Rolltreppe

Zwei neue Farne mit noch eingerollten Köpfen reichen sich die Blätter

Ich habe den Ver­dacht, dass bei der Erfin­dung der Roll­trep­pe nicht nur die Idee einer Per­so­nen-Beför­de­rung von einem Stock­werk ins ande­re eine Rol­le gespielt hat, son­dern auch oder sogar haupt­säch­lich ein Bezie­hungs­dra­ma. Jeden­falls ist es das, was mir in den Sinn kommt, wenn ich den Ver­lauf einer Fahrt auf der Roll­trep­pe betrach­te .
Etwas Neu­es erscheint, lädt dich ein, bie­tet dir eine Platt­form. Du steigst dar­auf ein, folgst ihr, schwebst, immer höher, mit Leich­tig­keit, auf einer sta­bi­len Grund­la­ge, die dann plötz­lich spur­los im Boden ver­schwin­det wie nie dage­we­sen. Du wirst ein­fach run­ter geschubst, stol­perst, fällst womög­lich. Es läuft nicht mehr. Es ist aus.
Weil der Erfin­der der Roll­trep­pe eine abrup­te Tren­nung nicht ver­ar­bei­ten konn­te, hat er sie mate­ria­li­siert. Und seit­her müs­sen täg­lich Tau­sen­de und Mil­lio­nen von Men­schen die­ses Dra­ma nach­er­le­ben. Aller­dings haben mitt­ler­wei­le die meis­ten gelernt, recht­zei­tig die Füße zu heben, ele­gant abzu­stei­gen und wei­ter­zu­ge­hen, zur nächs­ten Roll­trep­pe.
Es ist gut mög­lich, dass das Benut­zen von Roll­trep­pen die Lebens­form der seri­el­len Mono­ga­mie begüns­tigt. Eine gewis­se zeit­li­che Par­al­le­le ist vor­han­den und auch die Tat­sa­che, dass bei­de Phä­no­me­ne eher in Städ­ten vor­kom­men, unter­mau­ert mei­ne Theo­rie.
Ich habe immer ziem­lich vie­le Theo­rien. Das hilft mir im täg­li­chen Leben aber nicht unbe­dingt wei­ter. Im Gegen­teil. Wahr­schein­lich tun sich Leu­te, die beim Anblick einer Roll­trep­pe nicht an ein Bezie­hungs­dra­ma den­ken, leich­ter damit, sie zu benut­zen. Wäh­rend ich immer noch am Fuße der Roll­trep­pe ste­he und den Flä­chen zuse­he, wie sie sich zur Stu­fe erhe­ben und in die Höhe glei­ten. Viel­leicht hat der Erfin­der der Roll­trep­pe auch eine Nach­ah­mung von Mee­res­wel­len ange­strebt. Die­se sind aller­dings ziem­lich plump gera­ten.
Wie auch immer, ich muss zum Zug und der Auf­zug ist kaputt. Ich war­te, bis ich allei­ne bin, set­ze einen Fuß auf und den zwei­ten dane­ben — es ist eigent­lich ganz ein­fach. Die Roll­trep­pe ist wahr­schein­lich eines der unge­fähr­lichs­ten Verkehrsmittel.

