Streifzug durchs Rudiversum

Film von Anne Fri­si­us mit einem Gedicht von mir
zum 80. Geburts­tag mei­nes Adop­tiv­on­kels Rudolf Fri­si­us, Pro­fes­sor für Neue Musik

Gabel führt zwei Serviettenringe über eine Ebene

Streif­zug durchs Rudiversum

Wer rudert so spät durch Nacht und Noten?
Das ist der Rudi in geis­ti­gen Fluten

Kory­phäe, Kos­mo­po­lit
Kon­zep­te Kon­zer­te ein Maxi­mum an Lexi­kon
Kon­gres­se Kon­klu­sio­nen Kol­li­sio­nen mit Idio­ten
Kon­den­sa­tor für kon­kre­te Kom­po­nis­ten
Mit einem König­reich an Zitaten

Was ist Klang?
Ein lee­rer Eimer hol­ter­di­pol­ter
Die Trep­pe run­ter
Spat­zen­schrit­te auf dem Blech­dach
Spa­ten­sti­che ins Sty­ro­por
Mak­ka­ro­ni wenn sie bre­chen unter Trit­ten auf den Flie­sen
Das Gegen­teil von Musik ist Musik

Rudi, Forel­le der Vor­trags­rei­he
Mit Vor­lie­be für Zet­tel und Ton­bän­der
Mit Radio Reden quer durch die Fre­quen­zen
Prä­sen­tiert er ele­gant
Elek­tro­ni­sche Lek­tio­nen
Als schrei­ben­der Beglei­ter
Von Geis­tern mit ähn­li­chem Sie­de­punkt
Kagel Rie­del Schne­bel Rihm
Obses­si­on: Stockhausen

„Streif­zug durchs Rudi­ver­sum“ weiterlesen

Update

Rosanes viertelsternförmiges Gitter mit Puschelblumen

Wenn mein PC abstürzt und sich danach nicht mehr rührt, so wie jetzt, aus­ge­rech­net als ich end­lich mei­ne Steu­er­erklä­rung machen will, dann blei­be ich ganz ruhig. Ich habe ja Phi­lo. Den rufe ich an, der kommt inner­halb von zwei Tagen, hockt sich vor das Gerät und bleibt so lan­ge, bis es repa­riert ist. Wenn’s län­ger dau­ert, legt er sich zwi­schen­durch auf’s Sofa. Sei­ne lan­gen Bei­ne ragen dann einen hal­ben Meter über die Arm­leh­ne hin­aus, und er kann in die­ser Posi­ti­on erstaun­lich gut schla­fen.
Aber Phi­lo hat sein Han­dy aus­ge­schal­tet. Das ist noch nie pas­siert. Was ist los mit ihm? Ich hof­fe, er macht kei­ne digi­ta­le Diät. Ich weiß eigent­lich nicht viel über ihn. Ich habe ihn ken­nen­ge­lernt, als sein Lade­ka­bel den letz­ten Halt in der Jacken­ta­sche ver­lor und auf die Stra­ße fiel. Ich hob es auf und rief ihm nach. Er sah mich erst miss­trau­isch an, aber als er sein Kabel erkann­te, lächel­te er. “Dan­ke!” Er hol­te aus sei­nem Porte­mon­naie eine Visi­ten­kar­te und drück­te sie mir in die Hand. “Linux”, stand dar­auf, und eine Han­dy­num­mer. “Äh, heißt du so?” “Lei­der nicht”, mein­te er.
Als er dann das ers­te Mal da war, habe ich ihn nach sei­nem Namen gefragt. Er seufz­te. “Phi­lo. Mei­ne Eltern hat­ten ein Ren­de­vouz im Bota­ni­schen Gar­ten. Und unter dem Phi­lo­den­dron haben sie sich das ers­te Mal geküssst.” Er sah unglück­lich aus. “Da kannst du ja froh sein, mein­te ich, dass es nicht bei der Kame­lie war. Oder beim Bam­bus. Dann hät­ten sie dich womög­lich Bam­bi genannt.” Er sah mich erstaunt an. “Du hast es geschafft. Zum ers­ten Mal in mei­nem Leben bin ich für mei­nen Namen dank­bar.“
Das war unser ein­zi­ges rich­ti­ges Gespräch. Er macht mir einen beson­ders güns­ti­gen Preis, ich weiß aber nicht, ob wegen dem Kabel oder dem Namen­s­hin­weis. Die Visi­ten­kar­te habe ich noch. Auf der Rück­sei­te steht eine Adres­se. Ich beschlie­ße, hin­zu­fah­ren. Es ist eine klei­ne Stra­ße, Sack­gas­se, die Num­mer 37 ganz am Ende. Ein Wohn­haus aus roten Zie­gel­stei­nen. Auf einem Klin­gel­schild steht Linux. Ob das Phi­los Büro ist?
Ich kling­le und sofort ertönt ein Summ­ton, mit dem sich die Haus­tür öff­net. Im drit­ten Stock steht Phi­lo in der geöff­ne­ten Woh­nungs­tür, im Pyja­ma. Es scheint ihm aber nicht pein­lich zu sein. “Äh, Ent­schul­di­gung. Ich habe dich tele­fo­nisch nicht erreicht …” “Komm rein!” Ich fol­ge ihm in die Küche. Auf dem Tisch lie­gen Bücher, Haar­span­gen, zwei Schar­nie­re und eine Plas­tik­tü­te mit Reis. Eine Ker­ze brennt, dane­ben steht ein Kaf­fee­be­cher. Phi­lo nimmt ihn und trinkt. “Willst du auch einen?“
Ich schütt­le den Kopf, räus­pe­re mich. “Sor­ry, dass ich dich stö­re. Ich woll­te nur fra­gen, ob du mei­nen PC repa­rie­ren könn­test.” Phi­lo zuckt zusam­men und sieht trau­rig aus. Er nimmt die Reistü­te, hält sie vor­sich­tig wie ein Baby, kippt sie von einer Sei­te zur ande­ren. Der Reis rie­selt, etwas Schwar­zes kommt dar­un­ter zum Vor­schein. “Was­ser­scha­den. Es muss trock­nen”, sagt er. “24 Stun­den lang.” Er starrt betrübt auf die Tüte. “Dein Han­dy? Tut mir Leid.”

