind ihr Dor­nen in den Augen.

Auf dem Tisch kal­ku­liert Han­nah ihr Geld: Raus aus der Bör­se, rein in die Bör­se kul­lern die Mün­zen. Und dann alles gut ver­schüt­telt. „Mach nicht so einen Bör­sen­krach!“, schimpf ich, aber sie hört nicht auf mit dem Geklin­gel.
Da kommt auch noch Son­ja, die folg­sa­me Die­bin. Sie hat mir mein Geburts­tag gestoh­len. Jeder Mensch hat ein Geburts­tag. Da wird die Zim­mer­tür geschmückt und der Platz am Tisch. Alle gucken dich fei­er­lich an und dann gibt‘s Geschen­ke. Jeder hat so ein Tag. Ich hab den 5. Mai. Dann ist Son­ja ein­ge­zo­gen und woll­te auch den 5. Mai. Hab‘ ich ihr gleich gesagt, dass sie sich das abschmin­ken kann und ein andern Tag neh­men soll. Gibt ja genug von Janu­ar bis Dezember.

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