
Wenn ich zur Arbeit fahre, bin ich oft schon fast zu spät dran, und jetzt wird auch noch an vielen Stellen der Asphalt aufgerissen. Baugruben entstehen, scheinbar über Nacht, hastig, manchmal nicht einmal abgesichert. Vielleicht werden die Absperrungen auch gestohlen, diese rot-weißen Plastikgitter mit den Warnleuchten obendrauf. Ich weiß nicht, ob die Leute sich die in den Garten stellen oder ins Wohnzimmer, oder ob sie damit ihre eigenen Gruben absichern.
Ich sehe auch nie jemanden bauen, und keine Maschinen. Vielleicht sind diese Gruben gar keine, also nicht in dem Sinne, dass jemand sie gegraben hat. Vielleicht reißt der Boden von alleine auf, und das, was uns immer getragen hat, trägt nicht mehr, gibt nach, versinkt.
Bis jetzt konnte ich den Löchern auf der Straße immer noch rechtzeitig ausweichen, den Fahrradlenker herum reißen und den Sturz verhindern; aber nur, weil ich mit erhöhter Wachsamkeit fahre und jederzeit mit einem Abgrund rechne.
Eines Tages, wenn ich vielleicht noch etwas verschlafen bin, wird es passieren. Auch wer keine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Hoffentlich breche ich mir nichts. Oder wenigstens nicht die Hände. Hauptsache ich kann schreiben, während ich krank geschrieben bin. Was mache ich sonst, Tag für Tag zu Hause, nur über Gruben grübeln, und warum es mir nicht gelungen ist, dieses doch vorhersehbare Unglück zu vermeiden? Eigentlich wäre es am besten, ich würde mich schon vor dem Sturz krank schreiben lassen. Ich müsste nur meine Hausärztin von dieser präventiven Maßnahme überzeugen können.
Während ich über Argumente nachdenke und einer kleineren, mir schon bekannten Vertiefung ausweiche, werde ich von einem riesigen roten LKW überrascht, der von rechts aus einer Einfahrt drängelt. Ich bremse scharf ab, mache dem Ungetüm Platz. Mit Dröhnen biegt es auf die Straße ein, die Gesteinsbrocken auf der Ladefläche vibrieren, und dann wankt der ganze Laster, kippt nach links, die Ladung kommt in Bewegung, Brocken rollen, überstürzen sich, schmettern auf die Straße und prallen von ihr ab. Der LKW ist mit dem linken Vorderrad in eine Baugrube gesackt.
Das war die Grube, die für mich bestimmt war, denke ich, und jetzt hat sich dieses aufdringliche Fahrzeug hinein gestürzt — und dafür bin ich ihm dankbar.
Der Motor heult auf, der Laster ruckt vorwärts, sinkt in das Loch zurück, noch einmal und noch einmal. Ich traue mich nicht an dem steineschleudernden Monster vorbei. Jetzt komme ich sicher zu spät zur Arbeit, aber wenigstens habe ich eine anschauliche Erklärung dafür.
Schließlich steigt der LKW Fahrer aus, zückt eine Peitsche und versetzt der roten Flanke einen Hieb, sodass meterlang der Lack abplatzt und ein grauer Striemen zurückbleibt. Der Laster jault, bäumt sich auf, reißt das Rad aus der Grube, die Ladung rutscht, Steine springen durch die Luft, einer trifft mich an der Stirn.
Als ich wieder zu mir komme, liege ich auf der Straße, mein Fahrrad über mir, mein Gesicht klebt. Ich schmecke Blut. Der Laster ist nirgends zu sehen, ich bin ganz alleine. Ich spüre keine Schmerzen, nur Erleichterung. Der Unfall, auf den ich so lange gewartet habe, ist jetzt doch noch eingetroffen, aber ganz anders. Der Laster, der mich gerettet hat, hat mich auch niedergestreckt.
