Für Jasemin und Wiebke, zum 20jährigen
Wenn ich alleine bin, bin ich ein glückliches Genie. Noch vor dem Aufstehen singe ich ein Loblied auf mich, ich esse und schreibe, räume auf und repariere mein Fahrrad und bin den ganzen Tag zufrieden. Geniales Genießen.
“Deine Website braucht Suchmaschinen-Optimierung”, drängen Freund*innen. “Damit du im Internet zu finden bist.” Und meine Therapeutin meint: “Es wäre doch schön, wenn Sie mit Ihrem Schreiben Geld verdienen könnten.” Ich bin mir da nicht so sicher.
Das größte Hindernis für mein heimliches glückliches Genie-Dasein ist aber Frau Krage, die jetzt im Jobcenter für mich zuständig ist. Ein Klumpen im Pudding. Sie verdonnert mich zu der Fortbildung: “Die Professionelle Bewerbung”. “Und dann zacki!”, sagt sie. “Jede Woche zwei Bewerbungen.” Ich erzähle ihr nicht, dass ich bisher noch nie eine Bewerbung geschrieben habe, weil alle meine Jobs auf anderen Wegen zu mir gekommen sind. Ich versuche aber, zu begründen, warum diese Fortbildung für mich nichts bringen wird.
“Es ist wie bei den Bäumen”, erkläre ich. “Es gibt immergrüne und solche, die mit den Jahreszeiten gehen. Ich gehöre zu den letzteren. Und jetzt, im Dezember, sieht es deshalb kahl aus bei mir, aber innerlich bilden sich die neuen Knospen. Sie brauchen ihre Ruhezeit, und dürfen nicht gestört werden, damit sie im Frühling, ganz von alleine, aufblühen können.” Frau Krage schaut mich unwirsch an, dann sagt sie mit einem diabolischen Grinsen: “Okay, dann haben Sie aber auch einen verringerten Nährstoffbedarf. Wenn Sie sich nicht zur Fortbildung anmelden, lasse ich Ihre Bezüge kürzen, ist das klar?”
Eine Woche später sitze ich um acht Uhr morgens in der Fortbildung “Die Professionelle Bewerbung”. Ich habe den Fensterplatz in der letzten Reihe ergattert und schaue sehnsüchtig in den Hof. Da steht eine Berberitze, die noch ihre korallenrote Früchte trägt, und dazu lange Dornen. Genau die Kombination, die ich mir für mich jetzt auch wünschen würde.
“Es geht um Ihre Motivation”, sagt die Referentin, “das ist das Wichtigste in diesem Seminar. Sie zum Beispiel”, sie deutet auf eine Frau in der ersten Reihe, “warum sind Sie hier?” Die Frau wirkt verblüfft: “Das Jobcenter hat mich geschickt.” “Sehen Sie, das ist nur eine äußere Motivation. So kommen Sie nicht weit im Leben. Was das Jobcenter will, ist nicht so wichtig. Was Sie wollen, das ist das Wichtige! Sie sind Ihres Glückes Schmied!” Sie schaut uns herausfordernd an, ohne zu berücksichtigen, dass wir zu denen gehören, die weder Hammer noch Amboss haben.
“Also”, fährt sie fort, “noch einmal, die Frage an alle: Warum sind Sie hier?” Das frage ich mich auch: warum bin ich hier? Die Frau neben mir flüstert: “Weil wir dann aus der Statistik raus sind. Ich sitz schon zum vierten Mal in dieser Fortbildung.”
Die Referentin schaut zu uns her. Ich ducke mich, aber das war ungünstig, jetzt kommt sie auf mich zu. Ich möchte auf gar keinen Fall vor fremden Leuten etwas über meine Motivation sagen müssen. Die Referentin nähert sich, instinktiv lasse ich mich unter den Tisch gleiten. Ihre Schuhe bleiben vor mir stehen: “Was machen Sie da?” Mein Herz setzt aus, der Verstand stockt, ich bekomme keine Luft mehr. Und dann geht es doch weiter, ich atme, Sauerstoff belebt mich, ich krächze: “Ich habe etwas verloren. Ich — finde es sicher gleich wieder. Gehen Sie ruhig weiter.”
Sie bleibt stehen. Auch ein paar Teilnehmer*innen stehen auf, wie ich durch die Stuhl- und Tischbeine hindurch erkennen kann. Und dann springt endlich der rettende Einfall in mein Gehirn und ich rufe verzweifelt: “Mimmi, wo bist du? Mimmi! Bitte komm zurück!” Unruhe entsteht, noch mehr Leute stehen auf, und die Referentin will wissen: “Wer ist Mimmi?” “Meine Maus.” Kreischen, Rufen, Lachen, alle geraten in Bewegung. Beine verschwinden aus meinem Blickfeld, Köpfe erscheinen, um unter die Tische zu gucken. Die Referentin ist fassungslos: “Was fällt Ihnen ein, warum nehmen Sie eine Maus mit in das Seminar?” “Mimmi hat Angst, wenn sie alleine zu Hause ist.” Ich bleibe sicherheitshalber unterm Tisch und hoffe, dass sich diese Situation irgendwie wieder auflöst. Da ruft eine Stimme: “Ich hab sie! Sie ist in meiner Manteltasche!” “Halt sie fest!”, rufe ich. “Nicht rauslassen.” Wer weiß, was die in ihrer Tasche hat.
“Sie bringen jetzt sofort ihre Maus nach Hause”, entscheidet die Referentin, “und kommen dann ohne Tier wieder hierher zurück! Ist das klar?” Wunderbar! Ich richte mich auf, klopfe mir den Staub von der Hose und nehme meine Jacke. “Ich geh besser mit”, sagt die Frau mit dem Mantel. “Wenn ich die Maus jetzt raus lasse, läuft sie womöglich wieder weg.” Sie hat ihren Mantel umarmt und presst ihn an sich. Mir gefällt ihr kleines freches Gesicht, die schwarze Haarwildnis. “Meintwegen”, knurrt die Referentin. “Gehen Sie jetzt.”
Wortlos eilen wir durch den Flur. Erst als wir draußen sind, bei der Berberitze, die rot leuchtet, schauen wir uns an. Und grinsen. “Das war so eine großartige Idee”, sagt sie. “Danke.” Ich beginne zu strahlen und bin auf einmal ganz öffentlich ein glückliches Genie.