Das Begräbnis des Bäckers

2 Hände bedienen einen Blaseblag, der Stroh in einem Metallbehälter zum Brennen bringt, es raucht stark, über eine blaue Kiste hinweg

“Wer­den Sie hin­ge­hen?”, fragt mich die Nach­ba­rin. Ihre Arm­rei­fen, sie klir­ren lei­se, es klingt eine War­nung. “Ich habe ihn gar nicht

gekannt”, behaup­te ich, und wen­de mich ab vom Schau­fens­ter, in dem nur noch ein blau­es Tuch vol­ler Krü­meln Fal­ten wirft: “Ich esse kein Brot. Bröt­chen backe

ich selbst. Und-” “Ich war hier jeden Sams­tag”, sagt sie. Manch­mal sogar don­ners­tags.” “Also wer­den Sie hin­ge­hen?” “Ich weiß nicht … ob ich geeig­net bin.” “Ich auch nicht”, sage ich schnell. “Es gibt so viele

ande­re.” Ich will mich nicht fest­na­geln las­sen. Wenn das Schild nicht wäre, an der Laden­tür, mit der Ein­la­dung, oder soll ich sagen Auf­for­de­rung, zur Beer­di­gung zu erschei­nen, mit

Gedich­ten

Was für Gedich­te? Zum Vor­le­sen oder als Papier­flug­zeu­ge gefal­tet, die über sei­nem Grab krei­sen, auf den Sarg

tref­fen? Wür­de ich ein Gedicht über den Bäcker schrei­ben, könn­te ich auch alles ande­re nicht weg­las­sen. Der Bäcker war, wie alle … ein Mit­tel­punkt. Ich habe ihn nur weni­ge Male

reden hören, und immer nur im Halb­dun­kel. Aber auf dem Foto habe ich ihn sofort erkannt. “Wenn man wüsste,

wer da sein wird”, sagt die Nach­ba­rin, Frau Nagel, und spreizt ihren Schirm. Wir ste­hen schon eine Wei­le im Regen, unse­re Gesich­ter glän­zen vor Näs­se, man könnte

mei­nen, wir wür­den wei­nen, wegen des Bäckers, oder weil wir jetzt nicht mehr an den Zimt­schne­cken rie­chen kön­nen oder wegen der Stil­le, die herrscht. “Aber hin­ge­hen soll­te man doch”, sagt sie, ängst­lich, und ich weiß nicht, ob sie Angst hat vorm Hin­ge­hen oder vorm Wegbleiben

oder vor bei­dem … Sie ist im all­ge­mei­nen nicht furcht­sam. Neu­lich, in der Eiche, ist sie ohne zu zögern ganz nach oben. “Wie geht es Ihrer Kat­ze?”, fra­ge ich. Als sie zu dem Ast kam, auf dem die Kat­ze hock­te und klag­te, sprang die­se plötz­lich mit einem Satz ins Freie und

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Korinna

Korinna mit roten Haaren

Mei­ne Adop­tiv­tan­te*, Korin­na Rahls Fri­si­us, Schau­spie­le­rin, Sän­ge­rin und ältes­te Diri­gen­tin** Deutsch­lands, ist im Janu­ar mit 91 Jah­ren gestorben

* beid­sei­ti­ge Adop­ti­on nach Para­graph 33 % Simu­la­tio ben trovato

** sie­he den Film “Diri­gen­tin” von Anne Fri­si­us, https://​coope​ra​ti​va​-film​.de/​p​e​r​s​o​e​n​l​i​c​h​e​s​-​q​u​e​e​r​e​s​-​u​n​d​-​f​i​l​m​p​o​e​s​ie/

Ein roter Haar­schopf wie ein wil­des Pferd, und von Flau­sen zer­zaust leuch­te­ten die flie­gen­den Tep­pi­che dei­ner täg­li­chen Gedich­te, samt und son­ders unbot­mä­ßig. Vol­ler Neu­gier auf das, was hin­ter den Kon­ven­tio­nen wohnt, warst du viel­be­wun­dert, wenn auch oft nur heim­lich, für dei­ne herz­lich unbe­küm­mer­ten Tabubrüche.

Kunst war dir so selbst­ver­ständ­lich wie Was­ser, und im Güter­ver­kehr des Thea­ter- und Film­be­triebs gerietst du nicht von unge­fähr aufs Abstell­gleis. Oft genug wur­de dir das Ram­pen­licht aus­ge­dreht und im Dun­keln muss­test du dei­ne Krei­se dre­hen, und dei­nen eige­nen Aus­gang fin­den, ein unbe­irr­tes Weiterstreben.

Dei­ne Reden, stets dane­ben, bis sie den Punkt tra­fen. Du hast im All­tag das All gese­hen, und die Alche­mie genutzt; dei­ne Voka­beln waren immer über­ra­schend ver­ka­belt. Du kamst vom Hun­derts­ten zum Unter­gang des Über­blicks, als Seg­le­rin, die nie hielt, was der Fahr­plan ver­sprach, er ver­sprach sich eben, und das Spre­chen war dir ein Ster­nen­him­mel, es blink­te hier und dort und über­all fan­dest du ein Wort und einen Reim dar­auf über­ra­schend wie Urknall-Elektronenschwärme.

Und mit 60? Diri­gen­tin! Du hast Karls­ru­he nicht in Ruhe gelas­sen, son­dern 27 Jah­re lang mit dei­nem Orches­ter belebt. Wie­der warst du bla­ma­bel, eine Bla­ma­ge für alle, die wuss­ten, dass sich so etwas nicht gehört, aber dei­ne Auf­trit­te haben alle in den Schat­ten gestellt.

