Das Begräbnis des Bäckers

2 Hände bedienen einen Blaseblag, der Stroh in einem Metallbehälter zum Brennen bringt, es raucht stark, über eine blaue Kiste hinweg

“Wer­den Sie hin­ge­hen?”, fragt mich die Nach­ba­rin. Ihre Arm­rei­fen, sie klir­ren lei­se, es klingt eine War­nung. “Ich habe ihn gar nicht

gekannt”, behaup­te ich, und wen­de mich ab vom Schau­fens­ter, in dem nur noch ein blau­es Tuch vol­ler Krü­meln Fal­ten wirft: “Ich esse kein Brot. Bröt­chen backe

ich selbst. Und-” “Ich war hier jeden Sams­tag”, sagt sie. Manch­mal sogar don­ners­tags.” “Also wer­den Sie hin­ge­hen?” “Ich weiß nicht … ob ich geeig­net bin.” “Ich auch nicht”, sage ich schnell. “Es gibt so viele

ande­re.” Ich will mich nicht fest­na­geln las­sen. Wenn das Schild nicht wäre, an der Laden­tür, mit der Ein­la­dung, oder soll ich sagen Auf­for­de­rung, zur Beer­di­gung zu erschei­nen, mit

Gedich­ten

Was für Gedich­te? Zum Vor­le­sen oder als Papier­flug­zeu­ge gefal­tet, die über sei­nem Grab krei­sen, auf den Sarg

tref­fen? Wür­de ich ein Gedicht über den Bäcker schrei­ben, könn­te ich auch alles ande­re nicht weg­las­sen. Der Bäcker war, wie alle … ein Mit­tel­punkt. Ich habe ihn nur weni­ge Male

reden hören, und immer nur im Halb­dun­kel. Aber auf dem Foto habe ich ihn sofort erkannt. “Wenn man wüsste,

wer da sein wird”, sagt die Nach­ba­rin, Frau Nagel, und spreizt ihren Schirm. Wir ste­hen schon eine Wei­le im Regen, unse­re Gesich­ter glän­zen vor Näs­se, man könnte

mei­nen, wir wür­den wei­nen, wegen des Bäckers, oder weil wir jetzt nicht mehr an den Zimt­schne­cken rie­chen kön­nen oder wegen der Stil­le, die herrscht. “Aber hin­ge­hen soll­te man doch”, sagt sie, ängst­lich, und ich weiß nicht, ob sie Angst hat vorm Hin­ge­hen oder vorm Wegbleiben

oder vor bei­dem … Sie ist im all­ge­mei­nen nicht furcht­sam. Neu­lich, in der Eiche, ist sie ohne zu zögern ganz nach oben. “Wie geht es Ihrer Kat­ze?”, fra­ge ich. Als sie zu dem Ast kam, auf dem die Kat­ze hock­te und klag­te, sprang die­se plötz­lich mit einem Satz ins Freie und

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Bitte nicht öffnen!

Graffiti von einer Getränkedose mit vier Beinen, die aus einem brennenden Gebäude flieht

Sie steht ganz oben auf dem Küchen­re­gal. Frü­her habe ich Kek­se dar­in auf­be­wahrt, aber ich habe schon lan­ge kei­ne mehr geba­cken. Eine etwas ver­beul­te Dose, rot, “Nürn­ber­ger Leb­ku­chen” steht dar­auf. Seit eini­ger Zeit muss ich die immer anstar­ren. Was ist mit die­ser Dose?

Schließ­lich stel­le ich mich auf den Tritt und hole sie her­un­ter. Vor­sich­tig zie­he ich den Deckel ab. Was ist das? Lau­ter Trüm­mer! So vie­le Lei­chen, Ver­stüm­mel­te und — das ist ja scheuß­lich! Das sieht aus wie — Wie kommt denn so was in mei­ne Küche?

Schnell den Deckel drauf. Was mache ich jetzt damit? Ich muss es los­wer­den. Das kommt in die Müll­ton­ne, beschlie­ße ich. Mor­gen ist Abfuhr­tag. Ja, weg damit! Jetzt sofort. Ich schnap­pe mir die Schlüs­sel, wick­le ein Geschirr­tuch um die Dose und tra­ge das Päck­chen in den Keller.

