Es ist wenig zu sehen, weil die Wohnung voller Menschen ist. Nur im Badezimmer ist niemand, da geh ich schnell rein und schließe ab. Ich setze mich auf den Klodeckel und befühle mein Gesicht. Alles noch da. Es tut gut, die warmen Hände auf den Wangen zu spüren. Und ja, das Badezimmer sieht ganz gemütlich aus. Ich glaube, die übrige Wohnung ist es auch. Aber ich habe keine Chance, bei all diesen entschlossen lächelnden Leuten, die die Maklerin umschwärmen und mit ihrer Normalität punkten.
“Versuchen Sie es doch wenigstens”, hat mir meine Therapeutin geraten. “Seien Sie mutig!” Sie hat eine sehr schöne Wohnung. Zumindest das, was ich davon kenne, gefällt mir gut. Ich bin aber nicht mutig genug, zu fragen, ob sie mir ein Zimmer vermietet.
Jemand rüttelt an der Badezimmertür. “Besetzt”, rufe ich gequält. Ich stehe auf und betrachte mich im Spiegel. Zerzauste Haare, das Rot des Pullovers passt nicht so ganz zum Grün der Jacke. Ich streichle mir eine Frisur und schließe den Reißverschluss, sodass der Pullover nicht mehr zu sehen ist. Man muss das Beste aus sich machen.
Vorsichtig schleiche ich aus dem Bad. Niemand beachtet mich. Alle sind damit beschäftigt, sich selbst gut darzustellen. Sie bewundern lautstark die Wohnung, sehen elegant aus, erfolgreich und zahlungskräftig. Nur damit ich in der Therapie etwas erzählen kann, drängle ich mich zur Maklerin durch und bitte sie um den Bewerbungsbogen. Sie reicht ihn mir, ohne mich anzusehen.
Ich verabschiede mich von der Wohnung. Wäre schön gewesen. Als ich gerade gehen will, kommt noch jemand zur Tür herein. Zwei Köpfe kleiner als ich, leuchtend weiße Haare, ein Mantel, der schon viele Tage gesehen hat. Spontan drücke ich ihr den Bogen in die Hand: “Hier, nehmen Sie, dann brauchen Sie sich nicht dort anzustellen.” Ich deute mit dem Kinn auf den Pulk, der sich um die Maklerin herum versammelt hat.
“Gefällt dir die Wohnung nicht?” “Doch, sehr, aber — ich habe keine Chance.” “Warum nicht?” Ich zucke mit den Achseln. “Ich glaube nicht, dass mir irgendjemand eine Wohnung vermietet. Ich meine, ich müsste etwas dafür tun, und ich will ja auch, aber, ich weiß nicht was. Ich habe zwar einen guten Eindruck von mir, im Allgemeinen. Aber, wenn ich einen guten Eindruck hinterlassen möchte — das geht dann immer schief.“
Ich bin ein bisschen erschrocken darüber, dass ich mit jemand Unbekanntes so viel geredet habe. “Auf Wiedersehen und viel Glück”, sage ich schnell und will an der Frau vorbei gehen, als sie mich am Arm packt, mit einer Kraft, die ich ihr nicht zugetraut hätte. “Wart mal!” Und dann ertönt ein scheußlich lautes Geräusch. Es dauert einen Moment, bis ich erkenne, dass die alte Frau es verursacht hat, mit einer Art Hupe. Alle starren uns an. Jetzt habe ich es mir endgültig verscherzt. Und die Frau auch. “So bekommt sie nie eine Wohnung”, denke ich.
Gerade, als sich alle wieder abgewendet haben von uns Ungesitteten, hupt die Frau noch einmal. “Meine Stimme ist nicht mehr so kräftig”, erklärt sie mir. Jetzt löst sich die Maklerin aus der Menge: “Was ist denn da los? — Ach, Frau Hirsch! Ich dachte, Sie seien …” “Nicht zurechnungsfähig, was?” “Nein, nein, krank …” “Offensichtlich nicht. Schicken Sie alle Leute nach Hause.” “Aber die Wohnung …” “Ich hab schon jemanden.” Sie deutet auf mich. Wieder starren mich alle an. Feindselig.
“Frau Hirsch, meinen Sie nicht, Sie sollten erst mit Ihrer Tochter …” “Sie sollten mit meiner Tochter! Die hat sie schließlich engagiert. Von mir bekommen Sie keinen Groschen. Und jetzt raus hier, alle! Die Wohnung ist vergeben!” Die Leute verziehen sich ziemlich schnell, allen voran die Maklerin, sie spricht beim Rausgehen aufgeregt in ihr Handy. “So”, sagt Frau Hirsch, als wir alleine sind, “und du sagst jetzt gefälligst du zu mir!“
Ich habe ein wenig Angst vor ihr, aber sie plaudert ganz freundlich mit mir. Etwas benommen gehe ich mit ihr mit. Für den Vertrag muss ich in ihre Wohnung kommen, drei Straßen weiter, wo sie lange in ihren Schubladen kramt, bis sie vier vergilbte Seiten zutage fördert. Es ist ein Mietvertrag, der auf einer Schreibmaschine getippt wurde und der schon auf jemand anderen ausgestellt ist, den sie jetzt mit Lineal und Füllfeder und Bedauern ausstreicht. “Der Peter, so ein netter Kauz, schade, dass er gestorben ist. Hier”, sie zeigt mir die eingetragenen Quadratmeter, Kellernutzungsrecht und Müllgebühren. Und eine erfreulich niedrige Miete.
