Kleiderschrank

rote Zwiebelschalen, glänzend im Licht und ins bläuliche changierend

Ich bin ein biss­chen men­schen­scheu. Mei­ne The­ra­peu­tin meint, es könn­te mir hel­fen, manch­mal neue Leu­te ken­nen zu ler­nen. Viel­leicht wäre es wirk­lich gut. Aber immer, wenn es soweit ist, schre­cke ich davor zurück. So wie jetzt, als ich bei mei­ner Freun­din Ali­cia zu Besuch bin und es an der Tür klin­gelt. “Wer ist das?”, fra­ge ich beun­ru­higt. “Ach, wahr­schein­lich nur Herr Sig­ma, ein Bekann­ter, der sich die Bohr­ma­schi­ne aus­lei­hen will. “Tun wir so, als wären wir nicht da”, schla­ge ich vor. Sie sieht mich erstaunt an: “War­um das denn?” Ent­ge­gen mei­nes Rat­schlags macht sie die Tür auf und ich höre, wie sie Herrn Sig­ma eine Tas­se Kaf­fee anbie­tet. Ich will tap­fer sein, aber ich schaf­fe es nicht. Weil der Weg zur Woh­nungs­tür blo­ckiert ist und Ali­cia im drit­ten Stock wohnt, sodass auch eine Flucht durchs Fens­ter nicht mög­lich ist, rei­ße ich kurz­ent­schlos­sen den Klei­der­schrank auf und sprin­ge hin­ein.
Da ver­har­re ich dann, gekrümmt, zwi­schen Kla­mot­ten und Klei­der­bü­gel ein­ge­zwängt, mit klop­fen­dem Her­zen. Eine unan­ge­neh­me Posi­ti­on. Ich hät­te mich lie­ber schnell ver­ab­schie­den sol­len. Ali­ci­as Stim­me klingt gedämpft durch die Klei­der­schrank­tür: “Ich habe eigent­lich Besuch”, sagt sie über­rascht. “Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist, viel­leicht im Bad … ” Ihr bleibt kei­ne Zeit, mich zu suchen, weil Herr Sig­ma sie mit einem Rede­schwall über­schüt­tet.
“Der Erfin­der der Infi­ni­te­si­mal­rech­nung”, sagt er auf­ge­regt, “das bin eigent­lich ich! Ich hab sie nur des­halb nicht erfun­den, weil ich noch nicht gebo­ren war zu der Zeit! Und das ist doch eine Unge­rech­tig­keit, mei­nen Sie nicht auch? Nie­mand kann etwas für sein Geburts­jahr und nicht jeder hat die Mög­lich­keit, alles auf Null zu stel­len, wie Jesus damals, nicht wahr?“
Wie kom­me ich unbe­merkt aus die­sem Schrank wie­der raus? Ich will mich hin­set­zen, bücke mich, um den Boden abzu­tas­ten, ob er sich auch als Sitz­ge­le­gen­heit eig­net, und bekom­me einen Schuh zu fas­sen. Einen Schuh mit Inhalt. Mir stel­len sich die Nacken­haa­re auf. “Psst!”, flüs­tert es im Dun­kel der Blu­sen und Jacken, “ver­rat mich nicht.” “Okay, aber ich will mich auch hin­set­zen, mach Platz.” Nach eini­gem Hin- und Her­rü­cken sit­zen wir bei­de, ich auf einem Man­tel, den ich vom Klei­der­bü­gel geschubst habe.
“Hast du auch Angst vor Besu­chern?”, fra­ge ich ins Dun­kel hin­ein. “Nein, ich bin in Ali­cia ver­liebt.” “Ach so.” Eine selt­sa­me Metho­de der Bezie­hungs­an­bah­nung, aber da ich selbst noch nicht so viel Erfolg dies­be­züg­lich hat­te, hal­te ich mich mit Kri­tik zurück.