„Update“ weiterlesen

Unterführung

Spiegelung von Häusern in einem Fenster

Es schlaucht. Die­ser Aus­druck ent­stand wahr­schein­lich in einer Bahn­hofs-Unter­füh­rung. Von allen Bahn­stei­gen strö­men Men­schen die Trep­pen hin­un­ter in den Schlauch hin­ein. Es ist eng und sti­ckig, zu vie­le Gerü­che, alle Fens­ter zei­gen nur Geschäf­te, kei­ne Aus­sicht. Aber nach einer Zug­fahrt gibt es kei­ne ande­re Mög­lich­keit, als die­sen trost­lo­sen Ort zu durch­que­ren, um ins Freie zu kom­men. Ich habe es fast bis zum Aus­gang geschafft, als etwas Mas­si­ves dröhnt und rat­tert und auf mich zu kommt. Es ist eine oran­ge Maschi­ne mit Bürs­ten­fü­ßen — und mit­ten­drin ein bekann­tes Gesicht.
Einen Moment spä­ter kann ich es zuord­nen. Es gehört Mah­mud aus dem Gar­ten­ver­ein. Wenn er oder sei­ne Frau an mei­ner Par­zel­le vor­bei kom­men, unter­hal­ten wir uns manch­mal, über Schne­cken, Hage­but­ten oder die bes­te Art, Kar­tof­feln zu set­zen. Es ist nicht nur die unge­wohn­te Umge­bung, die mir das Erken­nen von Mah­mud erschwert hat, son­dern auch sei­ne grell­oran­ge Klei­dung und die Tat­sa­che, dass er Teil einer Gerä­te-Kom­bi­na­ti­on ist. Mah­mud schiebt einen rie­si­gen Staub­sauber mit brei­ter Düse und rotie­ren­den Bürs­ten an der Sei­te vor sich her und zieht einen Wagen, der brummt und zischt und eine feuch­te Spur zurück lässt. Ich könn­te jetzt einen Schne­cken­witz machen, aber mir ist bei die­sem Anblick nicht zum Lachen zumu­te.
Mah­mud und Aisha haben mir mal ihren Gar­ten gezeigt. Und als ich das ele­gan­te Gar­ten­haus bewun­der­te, mein­te er: “Selbst gebaut. Das ist mein Beruf. Aber lei­der, arbei­ten kann ich nicht, als Tisch­ler. Nicht aner­kannt.” Statt­des­sen macht er so einen Job. Ich fin­de es trau­rig, und mir ist es unan­ge­nehm, so als ob ich ihn bei etwas Pein­li­chem erwischt hät­te. Nicht, dass mir das fremd wäre. Ich habe auch schon Putz­jobs gemacht. Aber nie so öffent­lich.
Ich über­le­ge, ob ich so tun soll, als hät­te ich ihn nicht gese­hen, und fin­de mich beschä­mend. Im nächs­ten Moment ent­deckt Mah­mud mich und winkt mir: “Hal­lo!” Er stellt sei­ne Maschi­ne aus. Sie jault auf, schüt­telt sich, bleibt schließ­lich ste­hen. “Gut dich zu sehen”, sagt er. “Kannst du mir einen Gefal­len tun?” “Ja, ger­ne.” Ich bin erleich­tert, dass ihm anschei­nend nichts pein­lich ist. “Ich muss drin­gend mit Aisha tele­fo­nie­ren. Hier unten hab ich kei­nen Emp­fang. Kannst du mich kurz ver­tre­ten?” Ich zöge­re, nicke aber.
