Um den Einstieg in die Verrentung sanft zu gestalten, hat unsere Briefträgerin einen neuen Arbeitsmodus eingeführt. Und zwar unter dem Motto: “Kürzer treten!” Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag trägt sie wie gewohnt Briefe und Päckchen aus. Mittwoch und Samstag trägt sie sie nur in ihre Wohnung, stapelt sie dort auf diversen Tischen und Fensterbänken, und wir können sie abholen.
“Jahrelang habe ich euch besucht, jetzt machen wir es mal umgekehrt.” Arbeits-Inversion nennt sie das Konzept. Ursprünglich hatte sie in ihrem Flur einen Empfangsbereich eingerichtet, wo sie jede Person begrüßt und ihr die Sendungen persönlich überreicht hat. Mittlerweile liegt sie auf dem Sofa und deutet nur noch auf den Stapel, in dem sich das Gewünschte befindet. “Ich gewöhne mich immer besser an meine Rentenzeit”, meint sie.
Ihr Konzept wird gut angenommen. Die Leute reißen sich darum, die Briefe für das ganze Haus abholen zu dürfen, vor allem die Rentner*innen. Eine Weile freue ich mich über den Service, dann protestiere ich: “Ich möchte die Briefträgerin auch einmal besuchen!” An einem Samstag ist es dann so weit. Ich stehe in ihrem Wohnzimmer, auf einem dicken grünen Teppich, sie begrüßt mich herzlich: “Schön, dass du auch einmal kommst! Möchtest du einen Ingwertee?” Wir duzen uns schon länger. Ich glaube, Gloria ist mit dem ganzen Viertel per Du.
“Gerne”, sage ich. Während sie den Tee aus der Küche holt, sehe ich mich in ihrem Wohnzimmer um. Überall liegen Postsendungen, geordnet und mit Schildern versehen, auf denen die Hausnummern stehen. Ich bin ein bisschen aufgeregt, als ich den Stapel für unser Haus entdecke. Wir mussten alle ein Formular unterschreiben, in dem wir die Nachbarn bevollmächtigen, unsere Post abzuholen.
“Heute habe ich die Vorladung bekommen”, erzählt Gloria. “Sie versuchen, mir Arbeitsverweigerung nachzuweisen. Und Verletzung des Postgeheimnisses. Bis jetzt haben sie aber noch keine Lücke gefunden. Alle Kund*innen sind zufrieden. Herr Schilling hat sogar eine Petition für mich gestartet. Wenn du möchtest, kannst du auch unterschreiben.” “Natürlich”, sage ich, “ich finde deine Idee genial.”
“Ich auch.” Sie strahlt. “Warum mit Abzügen in die Rente gehen, nur weil ich diesen Job nicht mehr jeden Tag schaffe?” Sie gießt uns Tee ein. “Zucker? Oder Honig?” Ich nehme mir Honig. “Honig, natürlich! Im Englischen heißt es doch Honeymoon, nicht wahr?” Sie lächelt mich an, ich werde ein bisschen rot und konzentriere mich darauf, den Honig im Tee zu verrühren. “Verzeih mir, wenn ich neugierig bin, aber … von wem war eigentlich der rote Brief?”
“Was für ein roter Brief?” Ich setze mich kerzengerade hin, und werde jetzt richtig rot, so als ob dieser Brief, von dem ich gar nichts weiß, auf mich abfärben würde. “Du musst es mir natürlich nicht erzählen …” “Aber ich habe keinen roten Brief bekommen! Wirklich nicht.” “Du hast den Brief nicht bekommen?” Sie wird jetzt, im Gegensatz zu mir, weiß im Gesicht, und ich weiß natürlich warum. Bei Unregelmäßigkeiten in der Zustellung ist sie dran.
“Keine Sorge, ich sage niemandem etwas davon”, beruhige ich sie. “Wann war das denn?” “Es war vor ein paar Tagen … genau weiß ich es nicht mehr.” Sie ist jetzt nervös, streicht mehrmals das Tischtuch glatt. “Es tut mir furchtbar Leid, dass du den nicht bekommen hast. Was machen wir denn jetzt?”