Die Frau ist mir sogar sym­pa­thisch. Inter­es­san­ter­wei­se bin ich bei ihr nicht men­schen­scheu. Ich habe kein Pro­blem damit, sie ken­nen­zu­ler­nen, wobei sich das Ken­nen­ler­nen ja auf akus­ti­sche und kinest­hä­ti­sche Ein­drü­cke beschränkt. Immer­hin weiß ich jetzt, wie sich ihr Fuß im Schuh anfühlt, das kann ich von mei­nen bes­ten Freund*innen nicht sagen.
Ich schie­be eine Baum­woll­blu­se zwi­schen mei­ne Wan­ge und die Schrank­wand und leh­ne mich an. Eine Wei­le sit­zen wir still, dann meint sie: “Ich woll­te, irgend­wie, etwas Schö­nes für Ali­cia machen … Und jetzt weiß ich nicht wei­ter.” “Wie bist du denn in die Woh­nung gekom­men?” “Putz­job. Ich ver­tre­te Ron­ja, die radeln­de Put­ze.” “Ange­nehm”, sage ich, und das ist es wirk­lich, auch wenn sie sich genau genom­men noch gar nicht vor­ge­stellt hat.
“Ich habe heu­te Mor­gen hier geputzt, wäh­rend Ali­cia bei der Arbeit war. Und dann woll­te ich ihr einen net­ten Zet­tel hin­ter­las­sen. Ich wuss­te nicht, was ich schrei­ben soll. Also bin ich durch die Woh­nung gegan­gen und habe in ihren Büchern nach schö­nen Sät­zen gesucht und ihre Muscheln in die Hand genom­men und gestrei­chelt. Ich hab mich in ihr Bett gelegt … und dann hab ich plötz­lich den Schlüs­sel in der Woh­nungs­tür gehört. Ich hab Panik bekom­men und bin in den Schrank gesprun­gen. Ist ja prak­tisch, mit den Schie­be­tü­ren.” “Ja, stimmt.” Falls ich mal einen Klei­der­schrank kau­fe, wer­de ich dar­auf ach­ten, dass er kei­ne Schie­be­tü­ren hat, damit dann da nicht immer so vie­le Leu­te drin sit­zen.
Sie seufzt. “Den Putz­job bin ich wahr­schein­lich los. Aber mei­ne The­ra­peu­tin hat gesagt, ich müss­te mich schon ein biss­chen enga­gie­ren, wenn ich eine Bezie­hung woll­te.” Das kommt mir irgend­wie bekannt vor. Und dann fällt mir ein, dass ich heu­te noch The­ra­pie habe. Ich gucke auf mein Han­dy. In einer Stun­de.
“Willst du mich bei der Poli­zei mel­den?”, fragt mich die Unbe­kann­te mehr neu­gie­rig als ängst­lich. “Nein, Quatsch. Wir brau­chen jetzt einen Plan, wie wir mög­lichst ele­gant aus die­sem Klei­der­schrank raus kom­men.” “Oh ja, ele­gant!” Ich habe immer gute Ein­fäl­le, wenn jemand an mich glaubt. “Para­do­xe Inter­ven­ti­on”, schla­ge ich vor. “Ger­ne! Aber — ich weiß nicht, was das ist. Was soll ich sagen?” “Nichts”, ent­schei­de ich. “Aber mach dich bereit!”
“Die Wahr­schein­lich­keit liegt immer zwi­schen Null und Eins”, erklärt Herr Sig­ma gera­de, als ich die Tür auf­schie­be und mit dem Aus­ruf: “Hal­lo, da seid ihr ja!” aus dem Schrank stei­ge. “Äh”, macht Ali­cia, und ich fra­ge sie vor­wurfs­voll: “Wo bist du die gan­ze Zeit gewe­sen?” “Ich?” “Wir haben eine hal­be Stun­de nach dir gesucht.” “Was zum Teu­fel machst du in mei­nem Klei­der­schrank, und wer ist wir?” “Darf ich vor­stel­len?” Ich mache eine schwung­vol­le Ges­te in Rich­tung Schie­be­tür, aber die Unbe­kann­te ver­passt ihren Auf­tritt, ich muss sie her­aus zer­ren. Sie sieht zer­knautscht und zer­knirscht aus, aber sonst ziem­lich nett. “Noch jemand”, ächzt Herr Sig­ma, er ist vom Ses­sel auf­ge­sprun­gen und ganz weiß im Gesicht, wäh­rend Ali­cia rot ange­lau­fen ist. “Ent­schul­di­ge”, sage ich zu ihr, “aber sol­che Gefüh­le erfor­dern unge­wöhn­li­che Maß­nah­men.” Dann packe ich Herrn Sig­ma am Arm: “Wir stö­ren jetzt hier nur.“
Er lässt sich wider­stands­los zur Tür zie­hen. “So etwas habe ich noch nie …”, mur­melt er, als wir die Trep­pe hin­un­ter gehen. “Ent­ge­gen aller Wahr­schein­lich­keit…” Er schaut mich ein paar mal von der Sei­te an, fragt aber nichts, und kaum sind wir aus dem Haus, läuft er los und springt in die Stra­ßen­bahn. Ich schaue zu Ali­ci­as Fens­ter hoch und bin sehr neu­gie­rig, was sich dort oben jetzt abspielt. Zumin­dest ist die Schrank­sit­ze­rin nicht sofort raus geflo­gen. Wenn ihre Metho­de Erfolg hat, pro­bie­re ich sie auch ein­mal. Und mei­ner The­ra­peu­tin kann ich berich­ten, dass ich heu­te zwei Men­schen ken­nen­ge­lernt habe.