Er zieht schon sei­ne Jacke aus, steigt aus der Vor­rich­tung, die ihn umfan­gen hält. “Die Jacke musst du anzie­hen, ist Pflicht. Ruck­sack kannst du hier unten rein tun. Du fährst ein­fach wei­ter, Gang ent­lang und zurück. Haupt­sa­che, die Maschi­ne bleibt nicht lan­ge ste­hen, sonst kommt der Kon­trol­leur.” Schnell schlüp­fe ich in die Jacke, und neh­me Mah­muds Platz ein. Es gibt kei­ne Mög­lich­keit, mich hin­zu­set­zen, ich muss mit­lau­fen, und bin Teil des Antriebs. Ein biss­chen mul­mig ist mir schon zumu­te, als ich mir die Gur­te umle­ge und die Hal­te­run­gen schlie­ße, bis ich fest ein­ge­bun­den bin. Aber ich sage mir, dass es eine gute Gele­gen­heit ist, etwas für Mah­mud zu tun. Er hat schließ­lich auch ein­mal bei mir Rasen gemäht, als ich ihm erzählt habe, dass ich einen Hexen­schuss habe.
“Fer­tig?”, fragt Mah­mud. Ich nicke, und die Maschi­ne beginnt zu vibrie­ren, es dröhnt und drängt vor­wärts, ich wer­de mit gescho­ben und schon bin ich ein vor­über­ge­hen­der Cyborg. Und gefan­gen in der Unter­füh­rung. Ich ver­su­che, mich nicht elend zu füh­len. Für eine Wei­le wer­de ich das wohl aus­hal­ten. Schließ­lich muss Mah­mud das jeden Tag vie­le Stun­den lang ertra­gen. Immer­hin habe ich jetzt einen Schutz­pan­zer. Und eine ganz ande­re Per­spek­ti­ve. Es ist eine eigen­ar­ti­ge Erfah­rung. Ich bin so auf­fäl­lig und bekom­me kei­ner­lei Beach­tung. Die Leu­te wei­chen dem Putz­ge­rät aus und sehen mich strikt nicht an. Ich bin qua­si unsicht­bar.
Erst am Ende des Tun­nels mer­ke ich, dass ich nicht weiß, wie man die­sen Putzo­mat wen­det. Und den Aus­stell­knopf hat mir Mah­mud auch nicht gezeigt. Womög­lich muss ich wei­ter fah­ren, durch die auto­ma­ti­sche Schie­be­tür raus, am Taxi­stell­platz vor­bei und dann über die Kreu­zung. Wenn ich da bei Rot drü­ber fah­re, krie­ge ich womög­lich Punk­te in Flens­burg.
Im letz­ten Moment fin­de ich einen Hebel und sche­re zur Sei­te aus. Die­se ziem­lich abrup­te Bewe­gung fin­det nun doch Beach­tung, weil ich eini­gen Leu­ten den Weg abschnei­de. Ver­är­ger­te Gesich­ter, Schimp­fen über mei­nen Fahr­stil. Ich bah­ne mir einen Weg quer zur Aus­rich­tung des Men­schen­stroms und ver­su­che, wie­der in eine Längs­bahn ein­zu­sche­ren. Da sehe ich sie und sie sieht mich: Nelly.