Ich schließe die Augen und denke daran, dass ich bald gemütlich in meinem Bett liegen werde. Ich werde meine Arbeit heute nicht aufsuchen, ich werde fernbleiben, für zwei Wochen, oder drei, vielleicht für immer.
Für immer? Habe ich das wirklich gedacht? Womöglich ist ein empfindlicher Teil meines Gehirns beschädigt worden. Ich taste; und tatsächlich, an meiner Stirn fehlt ein Stück, da ist ein Krater, aus dem das Blut geflossen ist, und vielleicht auch das Pflichtgefühl. Denn ich habe zwar einen schwachen Gedanken daran, dass ich mich bei der Arbeit melden sollte, aber er verfliegt sofort und wird unwichtig. Ich liege ganz friedlich da, behaglich sogar, weil der Asphalt immer weicher wird.
Da plätschert es. Ich hebe den Kopf. Dort, wo der Laster in die Grube gestürzt ist, sprudelt Wasser. Wahrscheinlich ist ein Rohr kaputt gegangen. Die Straße wird überschwemmt, eine Pfütze kriecht an mich heran, langsam stehe ich auf. Ich bücke mich und schöpfe etwas Wasser, um mir das Gesicht abzuwaschen. Es schmeckt salzig.
Jäh fällt mir ein, dass ich gelesen habe, dass der Anstieg des Meeresspiegels uns viel früher betreffen wird als gedacht. Also ist es schon so weit. Ich hole die wasserfeste Tasche vom Gepäckträger und streiche meinem Fahrrad über den Sattel. Es tut mir Leid, dass ich es zurück lassen muss.
Eine Welle rollt über die Straße, ich rette mich auf einen Zaun, das Metall schneidet in meine Pobacken. Das Wasser steigt, fließt, ein Eimer schwimmt vorbei, ein Ast, Enten, die laut quaken, vielleicht aus Empörung darüber, dass ihr Trinkwasser Salz enthält. Eine Plastiktüte, die im Zaun verfangen war, löst sich und gleitet in den Fluten dahin. Im Garten erheben sich die Flechtstühle, so als ob jetzt genug wäre mit dem ewigen Herumstehen, und auch der Tisch kommt in Bewegung.
Als eine rosa Wanne vorbei schwimmt, überlege ich, ob sie mich tragen würde, oder ob wir gemeinsam untergehen würden. Ich entscheide mich für den Tisch. Er ist groß, und aus Holz, auf der Tischdecke ein Muster aus Himbeeren, Brombeeren und roten Lippen.
Er steht neben dem Zaun, ich klettere zu ihm hinüber, und, auf ihm sehr viel bequemer sitzend, ziehe ich Schuhe und Socken aus und verstaue sie in meiner Tasche. Auch die Tischdecke nehme ich ab und stecke sie ins Außenfach. Dann kremple ich die Hosenbeine hoch.
Das Wasser ist erstaunlich warm. Ich hänge meine Tasche an den Zaun und drehe den Tisch um. Er schwimmt. Vorsichtig hocke ich mich auf die Fläche und halte mich an den Beinen fest. Der Tisch trägt mich! Und meine Tasche auch. Aber er passt nicht durchs Gartentor. Ein Stuhl hat sich auf den Rücken gelegt, schaukelt in den Wellen, findet den Weg nach draußen und wird von der Strömung erfasst.
Das Wasser steigt weiter und schließlich schwappt mein Floß über den Zaun, genau in dem Augenblick, als im ersten Stock ein Fenster aufgeht: “Mein Tisch!”, ruft eine Frau, so als ob es in dieser Sintflut nichts Beklagenswerteres gäbe als den Verlust eines Gartenmöbels. Ich winke der Besitzerin zu, ein kleiner Gruß von der Besetzerin. Dann befinde ich mich wieder auf meinem Arbeitsweg, beziehungsweise über ihm, dort wo Gruben mir nicht mehr gefährlich werden können.
