Ich habe den Verdacht, dass bei der Erfindung der Rolltreppe nicht nur die Idee einer Personen-Beförderung von einem Stockwerk ins andere eine Rolle gespielt hat, sondern auch oder sogar hauptsächlich ein Beziehungsdrama. Jedenfalls ist es das, was mir in den Sinn kommt, wenn ich den Verlauf einer Fahrt auf der Rolltreppe betrachte .
Etwas Neues erscheint, lädt dich ein, bietet dir eine Plattform. Du steigst darauf ein, folgst ihr, schwebst, immer höher, mit Leichtigkeit, auf einer stabilen Grundlage, die dann plötzlich spurlos im Boden verschwindet wie nie dagewesen. Du wirst einfach runter geschubst, stolperst, fällst womöglich. Es läuft nicht mehr. Es ist aus.
Weil der Erfinder der Rolltreppe eine abrupte Trennung nicht verarbeiten konnte, hat er sie materialisiert. Und seither müssen täglich Tausende und Millionen von Menschen dieses Drama nacherleben. Allerdings haben mittlerweile die meisten gelernt, rechtzeitig die Füße zu heben, elegant abzusteigen und weiterzugehen, zur nächsten Rolltreppe.
Es ist gut möglich, dass das Benutzen von Rolltreppen die Lebensform der seriellen Monogamie begünstigt. Eine gewisse zeitliche Parallele ist vorhanden und auch die Tatsache, dass beide Phänomene eher in Städten vorkommen, untermauert meine Theorie.
Ich habe immer ziemlich viele Theorien. Das hilft mir im täglichen Leben aber nicht unbedingt weiter. Im Gegenteil. Wahrscheinlich tun sich Leute, die beim Anblick einer Rolltreppe nicht an ein Beziehungsdrama denken, leichter damit, sie zu benutzen. Während ich immer noch am Fuße der Rolltreppe stehe und den Flächen zusehe, wie sie sich zur Stufe erheben und in die Höhe gleiten. Vielleicht hat der Erfinder der Rolltreppe auch eine Nachahmung von Meereswellen angestrebt. Diese sind allerdings ziemlich plump geraten.
Wie auch immer, ich muss zum Zug und der Aufzug ist kaputt. Ich warte, bis ich alleine bin, setze einen Fuß auf und den zweiten daneben — es ist eigentlich ganz einfach. Die Rolltreppe ist wahrscheinlich eines der ungefährlichsten Verkehrsmittel.
Außerplanmäßig
Ich bin auf dem Nachhauseweg. Mein Zug hat Verspätung. Während ich auf dem Bahnsteig stehe und mir die Hände reibe, die sich trotz Handschuhen steif und kalt anfühlen, wird der außerplanmäßige Halt eines Zuges angesagt. Kurze Zeit später fährt er ein. Ein Frecciarossa, ein roter Pfeil, aus Italien. Seit wann fahren die hier lang? Amsterdam — Monaco — Roma, steht an der Flanke des Zuges. Rom! Ich werde unruhig beim Anblick dieser roten Waggons. Die Frecce fahren nur innerhalb Italiens. Irgendwas stimmt da nicht. Und dann sehe ich es: da sitze ja ich, in diesem Zug, natürlich in ein Buch vertieft.
Nein, das kann doch nicht … mit einem Sprung bin ich am Zug, klopfe ans Fenster. Ich da drin löse den Blick vom Buch, hebe den Kopf, und dann schaut sie, die ich ist, raus und unsere Blicke begegnen sich. Der Zug rollt an, ich habe nicht die Kraft, nebenher zu laufen, einen Halt zu erzwingen, wenigstens zu schreien. Erschüttert bleibe ich zurück, ich hier auf dem Bahnsteig, während mein anderes Ich unterwegs ist, nach Rom.
Denn da gibt es keine Zweifel, sie, die ich ist, wird nicht in München aussteigen, sie fährt nach Rom, sie lebt dort. So wie ich es beinahe getan hätte, vor ach so vielen Jahren. Ich habe davon gehört, dass es Paralleluniversen gibt, in denen wir, wer auch immer das dann ist, die Leben leben, die auch möglich gewesen wären. Aber ich dachte immer, dass diese Universen eben parallel zu unserem verweilen würden, ohne Schnittpunkte.