„Unter­füh­rung“ weiterlesen

Thymian

Im Wasser spiegelt sich ein Gebäude

Ein grau­er Hund, den ich gleich ver­däch­tig fin­de, weil er das Gesicht einer Löwin hat, kriecht unter die Bank, auf der ich sit­ze, hebt sie an und geht mit ihr, und mir, davon. Halt!, rufe ich, ste­hen­blei­ben! Die­se Bank hat­te einen beson­ders schö­nen Stand­ort, ein biss­chen ver­steckt in den Hecken­ro­sen. Genau­so ver­steckt war ich, und jetzt wer­de ich nicht nur auf den Weg hin­aus getra­gen, son­dern auch den Bli­cken der Men­schen frei gege­ben, die im Park her­um spa­zie­ren und wahr­schein­lich froh sind, wenn sie an einem lang­wei­li­gen Sonn­tag Nach­mit­tag etwas gebo­ten bekom­men. Sie beach­ten mich aber gar nicht.
Der Hund hört auch nicht auf mich, son­dern trot­tet wei­ter, trägt mühe­los mich und die Bank und schleift auch mein Fahr­rad noch mit, das ich mit dem Vor­der­rad ange­schlos­sen habe, weil ich manch­mal auf Bän­ken, in der Son­ne, ein­schla­fe. Das Hin­ter­rad liegt am Boden auf und dreht sich mit, der Len­ker ragt über die Leh­ne. Ich kling­le, um den Hund auf mich auf­merk­sam zu machen. Die Klin­gel scheint kaputt zu sein. Der Schle­gel stößt zwar ans Gehäu­se, vibriert, aber es ist nichts zu hören, statt­des­sen duf­tet es nach Thy­mi­an.
Wahr­schein­lich wächst hier wel­cher, denn der Hund ist vom Weg abge­bo­gen und läuft jetzt zwi­schen lan­gen Grä­sern hin­durch quer über die Wie­se, deren Betre­ten streng ver­bo­ten ist. Aber nie­mand regt sich auf und stoppt uns. Ich sit­ze wei­ter in die­ser lächer­li­chen Posi­ti­on, auf einer hun­de­ge­tra­ge­nen Bank, von der ich zwar absprin­gen könn­te, und, im Neben­her­lau­fen, mit ein biss­chen Geschick­lich­keit, auch mein Fahr­rad befrei­en wür­de, aber ich blei­be sit­zen, weil an so einem Tag wie heu­te auch das noch schief gehen könn­te.
Eben die­ses biss­chen Geschick­lich­keit scheint für mich gera­de nicht abruf­bar zu sein. Auch die Vor­stel­lung, erzäh­len zu müs­sen, dass mein Fahr­rad von einem Hund gestoh­len wur­de und damit Hei­ter­keit aus­zu­lö­sen, lässt mich auf der Bank ver­har­ren, wäh­rend ande­rer­seits der Gedan­ke dar­an, dass ich mich aus die­ser lang­sa­men Ent­füh­rung nicht befrei­en kann, mich noch zag­haf­ter und ängst­li­cher macht. Jetzt nicht wei­nen, den­ke ich, aber schon lau­fen Trä­nen über mei­ne Wan­gen. Ich schlie­ße die Augen und hof­fe, dass mich nie­mand so sieht und dass die­ses graue Tier von allei­ne von sei­nem Vor­ha­ben ablässt.