An der Kreuzung halte ich mich an der Ampel fest, die erstaunlicherweise immer noch rot zeigt, aber nur rot, so als ob sie dem Wasser Einhalt gebieten wollte. Wie seltsam, einer Ampel ins Gesicht zu sehen, die mir sonst immer nur von Ferne Zeichen gegeben hatte! Grün hieß: du kannst wahrscheinlich fahren, aber pass trotzdem gut auf; wer dich umfährt, muss nur ein Bußgeld zahlen. Und Rot hieß: Pass auf und guck in alle Richtungen, bevor du losfährst!
Ich habe immer aufgepasst; es hat mich trotzdem getroffen; aber jetzt hat mich das Wasser hoch gehoben, und die Sonne scheint mir ins Gesicht. Etwas fliegt auf mich zu, glänzt und blendet mich, gelbe Vögel seltsam eckig. Ich hebe eine Hand über die Augen, um besser sehen zu können, und da entgleitet mir die Ampel, und die Strömung reißt mein Floß in die Kastanienallee hinein.
Die Vögel überholen mich. Es sind Fenster, stelle ich erstaunt fest, die da schweben, mit flatternden Jalousien, und auf einem von ihnen entdecke ich einen Aufkleber, den ich selbst angebracht habe. Es ist das Fenster, durch das ich gestern noch die Welt betrachtet habe, mit einer gewissen Sehnsucht, bevor ich mich wieder meiner Arbeit zuwandte.
Und jetzt treffen wir uns hier wieder, zwischen Himmel und Meer, und reisen gemeinsam, eingesäumt von den Wipfeln der Kastanien, in denen hunderte Kerzen leuchten. Da entdecke ich eine offene Balkontür. Ich bekomme einen Kastanienast zu fassen, hangle mich an ihm entlang bis zum Balkon mit dem schmiedeeisernen Gitter. Es gelingt mir, die Verstrebung zu ergreifen. Als ich einen Fuß darauf stelle, entgleitet mir das Floß, samt meiner Tasche. Da ist mein Mittagessen drin, und meine Wasserflasche! Und außerdem mein Kalender, und auch mein Arbeitsschlüssel. Aber wenn sich schon die Fenster aus dem Gemäuer gelöst haben, dann haben sich womöglich auch die Türen aus ihrer Verankerung befreit und treiben vielleicht schon im Ozean.
Ich klettere über das Geländer und klopfe an die offene Tür. Als ich keine Antwort bekomme, mache ich einen Schritt in das dunkle Zimmer hinein. In der Ecke steht ein Sofa, dort erkenne ich eine Gestalt. “Entschuldigen Sie die Störung!” Das Wasser läuft aus meinen Klamotten, zu meinen Füßen färbt sich der Teppich dunkel. “Es ist so nass draußen”, erkläre ich.
Die Gestalt trippelt auf mich zu, es ist ein großer Vogel, den ich Marabu nennen würde, ohne jemals schon einen gesehen zu haben. Es ist wahrscheinlich auch ungewöhnlich, dass er eine rote Decke trägt; an seinem dünnen Hals ist sie mit einer Brosche zusammengehalten.
“Guten Tag”, sage ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll. Der Marabu verneigt sich, ich verneige mich auch. Er deutet, wie mir scheint, ins Innere der Wohnung. Die Schiebetür ist zur Seite geschoben, durch die Öffnung erkenne ich eine anderes Zimmer und, am anderen Ende der Wohnung, eine offene Terrassentür, die auf eine Wiese hinausgeht.
Das kann nicht sein. Ich bin im 3.Stock, mindestens, vielleicht sogar im vierten, und die ganze Stadt ist überschwemmt. Verblüfft schaue ich den Marabu an. Er nickt. “Heißt das”, frage ich ihn, “ich muss nur zur anderen Seite hinaus spazieren, und dann habe ich wieder festen Boden unter den Füßen?” Diesmal rührt er sich nicht. Ich muss es wohl selbst ausprobieren.
Ich verneige mich zum Abschied: “Danke.” Und dann gehe ich los.