Meine Ohren sind schon wieder größer geworden. Ich betrachte mich lang im Spiegel, bevor ich mir eine Mütze überziehe. Falls ich einen Videoanruf bekomme. Dann nehme ich die Mütze wieder ab. Weil es verdächtig wirkt, bei diesen Temperaturen zu Hause eine Mütze aufzuhaben. Ich beschließe, keinen Videoanruf anzunehmen.
Stattdessen rufe ich, mit meinem Festnetz-Telefon, Fiona an. “Darf ich dir ein Problem erzählen?” “Ich bin ganz Ohr”, sagt sie und ich zucke zusammen. “Ohren wachsen im Alter”, beruhigt mich Fiona, als ich ihr von meinen Befürchtungen erzählt habe, “mach dir da mal keinen Kopf drum.” Ich finde die Formulierung unsensibel. “Gerade der Kopf”, wende ich ein, “fühlt sich den Ohren sehr verbunden.” “Ich meine”, sagt Fiona, “dass du dir nicht so viele Sorgen um deine Ohren machen solltest.” Das sagt sie meistens, wenn ich ihr etwas erzähle. Mach dir keine Sorgen. Meistens hat sie auch recht, und ich muss zugeben, dass ich sie genau deshalb angerufen habe. Um diesen Satz zu hören.
Aber sie hat auch gut reden. Sie hat ganz normale Ohren, die unauffällig am Kopf kleben, in Form bleiben und keinen Anlass geben, über sie nachzudenken oder sie gar zu vermessen. Ich habe gemessen. Das sage ich aber nicht. Ich bedanke mich und stelle das Telefon in die Ladestation, es klickt und ich frage mich, ob ich mit wachsenden Ohren vielleicht auch ein längeres Telefon brauche. Ich versuche, mich zu beruhigen. Vielleicht hören die Ohren auf zu wachsen, wenn ich nicht mehr an sie denke. Ich denke aber. Genau daran. Jeden Tag. Ich bin ganz Ohr.
Ich lege mir jedoch Beschränkungen auf. Ich darf nur einmal die Woche messen. Sonntagmorgen, gleich nach dem Aufstehen. Zwei Stunden später noch einmal. Weil ich Seitenschläferin bin, möchte ich ausschließen, dass sich die Ohren platt gelegen haben und nur deshalb größer sind. Abends messe ich noch einmal. Die Messergebnisse verändern sich im Laufe des Tages nicht. Jede Woche ein halber Zentimeter länger. Meine Ohren werden monströs.
Es sind jetzt schon 7,5 Zentimeter Gesamtlänge. Und es ist nicht das Ohrläppchen, das länger wird, weil die Schwerkraft schon so viele Jahre lang daran zieht, nein, die Ohren werden nach oben hin länger. Wenn das so weiter geht, und Monat für Monat zwei Zentimeter dazu kommen, werden meine Ohren in einem halben Jahr über den Kopf hinaus ragen. Eine Assoziation zu gewissen Tieren bleibt nicht aus.
Wird es dann noch schwieriger für mich, bis über beide Ohren verliebt zu sein? Ich versuche es mit Affirmationen. Meine Ohren schrumpfen jetzt und bleiben dann klein und unauffällig. Aber meine Ohren hören nicht auf mich. Ich versuche es mit dem Gegenteil, stelle mir all die schrecklichen Probleme vor, die ein Mensch haben kann und die ich nicht habe. Auch das hilft nur wenig. Ich ahne es: das Wohlgefühl muss aus einer anderen Quelle kommen.
Bei meinen Recherchen im Internet habe ich keine Beschreibung gefunden, die auf mich zutrifft. Es gibt krankhaften Riesenwuchs, aber dabei wachsen mehrere Körperteile gleichzeitig. Es gibt das Ohrenwachstum im Alter, das aber auf ein bis zwei Zentimeter beschränkt bleibt. Und es gibt eine Amaryllis mit dem Namen Elefantenohr. Ihre Blätter erreichen einen Durchmesser von einem Meter. Schließlich bestelle ich eine. Vielleicht lenkt es mich ab, wenn etwas in meiner Wohnung schneller wächst als meine Ohren. Aber die Pflanze lässt nach drei Tagen die Blätter hängen, und dann siedeln sich Läuse auf ihr an.
Das bringt mich auf den Gedanken, dass sich vielleicht auch auf meinen Ohren etwas angesiedelt hat. Mikroben, die die Zellen der Knorpelmasse zur Teilung anregen können und auf diese Weise das Ohrenwachstum aktivieren, um ihren Lebensraum zu vergrößern.
Menschen möchten ja auch immer mehr Platz zum Wohnen. Ich habe zum Beispiel früher in einem 8 m² großen Zimmer gewohnt, und jetzt habe ich eine Wohnung mit zwei Zimmern und Balkon, 35 m² groß. Das ist ein Faktor von 4,4. Wenn ich das auf das Wachstum meiner Ohren umrechne, die einmal 5 Zentimeter lang waren, dann komme ich auf 22 Zentimeter Länge.
