Heute hätte ich beinahe geheiratet

Tür auf dem ein großer brauner Fleck wie ein Tier sitzt

Die Schu­he hat­te ich schon an, die Jacke auch, aber als ich zu mei­nen Hand­schu­hen griff, die auf der Kom­mo­de lagen, fiel mir auf, dass der Kalen­der schief hing.

Der Kalen­der war eigent­lich kei­ner, jeden­falls nicht in dem Sin­ne, dass er der zeit­li­chen Ori­en­tie­rung dien­te. Er hing schon da, als ich ein­zog, und zeig­te den Juni eines mir unbe­kann­ten Jah­res und ein Pick­nick an einem Was­ser­fall. Die Men­schen saßen und lagen, aßen, unter­hiel­ten und küss­ten sich, hin­ter einem Vor­hang aus Gischt, den der Was­ser­fall ver­sprüh­te, sodass sie nur sche­men­haft zu erken­nen waren und nicht den übli­chen Kate­go­rien zuge­ord­net wer­den konn­ten. Quer über dem Bild stand: “Was wür­de Judith But­ler dazu sagen?”

Auf der ande­ren Sei­te des Was­ser­falls stand stramm der Nadel­wald, aus dem eine dicke Wur­zel her­aus rag­te, die auch die Schnau­ze eines schla­fen­den Tie­res sein hät­te kön­nen. “Den Kalen­der lässt du bes­ser hän­gen”, sag­te die Vor­mie­te­rin zu mir, “er hat genau die rich­ti­ge Grö­ße.” Sie hob ihn kurz hoch und zeig­te mir den gro­ßen rot­brau­nen Fleck an der Wand. “Lässt sich nicht abwa­schen”, behaup­te­te sie, und ich habe es nicht über­prüft, weil mir der Fleck unheim­lich war und ich an Blut den­ken muss­te. Ein Blut­fleck in die­ser Höhe, dazu fiel mir nur ein Kopf­schuss oder etwas ähn­lich Schreck­li­ches ein, und weil das sehr unwahr­schein­lich war, beschloss ich, ihn zu ver­ges­sen. Das Bild gefiel mir, es pass­te gut in mei­ne Woh­nung. Die ande­ren Mona­te habe ich mir nicht ange­se­hen, über­haupt habe ich die­sen Kalen­der noch nie berührt.

Und jetzt hing er schief. Wahr­schein­lich war ich ges­tern beim Staub­saugen dar­an gesto­ßen, ohne es zu bemer­ken. Ich woll­te beson­ders gründ­lich sein, und hat­te auch die Ecken gesaugt, die ich sonst ver­nach­läs­sig­te, in Anbe­tracht der Hoch­zeits­gäs­te, die mich heu­te womög­lich besu­chen kom­men wür­den, genau wuss­te ich das nicht. Ich hat­te noch nie zuvor gehei­ra­tet und war nervös.

Ich war auch spät dran und womög­lich befan­den sich auf mei­nem Han­dy bereits meh­re­re Nach­rich­ten, die sich nach mei­nem Ver­bleib erkun­dig­ten, oder dar­an erin­ner­ten, was ich mit­brin­gen soll­te, aber wenn ich jetzt zu lesen anfing, wür­de es noch spä­ter wer­den, also ließ ich mein Han­dy laut­los in der Tasche.

‘Ich habe alles’, mur­mel­te ich beru­hi­gend auf mich ein, ‘und alles in der Woh­nung ist in Ord­nung.’ Bis auf den Kalen­der eben. Ich zöger­te, ihn anzu­fas­sen. Denn natür­lich hat­te ich den Blut­fleck, ent­ge­gen mei­nem Vor­ha­ben, nicht ver­ges­sen, in den drei Jah­ren, die ich in die­ser Woh­nung wohn­te; viel­mehr hat­te ich die gan­ze Zeit dar­an gedacht, aber immer so getan, als wür­de es kei­ne Rol­le spie­len, dass es in mei­ner Woh­nung einen Fleck unbe­kann­ter Her­kunft gab, der sich nicht ent­fer­nen ließ.

Wahr­schein­lich war es gar kein Blut­fleck. Und selbst, wenn es einer war, bedeu­te­te es nicht, dass die Vor­mie­te­rin jeman­den umge­bracht hat­te. Und der Ver­mie­ter schon gar nicht. Er war schon vor drei Jah­ren so schlecht zu Fuß gewe­sen, dass er die Trep­pen in den drit­ten Stock nicht mehr schaff­te und mein­te, die Über­ga­be der Woh­nung müss­ten wir unter uns regeln.

