“Werden Sie hingehen?”, fragt mich die Nachbarin. Ihre Armreifen, sie klirren leise, es klingt eine Warnung. “Ich habe ihn gar nicht
gekannt”, behaupte ich, und wende mich ab vom Schaufenster, in dem nur noch ein blaues Tuch voller Krümeln Falten wirft: “Ich esse kein Brot. Brötchen backe
ich selbst. Und-” “Ich war hier jeden Samstag”, sagt sie. Manchmal sogar donnerstags.” “Also werden Sie hingehen?” “Ich weiß nicht … ob ich geeignet bin.” “Ich auch nicht”, sage ich schnell. “Es gibt so viele
andere.” Ich will mich nicht festnageln lassen. Wenn das Schild nicht wäre, an der Ladentür, mit der Einladung, oder soll ich sagen Aufforderung, zur Beerdigung zu erscheinen, mit
Gedichten
Was für Gedichte? Zum Vorlesen oder als Papierflugzeuge gefaltet, die über seinem Grab kreisen, auf den Sarg
treffen? Würde ich ein Gedicht über den Bäcker schreiben, könnte ich auch alles andere nicht weglassen. Der Bäcker war, wie alle … ein Mittelpunkt. Ich habe ihn nur wenige Male
reden hören, und immer nur im Halbdunkel. Aber auf dem Foto habe ich ihn sofort erkannt. “Wenn man wüsste,
wer da sein wird”, sagt die Nachbarin, Frau Nagel, und spreizt ihren Schirm. Wir stehen schon eine Weile im Regen, unsere Gesichter glänzen vor Nässe, man könnte
meinen, wir würden weinen, wegen des Bäckers, oder weil wir jetzt nicht mehr an den Zimtschnecken riechen können oder wegen der Stille, die herrscht. “Aber hingehen sollte man doch”, sagt sie, ängstlich, und ich weiß nicht, ob sie Angst hat vorm Hingehen oder vorm Wegbleiben
oder vor beidem … Sie ist im allgemeinen nicht furchtsam. Neulich, in der Eiche, ist sie ohne zu zögern ganz nach oben. “Wie geht es Ihrer Katze?”, frage ich. Als sie zu dem Ast kam, auf dem die Katze hockte und klagte, sprang diese plötzlich mit einem Satz ins Freie und
fiel
Wir warteten voller Entsetzen auf den Aufprall, das Tier aber
drehte sich nicht nur in der Luft zum Jasmin, der den Asphalt an mehreren Stellen durchbrochen hatte sondern auch
der Jasmin streckte seine Zweige ihr entgegen, und als die Katze sich auf ihn stürzte, löste sich der Duft aus den Blüten und wehte die Straße
hinab bis zur Bushaltestelle, an der ich stand, weil ich an meinem Fahrrad
kaputte Reifen feststellen hatte müssen. “Sie ist gestern gestorben”, sagt Frau Nagel, und ich will ganz automatisch erwidern: “Das tut mir Leid”, aber stattdessen öffnet sich mein Mund mit den Worten: “Wie der Bäcker”, und da ist er wieder und ragt
in unsere Unterhaltung hinein, wozu die Nachbarin nickt und meint: “Vielleicht werden sie zusammen begraben”. Feierlich sieht sie aus und ich sehe
den Bäcker im Sarg mit der Katze im Arm, mochte er überhaupt
Katzen? Man wusste nichts über ihn. Nicht, wo er her gekommen, wer und wo die Frau auf dem großen Hochzeitsfoto, ob seine Tochter wirklich seine Tochter oder jemand ganz anderes
war. Und was sich in der blauen Kiste verbarg … Ich weiß nicht, ob ihn niemand gefragt hat oder ob er die Antwort und überhaupt schuldig geblieben ist. Man wusste nur, wenn seine Zimtschnecken salzig schmeckten, dass er wieder so
geweint hatte in der Nacht und dann gingen die Leute eine Weile lang nicht mehr hin, sodass sich im Hinterhof das alte Brot türmte und sich dort Scharen von Ameisen, Ratten und großen schillernden Fliegen
versammelten. Und dann ging man doch wieder hin. Wegen der Zimtschnecken. Unwiderstehlich, seufzten die Leute, dieser Duft! Manche sagten
Jasmin dazu. Eine Zimtschnecke duftete drei Tage lang. Sie schmeckte nicht besonders, nicht anders als bei anderen Bäckern, aber der Duft … die ganze Stadt ist
süchtig danach und niemand weiß, was jetzt passiert, wenn es ihn nicht mehr
gibt.
“Wie ist er eigentlich gestorben?”, frage ich Frau Nagel, die Nachbarin, die von einem Fuß auf den anderen tritt und dabei versucht, nicht auf die Schnecken zu treten, die bei Regen immer in großer Zahl
von wer weiß woher kommen und
auf die Straße gehen. “Wie die anderen auch.” Sie schneuzt sich. “Elend.” Ich weiß nicht, ob sie den Bäcker meint, oder vielleicht auch die Katze, die ein Kater war. Jedes Jahr ist eine Katze von ihr
überfahren worden. Sie hat allerdings auch ziemlich viele. Ich frage nicht nach. Ich muss jetzt dringend
nach Hause. In dem Moment öffnet sich die Ladentür und die Frau, die wahrscheinlich die Tochter des Toten ist, kommt heraus. Ich räuspere mich, um
“Mein Beileid” zu sagen, und dann schaffe ich es nicht, weil in dieser Floskel ein Ei nach dem anderen auftritt und mich abweist. Die Tochter läuft an uns vorbei, auf die regennasse glänzende
Straße, setzt sich auf ihren Wollfilz Mantel wie auf eine Schaukel, schwingt sich in die Luft und fliegt die Allee entlang, macht dann kehrt, kommt zurück, auf ihrem fliegenden Mantel, sitzt mit gekreuzten Beinen, sieht von hoch oben, mit flatterndem Haar, auf die Bäckerei
hinunter, auf uns hinunter, die wir da klein und verlassen stehen, und hört kaum, wie Frau Nagel sagt: “Diese Leute sind so
anders als wir.”