Es schlaucht. Dieser Ausdruck entstand wahrscheinlich in einer Bahnhofs-Unterführung. Von allen Bahnsteigen strömen Menschen die Treppen hinunter in den Schlauch hinein. Es ist eng und stickig, zu viele Gerüche, alle Fenster zeigen nur Geschäfte, keine Aussicht. Aber nach einer Zugfahrt gibt es keine andere Möglichkeit, als diesen trostlosen Ort zu durchqueren, um ins Freie zu kommen. Ich habe es fast bis zum Ausgang geschafft, als etwas Massives dröhnt und rattert und auf mich zu kommt. Es ist eine orange Maschine mit Bürstenfüßen — und mittendrin ein bekanntes Gesicht.
Einen Moment später kann ich es zuordnen. Es gehört Mahmud aus dem Gartenverein. Wenn er oder seine Frau an meiner Parzelle vorbei kommen, unterhalten wir uns manchmal, über Schnecken, Hagebutten oder die beste Art, Kartoffeln zu setzen. Es ist nicht nur die ungewohnte Umgebung, die mir das Erkennen von Mahmud erschwert hat, sondern auch seine grellorange Kleidung und die Tatsache, dass er Teil einer Geräte-Kombination ist. Mahmud schiebt einen riesigen Staubsauber mit breiter Düse und rotierenden Bürsten an der Seite vor sich her und zieht einen Wagen, der brummt und zischt und eine feuchte Spur zurück lässt. Ich könnte jetzt einen Schneckenwitz machen, aber mir ist bei diesem Anblick nicht zum Lachen zumute.
Mahmud und Aisha haben mir mal ihren Garten gezeigt. Und als ich das elegante Gartenhaus bewunderte, meinte er: “Selbst gebaut. Das ist mein Beruf. Aber leider, arbeiten kann ich nicht, als Tischler. Nicht anerkannt.” Stattdessen macht er so einen Job. Ich finde es traurig, und mir ist es unangenehm, so als ob ich ihn bei etwas Peinlichem erwischt hätte. Nicht, dass mir das fremd wäre. Ich habe auch schon Putzjobs gemacht. Aber nie so öffentlich.
Ich überlege, ob ich so tun soll, als hätte ich ihn nicht gesehen, und finde mich beschämend. Im nächsten Moment entdeckt Mahmud mich und winkt mir: “Hallo!” Er stellt seine Maschine aus. Sie jault auf, schüttelt sich, bleibt schließlich stehen. “Gut dich zu sehen”, sagt er. “Kannst du mir einen Gefallen tun?” “Ja, gerne.” Ich bin erleichtert, dass ihm anscheinend nichts peinlich ist. “Ich muss dringend mit Aisha telefonieren. Hier unten hab ich keinen Empfang. Kannst du mich kurz vertreten?” Ich zögere, nicke aber.
Er zieht schon seine Jacke aus, steigt aus der Vorrichtung, die ihn umfangen hält. “Die Jacke musst du anziehen, ist Pflicht. Rucksack kannst du hier unten rein tun. Du fährst einfach weiter, Gang entlang und zurück. Hauptsache, die Maschine bleibt nicht lange stehen, sonst kommt der Kontrolleur.” Schnell schlüpfe ich in die Jacke, und nehme Mahmuds Platz ein. Es gibt keine Möglichkeit, mich hinzusetzen, ich muss mitlaufen, und bin Teil des Antriebs. Ein bisschen mulmig ist mir schon zumute, als ich mir die Gurte umlege und die Halterungen schließe, bis ich fest eingebunden bin. Aber ich sage mir, dass es eine gute Gelegenheit ist, etwas für Mahmud zu tun. Er hat schließlich auch einmal bei mir Rasen gemäht, als ich ihm erzählt habe, dass ich einen Hexenschuss habe.
“Fertig?”, fragt Mahmud. Ich nicke, und die Maschine beginnt zu vibrieren, es dröhnt und drängt vorwärts, ich werde mit geschoben und schon bin ich ein vorübergehender Cyborg. Und gefangen in der Unterführung. Ich versuche, mich nicht elend zu fühlen. Für eine Weile werde ich das wohl aushalten. Schließlich muss Mahmud das jeden Tag viele Stunden lang ertragen. Immerhin habe ich jetzt einen Schutzpanzer. Und eine ganz andere Perspektive. Es ist eine eigenartige Erfahrung. Ich bin so auffällig und bekomme keinerlei Beachtung. Die Leute weichen dem Putzgerät aus und sehen mich strikt nicht an. Ich bin quasi unsichtbar.