Korinna dirigiert das Neue Karlsruher Orchester, Auftritt 2019

Du bist nie auf dem Tep­pich geblie­ben. Bis zuletzt hast du gesun­gen und gedich­tet, und das Wie­sel durch den Lat­ten­zaun schlüp­fen las­sen. Du hast dich nicht abhal­ten las­sen, und wei­ter diri­giert nach dei­nem Gehör fürs Uner­hör­te, und bleibst mir dar­in die nächs­te Verwandte.

Pho­to­nach­weis Jase­min Alt, Anne Frisius

Wohnungsbesichtigung

Glitzernder Hirsch sitzt auf einem alten Herd, im Hintergrund Vorhänge aus den 70ern

Es ist wenig zu sehen, weil die Woh­nung vol­ler Men­schen ist. Nur im Bade­zim­mer ist nie­mand, da geh ich schnell rein und schlie­ße ab. Ich set­ze mich auf den Klo­de­ckel und befüh­le mein Gesicht. Alles noch da. Es tut gut, die war­men Hän­de auf den Wan­gen zu spü­ren. Und ja, das Bade­zim­mer sieht ganz gemüt­lich aus. Ich glau­be, die übri­ge Woh­nung ist es auch. Aber ich habe kei­ne Chan­ce, bei all die­sen ent­schlos­sen lächeln­den Leu­ten, die die Mak­le­rin umschwär­men und mit ihrer Nor­ma­li­tät punk­ten.
“Ver­su­chen Sie es doch wenigs­tens”, hat mir mei­ne The­ra­peu­tin gera­ten. “Sei­en Sie mutig!” Sie hat eine sehr schö­ne Woh­nung. Zumin­dest das, was ich davon ken­ne, gefällt mir gut. Ich bin aber nicht mutig genug, zu fra­gen, ob sie mir ein Zim­mer ver­mie­tet.
Jemand rüt­telt an der Bade­zim­mer­tür. “Besetzt”, rufe ich gequält. Ich ste­he auf und betrach­te mich im Spie­gel. Zer­zaus­te Haa­re, das Rot des Pull­overs passt nicht so ganz zum Grün der Jacke. Ich streich­le mir eine Fri­sur und schlie­ße den Reiß­ver­schluss, sodass der Pull­over nicht mehr zu sehen ist. Man muss das Bes­te aus sich machen.
Vor­sich­tig schlei­che ich aus dem Bad. Nie­mand beach­tet mich. Alle sind damit beschäf­tigt, sich selbst gut dar­zu­stel­len. Sie bewun­dern laut­stark die Woh­nung, sehen ele­gant aus, erfolg­reich und zah­lungs­kräf­tig. Nur damit ich in der The­ra­pie etwas erzäh­len kann, dräng­le ich mich zur Mak­le­rin durch und bit­te sie um den Bewer­bungs­bo­gen. Sie reicht ihn mir, ohne mich anzu­se­hen.
Ich ver­ab­schie­de mich von der Woh­nung. Wäre schön gewe­sen. Als ich gera­de gehen will, kommt noch jemand zur Tür her­ein. Zwei Köp­fe klei­ner als ich, leuch­tend wei­ße Haa­re, ein Man­tel, der schon vie­le Tage gese­hen hat. Spon­tan drü­cke ich ihr den Bogen in die Hand: “Hier, neh­men Sie, dann brau­chen Sie sich nicht dort anzu­stel­len.” Ich deu­te mit dem Kinn auf den Pulk, der sich um die Mak­le­rin her­um ver­sam­melt hat.
“Gefällt dir die Woh­nung nicht?” “Doch, sehr, aber — ich habe kei­ne Chan­ce.” “War­um nicht?” Ich zucke mit den Ach­seln. “Ich glau­be nicht, dass mir irgend­je­mand eine Woh­nung ver­mie­tet. Ich mei­ne, ich müss­te etwas dafür tun, und ich will ja auch, aber, ich weiß nicht was. Ich habe zwar einen guten Ein­druck von mir, im All­ge­mei­nen. Aber, wenn ich einen guten Ein­druck hin­ter­las­sen möch­te — das geht dann immer schief.“
Ich bin ein biss­chen erschro­cken dar­über, dass ich mit jemand Unbe­kann­tes so viel gere­det habe. “Auf Wie­der­se­hen und viel Glück”, sage ich schnell und will an der Frau vor­bei gehen, als sie mich am Arm packt, mit einer Kraft, die ich ihr nicht zuge­traut hät­te. “Wart mal!” Und dann ertönt ein scheuß­lich lau­tes Geräusch. Es dau­ert einen Moment, bis ich erken­ne, dass die alte Frau es ver­ur­sacht hat, mit einer Art Hupe. Alle star­ren uns an. Jetzt habe ich es mir end­gül­tig ver­scherzt. Und die Frau auch. “So bekommt sie nie eine Woh­nung”, den­ke ich.
Gera­de, als sich alle wie­der abge­wen­det haben von uns Unge­sit­te­ten, hupt die Frau noch ein­mal. “Mei­ne Stim­me ist nicht mehr so kräf­tig”, erklärt sie mir. Jetzt löst sich die Mak­le­rin aus der Men­ge: “Was ist denn da los? — Ach, Frau Hirsch! Ich dach­te, Sie sei­en …” “Nicht zurech­nungs­fä­hig, was?” “Nein, nein, krank …” “Offen­sicht­lich nicht. Schi­cken Sie alle Leu­te nach Hau­se.” “Aber die Woh­nung …” “Ich hab schon jeman­den.” Sie deu­tet auf mich. Wie­der star­ren mich alle an. Feindselig.

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