„Thy­mi­an“ weiterlesen

Ohren

grünblauer Pilz in Ohrenform

Mei­ne Ohren sind schon wie­der grö­ßer gewor­den. Ich betrach­te mich lang im Spie­gel, bevor ich mir eine Müt­ze über­zie­he. Falls ich einen Video­an­ruf bekom­me. Dann neh­me ich die Müt­ze wie­der ab. Weil es ver­däch­tig wirkt, bei die­sen Tem­pe­ra­tu­ren zu Hau­se eine Müt­ze auf­zu­ha­ben. Ich beschlie­ße, kei­nen Video­an­ruf anzu­neh­men.
Statt­des­sen rufe ich, mit mei­nem Fest­netz-Tele­fon, Fio­na an. “Darf ich dir ein Pro­blem erzäh­len?” “Ich bin ganz Ohr”, sagt sie und ich zucke zusam­men. “Ohren wach­sen im Alter”, beru­higt mich Fio­na, als ich ihr von mei­nen Befürch­tun­gen erzählt habe, “mach dir da mal kei­nen Kopf drum.” Ich fin­de die For­mu­lie­rung unsen­si­bel. “Gera­de der Kopf”, wen­de ich ein, “fühlt sich den Ohren sehr ver­bun­den.” “Ich mei­ne”, sagt Fio­na, “dass du dir nicht so vie­le Sor­gen um dei­ne Ohren machen soll­test.” Das sagt sie meis­tens, wenn ich ihr etwas erzäh­le. Mach dir kei­ne Sor­gen. Meis­tens hat sie auch recht, und ich muss zuge­ben, dass ich sie genau des­halb ange­ru­fen habe. Um die­sen Satz zu hören.
Aber sie hat auch gut reden. Sie hat ganz nor­ma­le Ohren, die unauf­fäl­lig am Kopf kle­ben, in Form blei­ben und kei­nen Anlass geben, über sie nach­zu­den­ken oder sie gar zu ver­mes­sen. Ich habe gemes­sen. Das sage ich aber nicht. Ich bedan­ke mich und stel­le das Tele­fon in die Lade­sta­ti­on, es klickt und ich fra­ge mich, ob ich mit wach­sen­den Ohren viel­leicht auch ein län­ge­res Tele­fon brau­che. Ich ver­su­che, mich zu beru­hi­gen. Viel­leicht hören die Ohren auf zu wach­sen, wenn ich nicht mehr an sie den­ke. Ich den­ke aber. Genau dar­an. Jeden Tag. Ich bin ganz Ohr.
Ich lege mir jedoch Beschrän­kun­gen auf. Ich darf nur ein­mal die Woche mes­sen. Sonn­tag­mor­gen, gleich nach dem Auf­ste­hen. Zwei Stun­den spä­ter noch ein­mal. Weil ich Sei­ten­schlä­fe­rin bin, möch­te ich aus­schlie­ßen, dass sich die Ohren platt gele­gen haben und nur des­halb grö­ßer sind. Abends mes­se ich noch ein­mal. Die Mess­ergeb­nis­se ver­än­dern sich im Lau­fe des Tages nicht. Jede Woche ein hal­ber Zen­ti­me­ter län­ger. Mei­ne Ohren wer­den mons­trös.
Es sind jetzt schon 7,5 Zen­ti­me­ter Gesamt­län­ge. Und es ist nicht das Ohr­läpp­chen, das län­ger wird, weil die Schwer­kraft schon so vie­le Jah­re lang dar­an zieht, nein, die Ohren wer­den nach oben hin län­ger. Wenn das so wei­ter geht, und Monat für Monat zwei Zen­ti­me­ter dazu kom­men, wer­den mei­ne Ohren in einem hal­ben Jahr über den Kopf hin­aus ragen. Eine Asso­zia­ti­on zu gewis­sen Tie­ren bleibt nicht aus.
Wird es dann noch schwie­ri­ger für mich, bis über bei­de Ohren ver­liebt zu sein? Ich ver­su­che es mit Affir­ma­tio­nen. Mei­ne Ohren schrump­fen jetzt und blei­ben dann klein und unauf­fäl­lig. Aber mei­ne Ohren hören nicht auf mich. Ich ver­su­che es mit dem Gegen­teil, stel­le mir all die schreck­li­chen Pro­ble­me vor, die ein Mensch haben kann und die ich nicht habe. Auch das hilft nur wenig. Ich ahne es: das Wohl­ge­fühl muss aus einer ande­ren Quel­le kom­men.
Bei mei­nen Recher­chen im Inter­net habe ich kei­ne Beschrei­bung gefun­den, die auf mich zutrifft. Es gibt krank­haf­ten Rie­sen­wuchs, aber dabei wach­sen meh­re­re Kör­per­tei­le gleich­zei­tig. Es gibt das Ohren­wachs­tum im Alter, das aber auf ein bis zwei Zen­ti­me­ter beschränkt bleibt. Und es gibt eine Ama­ryl­lis mit dem Namen Ele­fan­ten­ohr. Ihre Blät­ter errei­chen einen Durch­mes­ser von einem Meter. Schließ­lich bestel­le ich eine. Viel­leicht lenkt es mich ab, wenn etwas in mei­ner Woh­nung schnel­ler wächst als mei­ne Ohren. Aber die Pflan­ze lässt nach drei Tagen die Blät­ter hän­gen, und dann sie­deln sich Läu­se auf ihr an.
Das bringt mich auf den Gedan­ken, dass sich viel­leicht auch auf mei­nen Ohren etwas ange­sie­delt hat. Mikro­ben, die die Zel­len der Knor­pel­mas­se zur Tei­lung anre­gen kön­nen und auf die­se Wei­se das Ohren­wachs­tum akti­vie­ren, um ihren Lebens­raum zu ver­grö­ßern.
Men­schen möch­ten ja auch immer mehr Platz zum Woh­nen. Ich habe zum Bei­spiel frü­her in einem 8 m² gro­ßen Zim­mer gewohnt, und jetzt habe ich eine Woh­nung mit zwei Zim­mern und Bal­kon, 35 m² groß. Das ist ein Fak­tor von 4,4. Wenn ich das auf das Wachs­tum mei­ner Ohren umrech­ne, die ein­mal 5 Zen­ti­me­ter lang waren, dann kom­me ich auf 22 Zen­ti­me­ter Länge.

