Entkommen

Ein gro­ßer Umzugs­wa­gen stand vor der Tür. Aus dem Ein­gang kam jemand und hielt einen rie­si­gen Bild­schirm mit bei­den Hän­den umspannt: es war mei­ne Kol­le­gin Julia. “Da bist du ja!”, rief sie mir zu. “Alles muss raus!” Als ob es sich um einen Schluss­ver­kauf han­deln wür­de. “War­um denn?”, frag­te ich sie. Aber sie hat­te mir schon den Rücken zuge­dreht und steu­er­te ein rotes Auto an, das schräg vorm Haus park­te; auf den Vor­der­sit­zen saßen zwei mir unbe­kann­te Män­ner in Anzü­gen. Julia ver­stau­te den Bild­schirm auf dem Rück­sitz und stieg sel­ber auch mit dazu. Sie hat­te die Tür noch nicht zuge­zo­gen, da star­te­te das Auto schon, fuhr auf mich zu und an mir vor­bei, jag­te die graue Stra­ße ent­lang, bis es nur noch ein roter Punkt war. Ich blieb benom­men zurück. Ich war doch nur zwei Wochen im Urlaub gewesen.

Die Ein­gangs­tür stand offen. Der Boden war mit Brie­fen über­sät. Ich hielt erschro­cken inne. Es hat­te zu mei­nen Auf­ga­ben gehört, die Brie­fe zu sor­tie­ren, und jetzt lagen sie hier acht­los ver­streut, mit Staub und Fuß­spu­ren bedeckt. Da wo frü­her die Brief­käs­ten ihren Platz gehabt hat­ten, klaff­te jetzt ein Loch; die Käs­ten selbst, stark ver­beult, von wer weiß wel­cher Kraft aus der Ver­an­ke­rung geris­sen, lagen wie hin­ge­schleu­dert. Darya war mit der gro­ßen Schau­fel zugan­ge, mit der sie im Win­ter das Eis vom Geh­weg kratz­te; sie schob einen Brief­kas­ten vor sich her. Ich woll­te sie anspre­chen, aber sie sah mich nicht, und dann pack­te sie den Brief­kas­ten und warf ihn in den Con­tai­ner, der in der Ecke stand. Es schep­per­te und dröhn­te, mir stock­te der Atem, ich flüch­te­te auf der Trep­pe nach oben.

Dort ver­such­te Moritz, einen Akten­schrank in den Auf­zug zu schie­ben. Ein Rad war in den Ril­len hän­gen­ge­blie­ben, ich pack­te mit an, und gemein­sam schaff­ten wir es. “Dan­ke”, Moritz nick­te mir zu und drück­te auf das E für Erd­ge­schoss. “Was ist denn hier los?”, frag­te ich ihn. Er mus­ter­te mich. “Weißt du es noch nicht?”, sag­te er schließ­lich. “Anord­nung des höchs­ten Minis­te­ri­ums. Sofor­ti­ge Eva­ku­ie­rung.” “Aber — war­um?” “Alles muss hier anders wer­den.” Die Auf­zug­tür glitt zu, ich starr­te die sil­ber­ne Flä­che an.

Ich hat­te Angst davor, in mein Büro zu gehen. Es war nur ein Job, aber ich war schon ein paar Jah­re hier und hat­te mich dar­an gewöhnt, 20 Stun­den in der Woche Brie­fe zu sor­tie­ren, Mails wei­ter zu lei­ten, Doku­men­te aus den Akten­ord­nern zu zie­hen und in ein bestimm­tes Büro zu brin­gen oder sie umge­kehrt abzu­ho­len und wie­der ein­zu­ord­nen. Ein­mal soll­te ich einen Vor­trag über mei­ne Arbeit hal­ten, er wur­de von den Kolleg*innen höf­lich beklatscht. Mit mei­nen Kolleg*innen ging ich ab und zu zum Mit­tag­essen, meis­tens aber nicht. Es war eine gemüt­li­che Arbeit, die Hälf­te der Zeit konn­te ich an mei­nen eige­nen Geschich­ten schrei­ben, ohne dass das jemals nega­tiv auf­fiel, im Gegenteil.

Es war mir immer so vor­ge­kom­men, als wäre es erwünscht, dass ich nicht all­zu viel arbei­te­te. Manch­mal kam mir das, was ich zu tun hat­te, gera­de­zu unsin­nig vor. Ich hat­te zum Bei­spiel die Auf­ga­be, alle unge­spitz­ten Blei­stif­te aus allen Büros in allen Abtei­lun­gen ein­zu­sam­meln, im Werk­statt­raum zu spit­zen und dann wie­der zu ver­tei­len, wobei ich das ers­te Mal noch den Feh­ler began­gen hat­te, sie wahl­los zu ver­tei­len, was zahl­rei­che Beschwer­den nach sich gezo­gen hat­te, und eine sehr umständ­li­che Neu­ver­tei­lungs­ak­ti­on, sodass ich mir das nächs­te Mal auf jedem Blei­stift mit einem Pos­tit ver­merk­te, aus wel­chem Büro und von wel­chem Schreib­tisch er stamm­te. Seit­her hat­te sich nie­mand mehr über mich beschwert, weil ich etwas Wesent­li­ches gelernt hatte.

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