Als ich mit meinen Gedanken an diesem Punkt angelangt bin, werde ich nervös und beginne, in der Wohnung auf und ab zu gehen. Die Sonne scheint und ich rede mir gut zu, eine Fahrradtour zu machen, um mich abzulenken. Da an einem sonnigen Sonntag sehr viele Leute diese Idee haben, meide ich die Fahrradwege ins Grüne und am Fluss entlang und strample durchs Industriegebiet.
Diese Idee hatte sonst niemand, ich bin ganz allein in den grauen Schluchten, zwischen riesigen Kränen, die sich über mich beugen wie interessierte Roboter und mich wegen meiner kleinlichen Probleme verhöhnen. Der Ausflug verfehlt seine entspannende Wirkung, er deprimiert mich.
Montagmorgen erscheint auf meinem Handy eine neue Werbung: Zögern Sie nicht, Ihren HNO Arzt aufzusuchen. Ich zögere aber. Bei einem HNO Arzt war ich das letzte Mal vor sieben Jahren. Damals hatte sich Ohrenschmalz im Gehörgang so verfestigt, dass ich es alleine nicht mehr herauslösen konnte. Der Arzt sagte mir, ich müsse nun jedes halbe Jahr zur Reinigung kommen, damit so etwas nicht mehr passiert.
Und jetzt ist wirklich etwas passiert. Hat das Ohrenwachstum vielleicht mit dem Schmalz zu tun, das, nachdem es nicht entfernt wurde, jetzt sozusagen aus den Ohren heraus wächst? Ich werde wieder sehr unruhig. Ich will nicht schon wieder Fiona anrufen. Zum HNO Arzt will ich noch weniger. Da fällt mir Jennifer ein, die ich neulich bei Fionas Geburtstag kennengelernt habe. Sie studiert Medizin, vielleicht kann sie mich retten. “Großartig!”, ruft Jennifer, als ich ihr mein Problem erzähle, “du kannst deine Daten an das medizinische Institut für Riesenwachstum weiterleiten, anonymisiert natürlich.”
“Institut für Riesenwachstum? Gibt es denn noch mehr Menschen, bei denen die Ohren im Erwachsenenalter größer werden?” “Mehr als du denkst.” “Und”, frage ich hoffnungsvoll, “wird schon an einem Mittel geforscht, um dieses Wachstum zu stoppen?” “Warum stoppen?”, fragt sie. “Im Gegenteil, wir könnten herausfinden, wie dein Körper das macht, um das auch bei anderen anwenden zu können. Überleg doch mal, welche Möglichkeiten du damit hast! Deine Ohren könnten Antennenfunktion übernehmen, Aufhänger für Kopfhörer oder neue Mode-Möglichkeiten generieren.“
Ich bin überrascht, dass die Medizin sich mit Mode beschäftigt. Vorsichtig befühle ich meine Ohren. Antennenfunktion? Ich bin verwirrt. “Ich würde lieber ganz normale Ohren haben”, sage ich und fühle mich konservativ. “Aber dein Körper ist ein Potential! Kennst du Prof. Dr. XXL? Sie unterhält einen YouTube Kanal für wissenschaftliche Neuheiten, mit Millionen von Followern. Da könntest du dich bewerben.”
“Hm”, meine ich nur und beschließe, dass ich mich doch lieber selbst retten will. “YouTube kann ich auch”, sage ich, “oder besser noch Vimeo. Ich eröffne einen Blog, in dem ich meine Ohren vorstelle und die vielfältigen Möglichkeiten, die sich damit ergeben.” “Cool!”, sagt Jennifer.
Nachdem ich sie so beeindruckt habe, bin ich erschöpft und schlafe drei Stunden lang. Dann gewöhne ich mich langsam an den Gedanken, dass ich außergewöhnliche Ohren habe. Ich setze keine Mütze mehr auf, schneide mir die Haare kurz und wappne mich gegen alle möglichen Reaktionen.
Es kommen keine. Noch sind meine Ohren unauffällig. Bei Spaziergängen betrachte ich jetzt Hunde mit einem anderen Blick. Wie sie die Ohren spitzen. Oder flach an den Kopf anlegen. Schlappohren sind auch eine Möglichkeit. Vielleicht sogar die beste. Ich habe nämlich Bedenken, dass ich mit längeren Ohren noch mehr höre als mir jetzt schon lieb ist.
Wenn ich hängende Ohren bekomme, würde ich mir doch noch Ohrlöcher stechen lassen und ein blaues Band durch ziehen. Dann könnte ich bei Bedarf meine Ohren hinter dem Kopf zusammen binden, oder, beim Mittagsschlaf oder auf einer Zugfahrt, zuklappen und mit einer Schleife verschließen. Außerdem könnte ich endlich ganz offensichtlich der Aufforderung widersprechen, die ich immer schon als unangenehm empfunden habe: “Halt die Ohren steif!” Nein, ich bin lieber Schlappohr.