Aber — was ist das für ein Loch vor mir? Ich fah­re direkt dar­auf zu. Es gibt kein Ent­kom­men. “Hil­fe!”, schreie ich, dann bin ich schon ver­schluckt.
Das ist die Rache der Roll­trep­pe, den­ke ich, als ich, krampf­haft an den Hand­lauf geklam­mert, immer wei­ter hori­zon­tal in die Dun­kel­heit hin­ein fah­re. Ich erwar­te den Absturz, das Fal­len ins Nichts, statt­des­sen läuft unter mir, mit einem lei­sen Brum­men, die Roll­trep­pe als Trans­port­band, wer weiß wohin. Wer­de ich ent­führt?
Hät­te ich nur nicht “plum­pe Nach­ah­mung” gedacht, dann hät­te ich mei­nen Weg womög­lich unbe­scha­det fort­set­zen kön­nen. Wobei ich einen rich­ti­gen Scha­den bis jetzt noch nicht aus­ma­chen kann, bis auf den Schreck natür­lich. Und das Unge­wis­se. Das Leben ist ja in jedem Moment unge­wiss, trotz­dem habe ich meis­tens das Gefühl, dass es vor­her­seh­bar ist. Jetzt sehe ich nichts mehr.
Doch, da ist was. Ein hel­ler Fleck, er wird grö­ßer. Ich kann jetzt erken­nen, dass ich durch eine Art Hal­le fah­re, neben mir fährt auch so eine fla­che Roll­trep­pe, auf der ande­ren Sei­te auch. Je hel­ler es wird, des­to mehr Roll­trep­pen kann ich erken­nen, die alle in der glei­chen Rich­tung unter­wegs sind.
Und vor mir, auf mei­ner Roll­trep­pe, nur ein paar Schrit­te ent­fernt, eine klei­ne Kabi­ne aus Glas, mit einem Sitz dar­in. Ich stre­be dort hin. Die Tür lässt sich öff­nen, ich schlie­ße sie hin­ter mir und mache es mir bequem. Ich kann mich sogar anschnal­len. Jetzt sit­ze ich in die­sem Häus­chen wie eine Loko­mo­tiv­füh­re­rin, nur ohne Schalt­pult. Wohin es geht, bestimmt die Roll­trep­pe.
Und dann weicht das Dach der Hal­le, blau­er Him­mel zeigt sich, eine Wie­se vol­ler Roll­trep­pen, mit Sei­ten­wän­den in ver­schie­de­nen Far­ben, die wie Schlan­gen über das Gras glei­ten, auf einen Wall zu, der sich vor uns erhebt. Und schon geht es auf­wärts, immer höher, oben ein Ruck. Alle blei­ben ste­hen. Auge in Auge mit den Glas­ka­bi­nen der Roll­trep­pen, die uns gegen­über ste­hen.
Sind hier alle Roll­trep­pen der Stadt ver­sam­melt? Ein Mee­ting? Ein Roll-In? Und dann fah­ren alle gemein­sam los. Sind die ver­rückt gewor­den? Ich klam­me­re mich an die Arm­leh­nen mei­nes Sit­zes. Doch bevor es zum Zusam­men­prall kommt, hebt mei­ne Roll­trep­pe wie eine Rau­pe den vor­de­ren Teil in die Luft, und wölbt sich über ande­re Roll­trep­pen hin­weg zum Boden, setzt auf, wo sie Platz fin­det, schlägt einen Bogen und erklimmt wie­der den Wall.
Alle Roll­trep­pen schlän­geln sich geschickt umein­an­der, fah­ren über- und unter­ein­an­der, ohne sich jemals anein­an­der zu sto­ßen, im gemüt­li­chen Roll­trep­pen­tem­po, mit einem freund­li­chen Brum­men. Ich glau­be, es macht ihnen Spaß. Sie spie­len! Nach­dem sie hun­der­te Male nur hoch oder run­ter gefah­ren sind, immer gera­de, mit Men­schen und Kof­fern bela­den, kön­nen sie sich hier frei bewe­gen, flach oder gebo­gen, die Trep­pen­stu­fen wie gezähn­te Dra­chen­rü­cken zum Him­mel erho­ben.
Plötz­lich sehe ich in einer ande­ren Glas­ka­bi­ne eine Frau, wir win­ken uns zu, lachen. Ich bemer­ke noch ein paar ande­re Men­schen, die meis­ten Kabi­nen sind jedoch leer. Wer darf mit­fah­ren und das erle­ben? Ist das Zufall? Oder sind das viel­leicht lau­ter Leu­te, die sich Theo­rien über Roll­trep­pen aus­ge­dacht haben?
Wenn mei­ne Theo­rie stimmt, haben sich die Roll­trep­pen aber von der ewi­gen Re-Insze­nie­rung des Bezie­hungs­dra­mas distan­ziert. Sie über­neh­men eige­ne Rol­len und haben neue Mög­lich­kei­ten gefun­den, in Bewe­gung und in Bezie­hung zu sein.
Wahr­schein­lich ist es das, was pas­siert, wenn an der Roll­trep­pe ein Schild hängt: “Außer Betrieb”. Wenn sie so schein­bar starr und unbe­weg­lich erscheint, dann ist in Wirk­lich­keit ein Teil von ihr hier auf der Wie­se und rollt, rutscht, kriecht, schlurft, schlän­gelt, biegt sich mit ihres­glei­chen. Sie schwebt, wellt und wogt, bei gemüt­li­chem Brum­men, mit ande­ren tol­len Roll­trep­pen, in ihrer Gleitzeit.