Erst am Ende des Tunnels merke ich, dass ich nicht weiß, wie man diesen Putzomat wendet. Und den Ausstellknopf hat mir Mahmud auch nicht gezeigt. Womöglich muss ich weiter fahren, durch die automatische Schiebetür raus, am Taxistellplatz vorbei und dann über die Kreuzung. Wenn ich da bei Rot drüber fahre, kriege ich womöglich Punkte in Flensburg.
Im letzten Moment finde ich einen Hebel und schere zur Seite aus. Diese ziemlich abrupte Bewegung findet nun doch Beachtung, weil ich einigen Leuten den Weg abschneide. Verärgerte Gesichter, Schimpfen über meinen Fahrstil. Ich bahne mir einen Weg quer zur Ausrichtung des Menschenstroms und versuche, wieder in eine Längsbahn einzuscheren. Da sehe ich sie und sie sieht mich: Nelly.
Plötzlich habe ich eine Magengrube und dort ballt sich etwas zusammen. Ein Nachmittag in der WG meiner Freundin Mona. Nur, Mona war gar nicht da, hatte sich verspätet. Nelly, die neue Mitbewohnerin, öffnete mir die Tür und bot mir Tee und Kuchen an. “Ich hatte gestern Geburtstag”, meinte sie. “Gratuliere”, sagte ich und fand es nett, Kuchen zu bekommen. Das war wohl auch der Grund, weshalb ich ihre Frage wahrheitsgemäß beantwortete und nicht wie sonst auswich.
“Und, was machst du so?”, fragte sie, ein langes Messer in der Hand, das sie am Kuchen ansetzte. Diese Frage war mir immer unangenehm. Weil ich nicht, wie andere, eine Ausbildung, ein Studium oder einen Beruf vorweisen konnte, der das Bedürfnis nach Einordnung befriedigte. Ich murmelte etwas von meinem Job und sagte dann: “und — ich schreibe.” “Wow, cool! Was schreibst du? Hast du was veröffentlicht?“
Ich hatte Angst vor diesem Wort, “veröffentlichen”. Eine Veröffentlichung schwebte wie eine unerreichbare Messlatte irgendwo hoch über mir. Bei diesem Wort verließ mich mein Selbstbewusstsein und die Liebe zum Schreiben verwandelte sich in etwas Kleinlautes. Nelly hörte sich meine gestotterte Antwort mit gerunzelter Stirn an und meinte dann: “Ach, es ist nur dein Hobby.” Hobby! Plötzlich tat mir das Messer weh, obwohl es doch nur den Kuchen zerschnitt.
Nein, Hobby meinte ich sicher nicht. Ich wollte sagen, dass Schreiben zentral für mein Leben ist, aber Veröffentlichen eine ganz andere Kategorie darstellt, und dass mich das Zwangsläufige von “Was gut geschrieben ist, wird veröffentlicht und muss veröffentlicht werden, um als gut geschrieben anerkannt zu werden”, verzweifeln ließ.
Ich komme jetzt zum vorderen Ausgang, muss wenden, und wieder hinein in die Unterführung. Wieder Nelly, das lange Messer, meine Unfähigkeit zu antworten. Ich glaube, ich habe damals nichts mehr gesagt, oder jedenfalls nichts, was die Sache richtig gestellt hätte. “Hobby” traf ins Herz meiner Unsicherheit. Und jetzt, so viele Jahre später, hat sich meine Situation nicht wesentlich verändert. Sicher, ich habe mittlerweile einen ganz guten Job im Bioladen, und, immerhin, ein Buch im Selbstverlag heraus gegeben, das sich schon 500 mal verkauft hat. Aber die Frage “Was machst du so?” stresst mich immer noch. Weil ein Selbstverlag nicht gilt.
Ich würde so gerne eine coole Antwort geben. “Ich bin Schriftstellerin. Auch wenn die Welt das nicht weiß.” Aber natürlich möchte ich auch Bestätigung. Und sehne mich danach, etwas zu veröffentlichen, Aufmerksamkeit für meine Geschichten zu bekommen, und Geld, das es mir ermöglichen würde, weniger anderweitig zu arbeiten und mehr zu schreiben. Gleichzeitig frage ich mich, welche Auswirkungen es hätte, wenn ich nicht mehr nur für mich, sondern auch für eine gedachte Öffentlichkeit schreiben würde. Wenn es Anforderungen gäbe, Abgabetermine, Änderungswünsche, denen ich nicht zustimmen konnte? Wenn ich nicht mehr einfach schreibe, sondern produziere? Würde es mir möglich sein, mit meinem Eigenen zu bestehen in einer Welt, in der alles auf Vermarktung ausgerichtet ist?