Bei mei­nem Besuch bei ihm hat­te er nicht nur den Miet­ver­trag auf den Ess­tisch mit der vio­lett­ge­blüm­ten Plas­tik­de­cke gelegt, son­dern auch ein Blatt, auf dem ich unter­schrei­ben soll­te, dass sich die Woh­nung in einem tadel­lo­sen Zustand befand. Als er mein Zögern bemerk­te, beru­hig­te er mich: “Machen Sie sich kei­ne Sor­gen des­we­gen. Sie ist fest ver­schlos­sen, und nur mei­ne Tan­te hat noch einen Schlüs­sel dafür.” “Äh, wovon spre­chen Sie?” “Von der Tür mit­ten in der Woh­nung. Ich dach­te, das ist es, was Sie beun­ru­higt.” “Ich habe kei­ne Tür gese­hen.” “Dann wur­de sie wahr­schein­lich schon zuge­mau­ert. Mei­ne Tan­te müss­te es wis­sen, ich gebe Ihnen ihre Tele­fon­num­mer…” Er blät­ter­te in einem zer­fled­der­ten Adress­buch und schrieb mir die Num­mer seit­lich an den Mietvertrag.

Ich habe aber nie ange­ru­fen. Eine Tür hat­te ich nicht gefun­den, und für den Fleck war die Tan­te ja nicht zustän­dig. Ich konn­te ein­fach Tape­te dar­über kle­ben, fiel mir jetzt ein. War­um war ich da nicht schon frü­her drauf gekom­men? Ich gab dem schie­fen Kalen­der einen klei­nen Stubs, um ihn zurecht zu rücken, und tat das mit mehr Schwung, als ich vor­ge­habt hat­te, wodurch ich den Nagel, der den Kalen­der hielt, aus der Fas­sung brach­te. Er kipp­te, der Kalen­der sack­te ab, glitt die Wand ent­lang und stürz­te kopf­über zu Boden.

Und da war kein Fleck mehr. An sei­ner Stel­le klaff­te ein gro­ßes Loch. So, als ob sich die rot­brau­ne Sub­stanz durch die Mau­er gefres­sen hät­te. Und das muss­te ich aus­ge­rech­net heu­te bemer­ken, am Tag mei­ner Hoch­zeit, von der so viel abhing.

Mit zitt­ri­gen Hän­den hob ich den Nagel auf und steck­te ihn an sei­nen Platz zurück, damit er den Kalen­der wie­der trug, der das Loch ver­de­cken soll­te, zumin­dest eine Zeit­lang, zumin­dest heu­te, so lan­ge, bis alles vor­bei war. Aber der Nagel wackel­te. Ich hol­te den Ham­mer und ver­such­te es an einer ande­ren Stel­le. Schon beim ers­ten Schlag lös­te sich Mau­er­werk und fiel ins Loch hin­ein; es hall­te, als die Stei­ne aufschlagen.

Die Öff­nung war jetzt groß genug, dass ich mei­nen Kopf hin­ein ste­cken konn­te. Aber es war nichts zu sehen, nur Dun­kel. Es war nur ein Loch, sonst nichts. Schlech­te Bau­sub­stanz. Pro­be­hal­ber klopf­te ich gegen die Wand, sie brö­ckel­te, Zie­gel fie­len, es pol­ter­te. Dann lös­te sich noch mehr, ich sprang zurück, hielt mir den Arm vors Gesicht, um mich vor der Staub­wol­ke zu schützen.

Als ich die Augen wie­der öff­ne­te, war da ein Ein­gang, eine Metall­trep­pe führ­te in die Tie­fe. Ich muss­te doch zu mei­ner Hoch­zeit! Jetzt war ich sicher schon sehr zu spät, und womög­lich konn­te die Zere­mo­nie nicht län­ger auf­ge­scho­ben wer­den und wur­de ohne mich durch­ge­führt, und ich muss­te spä­ter ganz allei­ne hei­ra­ten, im Neben­zim­mer und ohne Gäs­te, aber viel­leicht war das sogar ange­neh­mer als in aller Öffentlichkeit.

Auf jeden Fall konn­te ich jetzt nicht weg und mei­ne Woh­nung in die­sem Zustand zurück las­sen. Ich muss­te die Gesteins­bro­cken weg­räu­men, und vor der Öff­nung ein Tuch anbrin­gen und dann die Kom­mo­de davor schie­ben, sodass nie­mand von mei­nen even­tu­el­len Hoch­zeits­gäs­ten aus Ver­se­hen in das Loch fal­len konn­te. Staub­saugen muss­te ich auch noch ein­mal, mei­ne gest­ri­gen Bemü­hun­gen waren umsonst gewesen.