Im Trep­pen­haus tref­fe ich Frau Bes­te. Als ich “Guten Tag” sagen möch­te, dringt ein dump­fer Schrei aus der Dose. “Was haben Sie denn da”?, fragt sie miss­trau­isch. “Nichts”, sage ich schnell, hal­te ihrem Blick aber nicht lan­ge stand. “Das ist … Da ist … ich kann nichts dafür”, stot­te­re ich, “aber ich glau­be, da ist ein Geno­zid drin.” “Und wo wol­len Sie damit hin?” Ich sage nichts, spü­re, wie ich rot werde.

“Glau­ben Sie nicht, dass Sie das in die Müll­ton­ne wer­fen kön­nen! Das ist Son­der­müll! Da müs­sen Sie beim Recy­cling­hof anru­fen, und nach­fra­gen, wo das hin kann. Auf jeden Fall nicht in unse­ren Kel­ler! Wir sind ein ordent­li­ches Haus.” Ich schlei­che mit mei­ner Dose die Trep­pe wie­der hoch.

Beim Recy­cling­hof reagie­ren sie zurück­hal­tend. “Geno­zid? Wir sind hier nur für Pes­ti­zid zustän­dig. Außer­dem, was mei­nen Sie damit? Wo gibt’s denn so was?” “Ich weiß auch nicht, wie der in mei­ne Küche gera­ten ist!” “Soll­ten Sie womög­lich not­wen­di­ge Ver­tei­di­gungs­maß­nah­men als Völ­ker­mord bezeich­nen, so müss­te ich Sie wegen Ver­leum­dung anzei­gen.” “Da habe ich mich viel­leicht falsch aus­ge­drückt … es ist nur wegen der vie­len toten Kin­der …” “Wenn es sich um Tote han­delt, müs­sen Sie sich an den Fried­hof wen­den!” “Ah, gute Idee.”

Ich rufe aber nicht gleich beim Fried­hof an. Das Gespräch hat mich erschöpft. Die Dose steht jetzt auf dem Küchen­tisch, noch immer in das Geschirr­tuch gewi­ckelt. Wie konn­te sich so eine harm­lo­se Nürn­ber­ger Leb­ku­chen Dose in einen Kriegs­schau­platz ver­wan­deln? Und war­um ist die­ser Völ­ker­mord aus­ge­rech­net zu mir gekom­men? Oder haben alle so eine Dose zu Hause?

Schließ­lich rufe ich beim größ­ten Fried­hof der Stadt an. “Ich habe ein … etwas unge­wöhn­li­ches Pro­blem … also, ich habe hier meh­re­re Tote.” “Meh­re­re Tote?”, fragt die Frau ent­setzt. “Ein Ver­kehrs­un­fall? Ich hab gar nichts in der Zei­tung gele­sen.” “In der Zei­tung steht auch nicht so viel von die­sen Toten. Es sind aber vie­le. Vor ein paar Mona­ten waren es 40.000. Danach haben sie, glau­be ich, mit dem Zäh­len auf­ge­hört.” “40.000? Sind Sie ver­rückt? Das sind viel zu vie­le für das Stadt­ge­biet Bremen.”

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Gaza

Gaza liegt auf einem ande­ren Stern
Und mit­ten in unse­rem Her­zen
Es gibt kei­ne Men­schen dort
Nur Terrorist*innen
Und es gibt nichts
Was man Terrorist*innen
Nicht antun darf
Und die­se Taten
Machen aus immer mehr Men­schen
Terrorist*innen
Ihnen wer­den kei­ne Kin­der gebo­ren
Son­dern Mons­ter
Die sofort gejagt wer­den müs­sen
Tags­über jagen wir sie
Sie­ges­ge­wiss
Nachts
Jagen sie uns
Über die Trüm­mer
Unse­res Gewis­sens
Gaza, das ist die­ses Krat­zen
Das in der Keh­le bleibt
Sooft du auch schluckst
Das Schwei­gen
Das auf dei­ner See­le las­tet
An Gaza führt kein Weg vor­bei
Es ist unser aller Vor-Bild
Auf das wir zuge­hen
Uner­bitt­lich