„Ohren“ weiterlesen

Rolltreppe

Zwei neue Farne mit noch eingerollten Köpfen reichen sich die Blätter

Ich habe den Ver­dacht, dass bei der Erfin­dung der Roll­trep­pe nicht nur die Idee einer Per­so­nen-Beför­de­rung von einem Stock­werk ins ande­re eine Rol­le gespielt hat, son­dern auch oder sogar haupt­säch­lich ein Bezie­hungs­dra­ma. Jeden­falls ist es das, was mir in den Sinn kommt, wenn ich den Ver­lauf einer Fahrt auf der Roll­trep­pe betrach­te .
Etwas Neu­es erscheint, lädt dich ein, bie­tet dir eine Platt­form. Du steigst dar­auf ein, folgst ihr, schwebst, immer höher, mit Leich­tig­keit, auf einer sta­bi­len Grund­la­ge, die dann plötz­lich spur­los im Boden ver­schwin­det wie nie dage­we­sen. Du wirst ein­fach run­ter geschubst, stol­perst, fällst womög­lich. Es läuft nicht mehr. Es ist aus.
Weil der Erfin­der der Roll­trep­pe eine abrup­te Tren­nung nicht ver­ar­bei­ten konn­te, hat er sie mate­ria­li­siert. Und seit­her müs­sen täg­lich Tau­sen­de und Mil­lio­nen von Men­schen die­ses Dra­ma nach­er­le­ben. Aller­dings haben mitt­ler­wei­le die meis­ten gelernt, recht­zei­tig die Füße zu heben, ele­gant abzu­stei­gen und wei­ter­zu­ge­hen, zur nächs­ten Roll­trep­pe.
Es ist gut mög­lich, dass das Benut­zen von Roll­trep­pen die Lebens­form der seri­el­len Mono­ga­mie begüns­tigt. Eine gewis­se zeit­li­che Par­al­le­le ist vor­han­den und auch die Tat­sa­che, dass bei­de Phä­no­me­ne eher in Städ­ten vor­kom­men, unter­mau­ert mei­ne Theo­rie.
Ich habe immer ziem­lich vie­le Theo­rien. Das hilft mir im täg­li­chen Leben aber nicht unbe­dingt wei­ter. Im Gegen­teil. Wahr­schein­lich tun sich Leu­te, die beim Anblick einer Roll­trep­pe nicht an ein Bezie­hungs­dra­ma den­ken, leich­ter damit, sie zu benut­zen. Wäh­rend ich immer noch am Fuße der Roll­trep­pe ste­he und den Flä­chen zuse­he, wie sie sich zur Stu­fe erhe­ben und in die Höhe glei­ten. Viel­leicht hat der Erfin­der der Roll­trep­pe auch eine Nach­ah­mung von Mee­res­wel­len ange­strebt. Die­se sind aller­dings ziem­lich plump gera­ten.
Wie auch immer, ich muss zum Zug und der Auf­zug ist kaputt. Ich war­te, bis ich allei­ne bin, set­ze einen Fuß auf und den zwei­ten dane­ben — es ist eigent­lich ganz ein­fach. Die Roll­trep­pe ist wahr­schein­lich eines der unge­fähr­lichs­ten Verkehrsmittel.