Ist heute so eine Parallelwelt auf die schiefe Bahn geraten, oder hat dieses andere Ich samt rotem Zug die Universen gewechselt? Ich löse mich aus meiner Erstarrung und strebe einen Schaffner an. Er ist von einer Traube von Menschen umringt, die er mit den Worten “Achten Sie auf die Zugdurchsagen!” zurück lässt. Ich hefte mich an seine Fersen: “Sagen Sie bitte, der Zug, der eben hier gehalten hat, wie lange braucht der nach Rom?” Er wimmelt mich ab. “Der war außerplanmäßig hier. Über den kann ich keine Auskunft geben.“
20 Stunden mindestens, denke ich. Ich könnte hinfliegen. Auf dem Bahnhof warten, bis ich aussteige. Und mich verfolgen, mir zugucken, wie ich in Rom lebe. Leben würde, wenn ich damals zu Lorenza gezogen wäre. Aber warum? Außerdem muss ich morgen arbeiten. Ich bin doch zufrieden mit meinem Leben. Und der Entscheidung, die ich damals getroffen habe.
Wer weiß, wer das da im Zug war. Sie sah mir ähnlich, mehr nicht. Paralleluniversen, falls es sie denn geben sollte, haben wahrscheinlich anderes zu tun als ausgerechnet meinen Weg zu kreuzen. Diese Ausflüchte helfen mir nicht. Ich weiß genau, dass ich im Zug war. Aber was mache ich, wenn ich in Rom feststelle, dass das dort das Leben ist, das ich leben möchte, und hier nur eine weniger geglückte Parallele? Kann ich denn in ein anderes Leben umziehen, will ich das überhaupt? Und was passiert dann mit meinem anderen Ich?
Ratlos bleibe ich auf dem Bahnsteig stehen und warte auf Hinweise, aber es kommen keine, es kommt nur mein Zug und ich steige ein. Statt zu lesen suche ich in meinem Handy nach dem Frecciarossa. Im deutschen Netz finde ich ihn nicht, ich probiere es mit der italienischen Gesellschaft, Trenitalia. Keiner der Frecce fährt nach Amsterdam.
Und keine Schaffnerin kommt, die ich fragen könnte, nur eine Person mit Servierwagen, bei der ich entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten einen Kaffee kaufe. Als ich ihr das Geld gebe, frage ich sie leise: “Würden Sie nach Rom ziehen?” Sie lacht. “Da war ich erst gestern! Ich zieh ja dauernd rum.” Und dann zieht sie ihren Wagen weiter und ich bleib sitzen mit einem Becher voll hellbraunem Wasser, der mir die Hände wärmt und den ich dann, als ich aussteige, in einen Mülleimer versenke.
Ich könnte mich für morgen krank melden, sinniere ich auf dem Nachhauseweg. Heute Abend um halb zehn geht noch ein Flug nach Rom. Was für eine Geldverschwendung und Umweltverschmutzung! Außerdem hat sich die Stadt sicher verändert, ist voller und lauter geworden, wie so viele Städte, die jetzt billig angeflogen werden können. Ich muss wahrscheinlich nur einen Tag in Rom verbringen, um zu wissen, dass ich dort nicht wohnen will. Und wenn nicht? Was ist, wenn ich tatsächlich mir begegne in Rom, und wenn ich dort auch ein gutes Leben habe?
Wieso habe ich auf einmal diese Probleme und solche Fragen? Vor einer Stunde habe ich mich nur über die Zugverspätung geärgert. Jetzt wünsche ich mir diesen kleinen Ärger zurück anstatt der großen Verunsicherung, die mich befallen hat. Und Lorenza? Wenn ich sie dort treffe, in Rom, wenn wir gar ein Paar sind? Lorenza, meine große Liebe, die aber eine andere wollte oder vielleicht nur ihre Freiheit, wer weiß.