Ich starr­te die Trep­pe an, die so gar nicht in mei­nen Tages­ab­lauf pass­te. Wo führ­te sie hin? War­um hat­te jemand den Ein­gang so nach­läs­sig zuge­mau­ert, dass er unter einem Ham­mer­schlag zusam­men­brach? War es aus Gleich­gül­tig­keit pas­siert oder mit der Absicht, die­se Öff­nung bald wie­der frei­zu­le­gen? Soll­te jemand die­se Trep­pe ent­de­cken und hinuntersteigen?

Ich such­te den Miet­ver­trag. Im Bücher­re­gal fand ich den Ord­ner “Doku­men­te und Gedich­te”. Die Gedich­te hat­te ich ein­ge­fügt, weil mir ein Ord­ner nur mit Doku­men­ten ster­bens­lang­wei­lig vor­ge­kom­men wäre. Pas­send zu die­sem Wort fand ich unter “M” ein durch Büro­klam­mern zusam­men­ge­hal­te­nes Bün­del an Papie­ren, des­sen Deck­blatt mit “Mein Todes­fall” über­schrie­ben war. Ich konn­te mich nur noch vage dar­an erin­nern, etwas dazu auf­ge­schrie­ben zu haben, und obwohl ich dach­te, dass ich es nicht tun soll­te, zog ich die Büro­klam­mern ab, blät­ter­te um und begann zu lesen.

Auf dem ers­ten Blatt stand eine Gäs­te­lis­te für mei­ne Trau­er­fei­er, und als ich die Namen über­flog, stell­te ich fest, dass die­se Lis­te iden­tisch war mit der Gäs­te­lis­te für mei­ne Hoch­zeit, und ich muss­te an all die Men­schen den­ken, die jetzt auf dem Stan­des­amt auf mich war­te­ten und mich sicher ger­ne noch vor mei­ner Beer­di­gung gese­hen hät­ten, und ich hät­te sie auch ger­ne gese­hen, aber statt­des­sen saß ich hier auf dem Boden vor mei­nem Bücher­re­gal und such­te nach der Tele­fon­num­mer der Tan­te mei­nes Ver­mie­ters, die schon ziem­lich alt sein muss­te und viel­leicht gar nicht mehr lebte.

Es ist schon eini­ges schief gelau­fen in mei­nem Leben und nun hat­te ich wahr­schein­lich auch mei­ne Hoch­zeit ver­mas­selt, obwohl ich mir vor­ge­nom­men hat­te, dies­mal alles rich­tig zu machen. Aber was war das Rich­ti­ge. Es hat­te kei­ne ein­deu­ti­ge ein­fa­che Form, wie es manch­mal dar­ge­stellt wur­de, son­dern war ein kom­pli­zier­tes kom­ple­xes Kon­glo­me­rat aus Mei­nun­gen Vor­schrif­ten Eigen­sinn Empa­thie Gege­ben­hei­ten und unter­schied­li­chen Infor­ma­tio­nen. Und letzt­end­lich war es nur dann das Rich­ti­ge, wenn ich ein gutes Gefühl dabei hat­te, das aus einer bestän­di­gen Quel­le kam und so trag­fä­hig war, dass es dem stän­di­gen Hin­ter­fra­gen stand­hal­ten konnte.

Die­se Quel­le war es, die ich such­te und nähr­te, wenn ich ins Lee­re starr­te, summ­te, oder in Büchern an Sät­zen hän­gen blieb und sie hin und her wen­de­te, anpro­bier­te wie Klei­dungs­stü­cke, um zu spü­ren, ob sie mir passten.

Jetzt hat­te ich den Miet­ver­trag gefun­den und da stand die Tele­fon­num­mer, ich schnitt sie aus und steck­te sie in die Tasche mei­ner Hose, die ich ange­zo­gen hat­te, weil das Braut­kleid aus dem Kos­tüm­ver­leih heu­te mor­gen noch nicht tro­cken gewe­sen war und ich die Käl­te mehr fürch­te­te als miss­bil­li­gen­de oder viel­leicht auch nur neu­gie­ri­ge Bli­cke, weil ich mich nicht an die Abspra­chen gehal­ten hatte.