Nelly hatte ich längst vergessen. Dass ich sie ausgerechnet jetzt wieder treffe, wo ich in dieses Putzgerät eingespannt bin, ist nicht gerade angenehm. Obwohl es mir egal sein könnte, frage ich mich, was sie jetzt von mir denkt. Oder jemand anders. Wer weiß, wen ich noch hier treffe. Langsam wird mir heiß, in dieser orangen Jacke, die signalisiert, dass mensch einen minderwertigen Job macht, einen, der nicht angesehen und schlecht bezahlt ist und in dem Individualität nicht erwünscht ist.
Wie würden meine Freund*innen reagieren, überlege ich, wenn ich ihnen als bahnhöfliche Reinigungskraft begegne? Würden sie sich auch, so wie ich, verstecken wollen, wäre es ihnen peinlich? Würden sie so tun, als kennten sie mich nicht? Wer würde stehenbleiben und mich begrüßen? Wer würde mich hinterher nach meinem Job fragen? Hätte das Auswirkungen auf unsere Freundschaft? Und wenn jemand mich nur von einer Lesung kennt und mich dann hier sieht — was denkt sich die Person dann? Wie werden Geschichten gelesen, wenn bekannt ist, dass sie von einer Putzfrau geschrieben wurden?
Und dann kommt Mahmud. Er strahlt. Ich bringe die Maschine zum Stehen. “Sie ist gesund”, ruft er, “sie ist ganz und gar gesund!” “Deine Frau?” “Beide!” Es stellt sich heraus, dass Aisha gerade entbunden hat. Ich weiß, dass ein Kind von ihnen letztes Jahr bei der Geburt gestorben ist. “Oh, da bin ich aber froh”, sage ich. “Ich gratuliere dir!” Seine Freude wirkt ansteckend, ich lächle ihn an. Und dann, nach einem Zögern, umarme ich ihn. Er ist überrascht, drückt mich aber herzlich.
“Warum musst du arbeiten, an so einem Tag?” “Ich hab nicht frei bekommen.” “Wie gemein!” Für einen Moment sieht er traurig aus, dann zuckt er mit den Schultern. “Ich bin froh, dass ich wenigstens telefonieren konnte. Komm, gib mir die Jacke, sonst kommt der Kontrolleur!” Wir tauschen die Plätze. “Vielen vielen Dank!” Dann fährt er davon. Langsam gehe ich zum Ausgang.
Draußen bleibe ich stehen, blinzle in die Sonne, sehe den Tauben zu, die Fastfood-Krumen aufpicken. Wie schafft Mahmud das, so freundlich und fröhlich zu bleiben, mit so einem Job, bei all der Missachtung, die ihm da begegnet, und ich werde durch eine Nelly schon aus der Bahn geworfen? Auf dem Nachhauseweg pflücke ich mir eine dunkellila Rispe von einem Sommerflieder und stelle sie zu Hause in die Vase, und vorm dem Schreiben rieche ich lange daran.
Eine Woche später geht Mahmud an meinem Garten vorbei und ich lade ihn zu einem Schälchen frisch gepflückter Himbeeren ein. Ich frage ihn nach Aisha und seiner neuen Tochter, Rukhsana, und wir plaudern ein bisschen. Ich frage ihn, wie er seinen Job findet. Wenn er was anderes sucht, denke ich, könnte ich ihm dabei helfen. Aber er sagt: “Der Job ist gut. Bezahlung okay, und besser als das, was ich vorher gemacht habe, Toiletten putzen. Es stinkt nicht und ich kann meine eigene Musik dabei hören!”
“Super”, sage ich, “eigene Musik ist wichtig!” “Komm doch am Samstag zum Abendessen zu uns”, meint Mahmud, “dann kannst du Rukhsana kennenlernen.” “Gerne”, sag ich, “bei dem Namen schreibe ich vielleicht sogar ein Gedicht für sie.” “Du kannst Gedichte schreiben?” Mahmud sieht mich bewundernd an: “Das ist ja toll! Ja, ich hätte gerne ein Gedicht für meine Tochter.” Ich strahle. “Heute Abend fang ich damit an”, verspreche ich, und habe auf einmal alle Bestätigung, die ich mir wünschen könnte. “Danke”, sage ich noch, und lasse mir die letzte Himbeere auf der Zunge zergehen.