“Ruhe bewahren”, schlage ich vor. “Wie sah der Brief denn aus?” Das ist es, was mich am meisten interessiert. Weit davon entfernt, Ruhe zu bewahren, versuche ich, mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen. “Wie ein Liebesbrief”, sagt Gloria gerade heraus. “Wirklich?” Ich strahle sie an. “Ja, es war dieses typische Liebesbrief-Rot. Ich habe da Erfahrung, das kannst du mir glauben. Auch die Schrift war so liebevoll. Und ein Bild war drauf geklebt, zwei Gänseblümchen, die die Köpfe zueinander beugen.” “Gänseblümchen?”, zweifle ich. “Wären da nicht eher Rosen angebracht?” “Rosen sind für Einfallslose. Gänseblümchen sind genau das Richtige für etwas scheue Verliebte.” Verliebte .. Was für ein wunderbares Wort.
“Aber Absenderin stand keine drauf. Ich dachte, die erfahre ich von dir.” “Keine Ahnung!”, behaupte ich, und werde schon wieder rot. “Ich meine, ich habe einen kleinen Verdacht, aber … nein, das kann eigentlich nicht sein.” Ich wehre es auch vor mir ab, versuche, mir keine Hoffnung zu machen, dass Nailufar … “Vielleicht war es ein Info-Brief von einer Graswurzelbewegung”, stottere ich und merke selbst, wie unglaubwürdig ich klinge. Gloria grinst, ich konzentriere mich auf den Ingwertee.
Es klingelt an der Tür, ich springe auf: “Ich muss los!” “Ich möchte dich noch etwas bitten.” Gloria ist verlegen. “Kannst du mir versprechen, niemandem von dem verschwundenen Brief zu erzählen?” “Ja, klar!” Zur Bekräftigung lege ich meine Hand auf’s Herz. Ich packe die Postsendungen für unser Haus in meine Fahrradtasche und hüpfe die Treppe hinunter.
Zu Hause fülle ich die Briefkästen. Ich habe es mir sehr befriedigend vorgestellt, alle Klappen zu öffnen und Briefe hinein zu werfen. Jetzt will ich es nur schnell hinter mich bringen. Auch ein Gespräch mit Herrn Sowas, der anscheinend auf das Geräusch der Briefkästen gewartet hat und herbei eilt, wehre ich ab. Ich murmle nur, dass es sehr nett war, und halte mich zurück mit der drängenden Frage: “Haben Sie meinen Liebesbrief geklaut?“
In meiner Wohnung nehme ich mir nicht mal die Zeit, die Schuhe auszuziehen. Ich setze mich in Jacke in die Küche, imaginiere zwei Gänseblümchen und zücke mein Handy. “Hallo, Nailufar …” vor lauter Aufregung weiß ich nicht mehr, wie ich es anstellen soll, genug Luft zu bekommen. Ich habe mir eine tolle Einleitung ausgedacht, dass ich mit ihr mal gerne eingehender über den Ausgang der Wahl in Tansania sprechen wollte, aber jetzt sage ich nur: “Sollen wir uns mal treffen?” “Ja”, sagt sie. Sie sagt Ja! Sie sagt einfach Ja! Was mache ich jetzt?
Zum Glück muss ich gar nichts machen, sie redet weiter. “Morgen Nachmittag? Zu einem Spaziergang?” “Ja gerne!”, stammle ich, und dann schweigen wir beide, während die Frage nach Ort und Uhrzeit drängender wird. “Wie wär’s mit der Bibliothek?”, schlage ich vor, weil die Bibliothek ein Ort ist, an dem ich mich sicher fühle. “Am Sonntag hat die Bibliothek zu”, gibt Nailufar zu bedenken. “Vielleicht im Park hinter der Bibliothek?” “Gute Idee!“
Ich bin erleichtert, dass der Ort jetzt klar ist. “Und wann?” “Hast du um drei Uhr Zeit?” Ich habe den ganzen Tag Zeit für Nailufar, sage aber nur: “Okay. Bis morgen!” Schnell drücke ich auf den roten Knopf, der das Gespräch beendet. Mir ist schlecht. Ich mache mir Vorwürfe. Ich hätte sagen sollen: “Ich freue mich auf dich!” Oder etwas Romantisches über Spaziergänge im Oktober. Habe ich es vermasselt? Ich traue mich nicht, noch einmal anzurufen. Den ganzen Abend warte ich auf ihre Absage. Sie ruft nicht an. Ich habe tatsächlich eine Verabredung mit Nailufar.
Der Spaziergang ist wunderbar. Und schrecklich. Wir gehen lange nebeneinander und das ist so schön, und gleichzeitig denke ich immer, ich müsste jetzt etwas sagen und mir fällt auch einiges ein, aber dann weiß ich nicht, ob es passend für die Situation ist und sage lieber nichts und leide unter meiner Unfähigkeit. Nailufar sagt auch nichts. Und auch das ist wunderschön, weil sie mir so ähnlich ist, und schrecklich, weil ich jede Minute befürchtete, dass ich sie womöglich enttäusche.