Auf der Suche nach Wegen … Jenseits vom binären “Backe hinhalten oder Ohrfeigen austeilen”

Scheiben einer roten Zwiebel bilden eine Gruppe

“Ich grün­de jetzt eine Gesprächs­grup­pe!”, sage ich zu Fio­na: “Zusam­men­kom­men, inne­hal­ten und alle Toten betrau­ern, gemein­sa­me Per­spek­ti­ven fin­den.” “Das wird schwie­rig”, meint sie. Wahr­schein­lich hat sie recht. Aber war­um sind auf ein­mal alle im Krieg?
Irgend­wie müs­sen wir doch dar­über reden kön­nen, oder? Natür­lich, ein­fach ist es nicht. Was weiß ich schon dar­über? Habe ich auch alle wesent­li­chen Infor­ma­tio­nen? Mit wel­chen Reak­tio­nen muss ich rech­nen? Ich habe Angst, etwas Fal­sches zu sagen. Aber das Schwei­gen ist so bedrü­ckend, für alle. Wie soll die­ses Blut­ver­gie­ßen jemals enden? 
“So darfst du nicht den­ken”, sagt Lisa. “Du musst dich ent­schei­den, Isra­el oder Hamas. Wer will so eine ter­ro­ris­ti­sche isla­mis­ti­sche Grup­pe unter­stüt­zen? Die wür­den dich auch umbrin­gen, also ist die Sache doch klar!” Hm. Die israe­li­sche Regie­rung möch­te ich auch nicht unter­stüt­zen. Ich habe den Ein­druck, dass Men­schen­le­ben kei­nen gro­ßen Wert für sie haben, weder die paläs­ti­nen­si­schen noch die der Gei­seln.
“Es gibt kei­nen Raum für die schreck­li­chen Ereig­nis­se des 7. Okto­ber”, sagt Lena, “mir fehlt die Empa­thie.” Ich stim­me ihr zu. Es ist trau­rig, wenn dazu geschwie­gen wird. Wie kön­nen wir Soli­da­ri­tät mit jüdi­schen Men­schen zei­gen? In wel­chen Aus­sa­gen und Hal­tun­gen ver­steckt sich Anti­se­mi­tis­mus?
“Ich fin­de es schwie­rig”, sagt Luis, “wenn Soli­da­ri­tät mit Isra­el gleich­ge­setzt wird damit, das Töten und Hun­gern las­sen von Palästinenser*innen gut­zu­hei­ßen.” Das ver­ste­he ich. Ich möch­te Empa­thie für die so hef­tig getrof­fe­ne israe­li­sche Gesell­schaft zei­gen kön­nen ohne dass das als Unter­stüt­zung für die­sen Krieg gewer­tet wird. Empa­thie ja, Krieg nein: Wie kann ich das hin­krie­gen, aus­ein­an­der­hal­ten? Bin ich doch par­tei­isch, obwohl ich für bei­de Sei­ten sein möch­te? 
“Du bist ja nicht betrof­fen”, sagt Lui­se, “sonst wür­dest du anders reden!” “Das kann sein”, gebe ich zu. Viel­leicht hät­te ich auch schlimms­te Rachefan­ta­sien, wenn mei­nen Liebs­ten etwas ange­tan wer­den wür­de. Aber ich wür­de mir, zumin­dest von mei­nem jet­zi­gen Wer­te­sys­tem aus­ge­hend, wün­schen, dass mich dann jemand stoppt, wenn ich mit dem Mes­ser los­zie­he und es mich nach Blut gelüs­tet. Und gera­de von mei­nen Freund*innen wür­de ich mir das wün­schen. Dass sie mich zur Besin­nung brin­gen. Mir nahe­brin­gen, dass mein Schmerz nicht ver­sie­gen wird, wenn noch jemand stirbt. Dass ich dadurch auch nicht siche­rer oder bes­ser leben wer­de, im Gegen­teil. Und dass ich es hin­ter­her bereu­en wer­de, jeman­den umge­bracht zu haben, selbst wenn es straf­los bleibt. 
Das lässt Lui­se nicht gel­ten. “Es geht ja nicht um einen ein­ma­li­gen Angriff! Die Hamas hört ein­fach nicht auf, Rake­ten zu schie­ßen. Die müs­sen gestoppt und auf­ge­löst wer­den.” Ganz offen­sicht­lich funk­tio­niert das mit der jet­zi­gen Stra­te­gie nicht. Also muss eine ande­re Lösung her. 
“Deutsch­land hat eine beson­de­re Ver­ant­wor­tung für Isra­el”, sagt mein Onkel Lars. Ja, auf jeden Fall. Und es hat eine beson­de­re Ver­ant­wor­tung für die Palästinenser*innen.