„Roll­trep­pe“ weiterlesen

Bruder

Wil­de Wol­ken zer­fet­zen den Him­mel, Sturm­wind treibt und wir­belt, kein Platz für mei­ne Trau­rig­keit, der Wind reißt alles mit, Blät­ter, Zwei­ge, lose Zie­gel, fest­ge­hal­te­ne Gedan­ken … mei­ne Bett­de­cke wird hoch geho­ben und weg geris­sen. Ich bleib zit­ternd lie­gen, schau zum Him­mel, da fliegt sie, mei­ne Decke mit dem roten Bezug, der mir der liebs­te war.
Ver­stört mach ich mich auf, sie zu suchen, mei­ne Bett­de­cke, und da hängt sie, im Weiß­dorn, ein paar Gär­ten wei­ter. Die alte Frau am Fens­ter schaut mir zu, wie ich die Decke her­un­ter hole, der Bezug bleibt an den Dor­nen hän­gen, reißt ein. “Ja, so war ich auch ein­mal”, sagt sie, “möch­test du einen Tee?“
Ich möch­te kei­nen, will nur nach Hau­se. Ich schütt­le den Kopf, wen­de mich zum Gehen, aber jetzt bre­chen die Wol­ken, es gießt und hagelt auf mich ein, ich flüch­te ins Haus. Vier Stu­fen hoch, ihre Woh­nungs­tür steht offen, vom Flur geht’s gleich in ein Wohn­zim­mer, in der Mit­te ein Holz­ofen. “Setz dich”, sagt die Frau, Sepia stand auf dem Klin­gel­schild. Sie deu­tet auf einen Ses­sel, der zwei­te ist schon besetzt, mit einem alten Mann, “Mein Bru­der”, stellt sie ihn vor.
Er sagt: “Guten Tag”, ich nicke ihm zu, ver­su­che freund­lich zu sein, star­re ihn aber böse an. Sie sind so ver­traut mit­ein­an­der, die bei­den Alten, und mir steht die Ver­gan­gen­heit bis zur Keh­le, ich muss hier wie­der raus, und wer­de von Frau Sepia in den Ses­sel gedrückt. “Ich hol den Tee”, sagt sie, durchs offe­ne Fens­ter sprin­gen nas­se Kat­zen, fau­chen, strei­ten sich um das Kis­sen am Ofen. Ich pres­se mei­ne Bett­de­cke eng an mich.
“Was ist mit dir”, fragt Frau Sepia, als sie ein Tablett mit Tee und Kek­sen auf das klei­ne Tisch­chen neben mich stellt. Ich wei­ne. Der Bru­der zieht ein grün­ka­rier­tes Taschen­tuch aus sei­ner Brust­ta­sche und reicht es mir. Die Frau setzt sich auf das Sofa und schaut zum Fens­ter hin­aus, der Sturm trägt her­ein, was er so fin­det, Blu­men­köp­fe, Staub, schep­pern­de Plas­tik­löf­fel, einen gro­ßen schwar­zen Vogel, zer­zaust, der Schna­bel blut­rot.
“Nichts für dich dabei?”, fragt sie. Ich wische mir mit dem Ärmel übers Gesicht, stre­cke die Hand aus, der Vogel hüpft auf mei­nen Unter­arm, legt den Kopf schief, um mich zu beäu­gen. “Mein Bru­der hat sich gegen mich ent­schie­den”, sage ich. “Vor zwan­zig Jahren.”

„Bru­der“ weiterlesen