Schließlich kommen wir auf eine Wiese, und da blühen zwei Gänseblümchen, die Köpfe zueinander gebeugt. Ich bleibe stehen und deute darauf. “Schau”, sage ich, und lächle Nailufar unsicher an. Sie lächelt zurück. Ich hole tief Luft. “Wusstest du, dass Gänseblümchen sich auf sieben verschiedene Arten vermehren können?” “Nein. Sieben? Ich wusste nicht einmal, dass es so viele Möglichkeiten gibt.“
Ich werde rot, weil mir die Vermehrung von Gänseblümchen plötzlich wie ein sehr intimes Thema vorkommt. Es ist mir auch peinlich, dass ich heute Nacht Informationen über Gänseblümchen gesammelt habe. Aber das weiß Nailufar ja nicht! Sie denkt vielleicht, ich bin eine Pflanzenexpertin. Also sage ich möglichst cool: “Insekten wie Bienen, Hummeln und Fliegen helfen bei der Fremd- und Selbstbestäubung. Und dann vermehren sich die Gänseblümchen mit dem Regen, dem Wind, mit Tieren und mit Menschen.” “Sehr vielfältig”, sagt Nailufar. Dann ruft sie: “Das sind aber nur sechs!” Und plötzlich steht dieses Wort ausgesprochen zwischen uns. Sex.
Ich werde rot. “Ich verzähle mich auch oft”, meint sie, und nimmt meine Hand. Danach kann ich nicht mehr denken. Ich bin nur noch diese Hand, die mit Nailufar geht, wieder schweigend, lange Minuten, eine Ewigkeit und viel zu kurz. Dann ist da plötzlich die Bibliothek und ich stammle: “Ich muss los”, und halte gleichzeitig ihre Hand fest und dann passiert es irgendwie, dass unsere Köpfe zueinander kommen, wie Gänseblümchen im Wind und wir uns, ganz sanft, auf die Lippen küssen.
Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen bin. Wieder guckt Herr Sowas aus der Tür raus. Plötzlich fällt es mir auf, dass er jetzt immer den ganzen Tag zu Hause ist. Pensioniert, denke ich, deshalb klaut er Liebesbriefe! Ich verzeihe ihm und grüße ihn freundlich.
Kaum in meiner Wohnung, rufe ich Nailufar an. “Es sind sieben”, sage ich, “weil das Gänseblümchen sich auch vegetativ vermehren kann, mit den eigenen Wurzeln. Es braucht niemand anders dazu.” “Praktisch”, sagt Nailufar, “aber auch ein bisschen einsam.” “Ich finde es auch schöner zu zweit”, sage ich kühn und Nailufar antwortet leise: “Ich auch.” Wir schweigen. Ein wunderbar süßes Schweigen.
Dann erzählt Nailufar, dass sie sich schon lange mal mit mir verabreden wollte. “Aber ich hab mich nicht getraut, dich anzurufen. Das war so mutig von dir!” “Ich habe ja nur angerufen, weil du mir den Brief geschrieben hast.” “Was für einen Brief?” In dem Moment fällt mir ein, dass ich nichts davon erzählen darf. Was mache ich jetzt? “Hab ich das geträumt?”, sage ich verwundert. “Ja, das hast du.” Nailufar lacht. Wenn der Brief nicht von ihr war, von wem dann?
Nachdem ich aufgelegt habe, fahre ich noch einmal los. Es ist zwar Sonntag Abend, aber ich klingle trotzdem Sturm. Gloria ist nicht erstaunt. “Ich hab mir gedacht, dass du was zu erzählen hast.” “Ich glaube eher, du hast etwas zu erzählen! Es gab gar keinen Brief, stimmt’s?” “Stimmt.” Sie grinst. “Du hast mich angelogen!” “Und du hast dein Versprechen nicht gehalten”, gibt sie zurück. “Also sind wir quitt.” “Moment mal, ohne deine Lüge hätte ich ja nichts versprechen müssen!“
Aber ich beharre nicht darauf, Recht zu haben, stattdessen frage ich sie: “Warum hast du das gemacht?” “Ich wollte ein bisschen üben. Weißt du, ich hab mir gedacht, wenn ich dann richtig pensioniert bin, könnte ich noch einen kleinen Nebenjob machen, als Kupplerin. Meinst du nicht, ich habe Talent?” “Ich meine, du bist ein Ungeheuer! Aber ein sehr geschicktes.” Wir grinsen uns an. Ich bin glücklich.