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Delikatöse Bedrohung

Ameisenköder, der wie ein Gesicht aussieht, mit roten Augen und Mund, auf einem Heizungsgitter

Du dach­test immer, dass es plötz­lich pas­siert: alle Lam­pen gehen gleich­zei­tig aus, weil jemand über Nacht die Macht an sich geris­sen und jetzt das Sagen hat. Will­kür­li­che Ver­bo­te, kei­ne Mei­nungs­frei­heit mehr, Gefäng­nis­se fül­len sich mit Unschul­di­gen. Aber, kein Grund zur Sor­ge oder gar Vor­sor­ge: so etwas pas­siert nur in Län­dern, die vor­her auch schon suspekt waren, und nicht bei uns.
Denn wir haben Deli­ka­tes­se! Das ist nicht nur das bes­se­re, son­dern das bes­te. Deli­ka­tes­se gibt es nur in Euro­pa, oder in Län­dern, die Europäer*innen besie­delt haben. Die Deli­ka­tes­se ist sogar in Euro­pa gebo­ren, des­halb stol­zie­ren wir. Auch wenn schon von Anfang an nicht alle einen Löf­fel in die Hand bekom­men haben, und das bis heu­te so geblie­ben ist, gilt die Deli­ka­tes­se bei den Pri­vi­le­gier­ten als Mus­ter­bei­spiel der Gleich­be­rech­ti­gung und gut gefeit gegen alles Unge­nieß­ba­re. 
Aber was, wenn es nicht so plötz­lich kommt? Wenn die Lam­pen nach und nach aus­ge­hen, und sich etwas ein­schleicht, hier und da, und schon längst nicht mehr schleicht, son­dern stampft? Und du dich fragst, wann und wie ist das denn pas­siert? 
Seit Jah­ren gewöh­nen wir uns dar­an, dass an unse­ren Tel­ler­rän­dern mas­sen­haft Men­schen ster­ben. Denn nicht alle sol­len mit­es­sen. Mit­ten in der Deli­ka­tes­se kei­men neue Delik­te: Men­schen ret­ten kann jetzt bestraft wer­den. Dann näm­lich, wenn es die fal­schen Men­schen sind. Mit­es­ser.
Wer an einem See steht und zusieht, wie jemand ertrinkt, wird ver­ur­teilt wegen unter­las­se­ner Hil­fe­leis­tung. Am Mit­tel­meer ist es umge­kehrt. Bei Men­schen­ret­tung dro­hen 100 Jah­re Haft und mehr. Denn Leu­te, die wir nicht wol­len, haben ihr Recht auf Leben ver­wirkt. Nie­mand soll ver­hin­dern, wenn sie unter­ge­hen. Mit ihnen ver­sin­ken die Wer­te des Abend­lan­des.
100 Mil­li­ar­den für Mili­tär und die Rüs­tungs­in­dus­trie: eine Ent­schei­dung des Kai­sers. Auf­rüs­tung ist wie­der ange­sagt. Bei der medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung wird gespart, weil es auch so irgend­wie funk­tio­niert. Du musst dir eine Krank­heit schon leis­ten kön­nen. Gesund­heit ist das größ­te Gutdünken. 

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