Ich hat­te das Braut­kleid im Kel­ler auf der Lei­ne hän­gen las­sen und dort wür­de es viel­leicht gestoh­len wer­den, es woll­ten ja vie­le hei­ra­ten, heut­zu­ta­ge, aus Sicher­heit. Es gab nicht mehr vie­le, die noch unver­hei­ra­tet waren, und ich hat­te Glück gehabt, jeman­den zu fin­den; ich soll­te froh dar­über sein und das nicht aufs Spiel set­zen, nur wegen einem Loch in mei­ner Woh­nung, das sich plötz­lich auf­ge­tan hat­te, und das mich bestürz­te und ver­un­si­cher­te und neu­gie­rig machte.

War es ein Flucht­weg? Ein ande­rer Weg in den Kel­ler? Oder ein Weg in einen ande­ren Kel­ler? Einen, der tie­fer lag als der, in dem wir Wäsche wuschen und trock­ne­ten und Din­ge lager­ten, die nicht so nütz­lich waren, wie sie hät­ten sein soll­ten, und wo mein Braut­kleid, das der Tar­nung die­nen soll­te, an der Lei­ne hing oder schon in jemand ande­res Besitz über­ge­gan­gen war, auf die übli­che Art, mit der das pas­sier­te. Das, was man eben noch gehabt hat­te, war im nächs­ten Moment nicht mehr da.

Dafür tauch­ten ande­re Din­ge auf, wie die­se Trep­pe, die viel­leicht an einen Ort führ­te, an dem Din­ge pas­sier­ten, von denen ich nichts wuss­te oder viel­leicht doch etwas wuss­te, aber nichts wis­sen woll­te, die aber, wie der Blut­fleck, trotz­dem da waren und die gan­ze Zeit mein Leben mit bestimmten.

Und ich stell­te mir wie­der ein­mal die Fra­ge, die jetzt am Boden lag, die mich aber drei Jah­re lang her­aus­ge­for­dert hat­te, denn obwohl ich den Kalen­der nie berührt hat­te, hat­te er mich berührt, mit dem Bild, und mit der Fra­ge: “Was wür­de Judith But­ler dazu sagen?”

Ich hat­te eini­ge Ver­su­che unter­nom­men, Judith But­ler ken­nen­zu­ler­nen, und eine Ant­wort auf die­se Fra­ge zu geben, wür­de jedoch nicht behaup­ten, dass mir das gelun­gen ist. Ich habe aber ger­ne in ihren Tex­ten gele­sen und ihre Sät­ze und Wen­dun­gen anpro­biert, und vie­lem stimm­te ich zu.

Ihr Kon­zept der Betrau­er­bar­keit. Wäh­rend ich davon aus­ging, dass es eine Trau­er­fei­er für mich geben wür­de, war es eben­so selbst­ver­ständ­lich, dass ande­re kei­ne beka­men, weil ihr Tod nicht der Rede wert war. Wir trau­er­ten nicht um sie, wenn sie ertran­ken, ver­durs­te­ten, durch Bom­ben star­ben. Wenn sie ermor­det wur­den, auf die eine oder ande­re Art, wur­de nie­mand dafür zur Ver­ant­wor­tung gezo­gen. Ihre Erfah­run­gen wur­den als so weit weg von uns dar­ge­stellt, dass unse­re Empa­thie nicht zu ihnen reich­te, ja, dass es anschei­nend gar kei­nen Rah­men dafür gab, kei­ne Mög­lich­keit, uns in ihnen zu spiegeln.

Und obwohl sie so weit weg zu sein schie­nen, wur­de doch unser gan­zes Leben durch sie bestimmt. Wir alle rich­te­ten uns an der unter­schied­li­chen Bewer­tung von Men­schen aus, und hat­ten Angst davor, an Wert zu ver­lie­ren, auf die Sei­te der nicht oder weni­ger Betrau­er­ba­ren zu rut­schen und abzustürzen.

Auch Judith But­ler durf­te nicht unge­straft phi­lo­so­phie­ren. Weil sie Gewalt nicht nur ver­ur­teil­te, son­dern sie auch in einen geschicht­li­chen Zusam­men­hang stell­te, stand sie schon auf der ande­ren Seite.

Und ich stand vor die­ser Trep­pe. Sie war ver­ros­tet. Es war nicht sicher, ob sie mich tra­gen wür­de. Ich wuss­te nur, jetzt, wo sie da war, wo ich auf sie gesto­ßen war, und die Mög­lich­keit hat­te, hin­un­ter­zu­stei­gen und nach­zu­se­hen, was da unten pas­sier­te, war es zum Hei­ra­ten end­gül­tig zu spät geworden.