“Die schreiben wir auf zehn Jahre fest”, meint sie. “In meinem Alter kann man schließlich jeden Tag sterben.” “In jedem Alter eigentlich”, sage ich. Sie schaut mich freundlich an. “Du bist auch so ein Kauz”, stellt sie fest, und ich widerspreche ihr nicht. “So viel Glück”, sage ich, “habe ich heute nicht erwartet. Ich hoffe, dass du keinen Ärger mit deiner Tochter bekommst.” “Garantiert bekomm ich Ärger mit ihr! Sie hat die Wohnung auf mich überschrieben, um Geld zu sparen. War sauer, als ich ihr den Peter reingesetzt hab, mit so einer niedrigen Miete. Und jetzt, wo der Peter nicht mehr ist und ich so krank war, wollte sie es schnell in ihre Wege leiten. Und wahrscheinlich richtig abzocken. Gut, dass ich dich getroffen habe!“
Wir grinsen uns an. Sie blättert durch den Mietvertrag, lässt alles so stehen, wie es vor etlichen Jahren aufgeschrieben wurde. Aber als sie zur vierten Seite kommt, verändert sich ihre Miene. “Ach so, das hab ich dir noch nicht gesagt. In der Wohnung wohnt noch jemand.” In meiner Kehle wird es eng. Jede Sache hat einen Haken. “Also, nicht was du denkst. Es ist ein Hund. Mein Hund. Er hat bei Peter gewohnt, seit ich im Altersheim bin. Im Moment ist er bei meiner Schwester, aber sie schafft das nicht … ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn er bei dir wohnt?”
“Ein Hund?” Ich bemühe mich um einen neutralen Tonfall, es gelingt mir aber nicht so ganz. “Er ist schon ziemlich alt, lange macht er es nicht mehr. Er braucht auch fast nichts, einmal am Tag ne kleine Runde um die Häuser, sein Futter stelle ich dir vor die Tür. Du bist doch hoffentlich nicht allergisch gegen Hundehaare?” “Nein”, sage ich und bereue es sogleich. Das wäre die Lösung gewesen! “Ja dann” … sie lächelt mich an.
Ich räuspere mich. “Ich habe noch nie mit einem Hund …” “Dann ist das genau der richtige Einstieg. Moses ist so lieb zu allen!” Moses. Ich darf nicht lange um den heißen Brei herum reden. “Nein”, sage ich. “Ich möchte nicht mit deinem Hund zusammen wohnen. Es tut mir Leid, aber wenn das die Bedingung ist, kann ich die Wohnung nicht annehmen.” Ich stehe auf.
Sie klatscht in die Hände. “Bravo! Du bist genau die Richtige! Lass dir bloß nichts gefallen. Hier, setz dich hin und unterschreib!” “Und der Hund?”, will ich wissen. “Ich hatte noch nie einen Hund. Was soll so ein Vieh in der Wohnung? Außerdem stinken die.” Ich bin ein bisschen beleidigt, dass sie mich reingelegt hat. “Und im Altersheim wohnst du auch nicht?” “Nie im Leben!” “Okay.“
Ich setze mich, nehme die Füllfeder. Lasse sie wieder sinken. Ich bin noch gekränkt. Muss irgendwie darüber hinweg kommen. “Ich muss dir auch noch etwas gestehen”, sage ich. “Nur zu!” Sie grinst. “Ich zahle die Miete immer in Gedichten.” An ihrem Gesicht sehe ich, dass ich sie überrascht habe. So, jetzt sind wir quitt. Ich will es wieder zurück nehmen, da meint sie: “Okay. Zwei pro Woche. Aber Nebenkosten und Müllgebühren in Cash.” “Wirklich? Es war nur ein Scherz.” “Nein, jetzt ist es abgemacht. Geld hab ich genug zum Leben. Aber Gedichte, die für mich geschrieben wurden, nicht so viele.” “Äh, ja, okay, es gibt nur ein Problem…” “Und zwar?” “Ich habe noch nie ein Gedicht geschrieben.” “Ha!” Sie lacht und schlägt sich mit der Hand auf den Oberschenkel. “Du bist eine wundervolle Schwindlerin.” Sie schaut mich an, mit ihren leuchtend blauen Augen: “Also, dann fängst du morgen damit an!”