Für Daniela und Fara
Auf der Straße kommt mir ein Pferd entgegen. Allein. Ohne Sattel. Ein nacktes Pferd. Es bleibt stehen und hält seine Schnauze an den Flieder, schnuppert an den lila Blüten, schnaubt und geht weiter. Es ist Mai und warm, ein ruhiger Nachmittag, niemand ist auf der Straße, nur die Hufe klappern auf dem Asphalt, der Pferdeschwanz schlägt, die Fliegen, die mal reiten wollten, werden links und rechts verjagt und taumeln in der Luft herum.
Ich denke an die Frau meines Lebens, und dass heute der richtige Tag wäre, um sie kennen zu lernen. So ein sonniger Frühlingstag, an dem die Bienen goldene Hosen aus Blütenstaub tragen und die Maulwürfe nach dem nächtlichen Regen in der warmen Erde gut voran kommen. Das Pferd ist vielleicht ein Zeichen. So ein Glückspferd sollte ich nicht aus den Augen lassen. Ich wende mein Fahrrad und folge ihm.
An der Kreuzung biegt es ohne zu zögern links ab. Es sieht aus, als wüsste es genau, wohin es geht, und das ist auf jeden Fall mehr, als ich an den meisten Tagen von mir sagen könnte. Wir sind jetzt in einer Sackgasse, aber am Ende der Straße gibt es einen schmalen Pfad, der zu den Kleingärten führt. Das Pferd findet ihn auch gleich. Es trabt vor mir her und ich folge ihm in gebührendem Abstand.
Als der Weg breiter wird, traue ich mich und fahre neben das Pferd. Es schaut nur kurz zu mir herüber und geht weiter. Wir sind so ruhig zusammen unterwegs, als wären wir eine Reisegruppe. Zu beiden Seiten Parzellen voller Tulpen und blühender Obstbäume, an manchen Sträuchern hängen noch Ostereier. Eine Frau kommt uns entgegen, sie schaut das Pferd an und dann zu mir. Ich nicke ihr zu, stolz, ja, das Pferd und ich gehören zusammen.
Ein Gartentor steht offen, das Pferd biegt ein. ‘Wohnt es hier?’, denke ich enttäuscht. Aber es ist ein verlassener Garten: meterhohe Brombeeren, ein Schuppen mag sein Dach nicht mehr tragen, das Gras geht mir bis zum Knie. Ich lehne mein Fahrrad an das Regenfass, in dem sich tausende Mückenlarven tummeln, und setze mich in die Wiese, zu den Gänseblümchen.
Das Pferd grast. Es ist braun, ein angenehmes Braun, es hat eine wilde Mähne und eine achtsame breite Nase, die übers Gras streicht und wittert, bevor es frisst. Dann hebt es den Kopf, kaut, schaut mich neugierig an, schnuppert an meinem Hosenbein.
Ich sitze ganz still, ein paar Meisen rufen sich im Apfelbaum etwas zu, vielleicht haben sie leckere Raupen gefunden.
Es ist schön, bei einem Pferd zu sein. Ob ich mich auch draufsetzen könnte? Ich habe nur einmal, als Kind, auf einem Pony gesessen, das ganz langsam im Kreis ging, und später einmal auf einer Ziege — ein kurzes Erlebnis, zu vergleichen mit dem Schleudergang in einer Waschtrommel. Aber jetzt ist da ein sanftes Pferd, breit und ruhig. “Bitte”, sag ich zu ihm und es sieht mich an, als ob es mich verstehen würde.
Es fragt sich nur, wie ich auf diesen Berg von Rücken kommen soll. Ich sehe mich um. Ich könnte das Regenfass auskippen und heran rollen oder von der Schaukel, die am Birnbaum hängt, mit kühnem Schwung zum Pferderücken wechseln. Aber im Regenfass leben die Mückenlarven und der Strick, an dem die Schaukel hängt, ist schon halb durch gerissen. Aber auf den Birnbaum komme ich.
Ich habe gehört, dass man bei einem Pferd einen starken Willen haben sollte. Reicht mein Wille aus oder ist dieses Pferd womöglich durchsetzungsfähiger als ich? Wenn es mich nun am T‑Shirt packt und mit sich zieht? Es sperrt mich in einen Käfig, ich bekomme eine für mich geeignete Futtermischung und darf einmal am Tag angeleint spazieren gehen — mit Zügeln links und rechts am Gürtel. Dann muss ich Kunststücke lernen — auf den Händen gehen, über einen Trog springen und Kuchenstücke aus der Luft schnappen. Weil ich aber nicht so elegant dabei aussehe, lässt es mich bald frei und ich muss wieder zum Jobcenter.
Mir fällt ein, dass ich einen Apfel in meiner Fahrradtasche habe. Ich hole ihn, klettere auf den Birnbaum, rufe: “Pferd, Pferd!” Es schaut mich nicht an. Ich singe. Ich weiß kein einziges Lied von einem freien Pferd, also singe ich ein erfundenes, über ein hellbraunes Pferd, das für einen Nachmittag seinen Rücken verleiht. Nach einer ziemlich langen Zeit, als ich schon ein bisschen heiser bin und mir der Hintern weh tut vom rauen Ast, auf dem ich sitze, kommt das Pferd tatsächlich. Es isst den Apfel und sucht in meinen Handflächen nach weiteren Leckerbissen. “Jetzt bin ich dran”, erkläre ich ihm. Ich lege ein Bein auf den breiten Rücken und schiebe es zur anderen Seite hinüber.
Vorsichtig lasse ich den Ast los. In dem Moment, als ich auf dem Pferd ankomme, bin ich auf einmal viel leichter. So, als ob ich noch etwas anderes als nur mein Gewicht abgeben könnte. Das Pferd dreht sich zu mir um, scheint einverstanden zu sein und setzt sich in Bewegung. Der Rücken schaukelt von einer Seite zur anderen, ich kralle mich in der Mähne fest. Aber das Pferd geht ganz gemächlich, aus dem Garten raus, weiter den Weg entlang, bis zu einer großen Wiese.
Ich sitze auf einem Pferd! Ich bin dem Himmel viel näher. So ein warmes Tier, und es hat mich akzeptiert, es nimmt mich mit! Wenn ich jetzt der Frau meines Lebens begegne, wird sie überrascht sein. Auf einem Pferd hat sie sich mich wahrscheinlich nicht vorgestellt. Ich mich auch nicht. Und dann ist da plötzlich auch kein Pferd mehr. Es hält abrupt an und da wo vorher der Hals in die Höhe ging, ist nichts mehr, weil er sich nach unten beugt und ich rutsche an ihm entlang und komme unsanft auf dem Boden auf, plumpse verdutzt ins Gras.
Das Pferd geht davon, langsam, gemütlich. Ich bin abgesetzt. Das Pferd will mich nicht oder es braucht mich einfach nur nicht. Ich sehe zu, wie es die Wiese verlässt und auf den Weg einbiegt. Es dreht sich nicht nach mir um. Ich bleibe liegen und schaue einem Löwenzahn lange ins Gesicht.