Bruder

Wil­de Wol­ken zer­fet­zen den Him­mel, Sturm­wind treibt und wir­belt, kein Platz für mei­ne Trau­rig­keit, der Wind reißt alles mit, Blät­ter, Zwei­ge, lose Zie­gel, fest­ge­hal­te­ne Gedan­ken … mei­ne Bett­de­cke wird hoch geho­ben und weg geris­sen. Ich bleib zit­ternd lie­gen, schau zum Him­mel, da fliegt sie, mei­ne Decke mit dem roten Bezug, der mir der liebs­te war.
Ver­stört mach ich mich auf, sie zu suchen, mei­ne Bett­de­cke, und da hängt sie, im Weiß­dorn, ein paar Gär­ten wei­ter. Die alte Frau am Fens­ter schaut mir zu, wie ich die Decke her­un­ter hole, der Bezug bleibt an den Dor­nen hän­gen, reißt ein. “Ja, so war ich auch ein­mal”, sagt sie, “möch­test du einen Tee?“
Ich möch­te kei­nen, will nur nach Hau­se. Ich schütt­le den Kopf, wen­de mich zum Gehen, aber jetzt bre­chen die Wol­ken, es gießt und hagelt auf mich ein, ich flüch­te ins Haus. Vier Stu­fen hoch, ihre Woh­nungs­tür steht offen, vom Flur geht’s gleich in ein Wohn­zim­mer, in der Mit­te ein Holz­ofen. “Setz dich”, sagt die Frau, Sepia stand auf dem Klin­gel­schild. Sie deu­tet auf einen Ses­sel, der zwei­te ist schon besetzt, mit einem alten Mann, “Mein Bru­der”, stellt sie ihn vor.
Er sagt: “Guten Tag”, ich nicke ihm zu, ver­su­che freund­lich zu sein, star­re ihn aber böse an. Sie sind so ver­traut mit­ein­an­der, die bei­den Alten, und mir steht die Ver­gan­gen­heit bis zur Keh­le, ich muss hier wie­der raus, und wer­de von Frau Sepia in den Ses­sel gedrückt. “Ich hol den Tee”, sagt sie, durchs offe­ne Fens­ter sprin­gen nas­se Kat­zen, fau­chen, strei­ten sich um das Kis­sen am Ofen. Ich pres­se mei­ne Bett­de­cke eng an mich.
“Was ist mit dir”, fragt Frau Sepia, als sie ein Tablett mit Tee und Kek­sen auf das klei­ne Tisch­chen neben mich stellt. Ich wei­ne. Der Bru­der zieht ein grün­ka­rier­tes Taschen­tuch aus sei­ner Brust­ta­sche und reicht es mir. Die Frau setzt sich auf das Sofa und schaut zum Fens­ter hin­aus, der Sturm trägt her­ein, was er so fin­det, Blu­men­köp­fe, Staub, schep­pern­de Plas­tik­löf­fel, einen gro­ßen schwar­zen Vogel, zer­zaust, der Schna­bel blut­rot.
“Nichts für dich dabei?”, fragt sie. Ich wische mir mit dem Ärmel übers Gesicht, stre­cke die Hand aus, der Vogel hüpft auf mei­nen Unter­arm, legt den Kopf schief, um mich zu beäu­gen. “Mein Bru­der hat sich gegen mich ent­schie­den”, sage ich. “Vor zwan­zig Jahren.”

Wir sit­zen im Drei­eck um den Ofen her­um, der Sturm heult, peitscht wüten­de Ladun­gen Was­ser auf den Tep­pich, ich zie­he die Füße hoch, die ande­ren blei­ben unbe­weg­lich, die Frau, der Mann, die Kat­zen, nur der Vogel rührt sich, hüpft auf mein Hand­ge­lenk. Ich hole die zwei­te Hand unter der Decke her­vor, streich­le ihn vor­sich­tig, sein Gefie­der wird perl­mutt, alle Far­ben sind im Schwarz ver­bor­gen.
“Er hat­te die Wahl”, sage ich, “das Haus der Groß­el­tern mit sei­nen Schwes­tern zu tei­len oder es für sich zu behal­ten. Mei­ne Mut­ter hat es ihm geschenkt, als wäre er das ein­zi­ge Kind. Und er hat mit gemacht, bei die­sem Betrug.“
Frau Sepia bohrt mit dem Zei­ge­fin­ger ein Loch in den ver­schlis­se­nen Bezug der Arm­leh­ne, pus­tet hin­ein, Säge­spä­ne tan­zen in ihrem Atem. Ich habe es aus­ge­spro­chen. Die Tee­tas­se ist warm, ich trin­ke. Pfef­fer­minz­tee. Der Vogel pickt nach den Kek­sen, die Kat­zen sind ein­ge­schla­fen, auf dem Kis­sen vorm Ofen, auf der Kom­mo­de, im offe­nen Näh­kas­ten, auf dem Schoß des Bru­ders.
Die Frau reißt am Bezug, zieht ihn vom Sofa, “Das wird auch nicht mehr gut”, sagt sie. Mich über­rascht ein hei­te­res Gefühl. Ich habe es aus­ge­spro­chen, nach so vie­len Jah­ren, habe es zum ers­ten Mal benannt, aber gewusst habe ich es natür­lich vor­her schon. Ich woll­te zu Besuch kom­men, in die­ses Haus, das für mich ein Ort vol­ler schö­ner Erin­ne­run­gen war. Er hat­te kei­nen Platz für mich, es gab eine Aus­ein­an­der­set­zung, er hat nicht mehr geschrie­ben. Kein Kon­takt mehr mög­lich. Wie hät­te er mir auch in die Augen schau­en kön­nen?
Es stürmt immer noch, die Bäu­me bie­gen sich, Zwei­ge wach­sen durchs Fens­ter her­ein. Der her­bei gewir­bel­te Staub auf den Rega­len, den Tischen, unse­ren Haa­ren. Regen­was­ser hat den Tep­pich ein­ge­nom­men, der Ofen ver­strömt Wär­me, Frau Sepia lächelt zufrie­den, steckt mich damit an. Der Vogel krächzt, fliegt auf, fin­det den Weg zum Fens­ter hin­aus. Die Kat­ze auf dem Kis­sen vorm Ofen erwacht, streckt sich, tappt über den nas­sen Tep­pich, bei jedem Schritt die Pfo­ten schüt­telnd.
Wol­ken het­zen über den Him­mel, rei­ßen auf, plötz­lich glänzt Son­ne auf nas­sen hell­grü­nen Blät­tern. Der Bru­der ist ein­ge­schla­fen, die Tee­tas­se in sei­ner Hand zur Sei­te gekippt, der Rest Tee tropft in eine Regen­pfüt­ze, und löst sich dar­in auf.