Röhren

Unterseite eines Schiffrumpfs mit Eingang zum Röhrensystem

“Wo Sie eine Wand sehen, da sind in Wirk­lich­keit lau­ter Röh­ren, mit ein biss­chen Zie­gel und Mör­tel drum­rum”, sagt der Instal­la­teur und ich nicke. Ich bin sehr froh, dass er gekom­men ist und die­se sprit­zen­de zischen­de Was­ser­ka­ta­stro­phe gestoppt hat. “Wenn Sie möch­ten, neh­me ich Sie mal mit, ins Röh­ren­sys­tem.” Ich nicke wie­der. War­um nicht. “Sie müss­ten aller­dings vor­her drei Wochen fas­ten.” Erst jetzt fällt mir auf, dass er ziem­lich lang­ge­streckt ist. “Das habe ich noch nie gemacht”, wen­de ich ein. “Ganz ein­fach. Nichts essen, das ist alles.” “Prak­tisch”, sage ich diplo­ma­tisch. Ich möch­te es mir nicht mit ihm ver­scher­zen. Es ist so schwer, gute Hand­wer­ker zu bekom­men.
Nach­dem er sich ver­ab­schie­det und die Woh­nungs­tür geschlos­sen hat, mache ich sie wie­der auf, um ihm sicher­heits­hal­ber doch noch zu sagen, dass er sich kei­ne Hoff­nun­gen zu machen braucht. Da sehe ich, dass er bäuch­lings auf sei­nem Werk­zeug­kof­fer liegt und so die Stu­fen hin­un­ter rutscht. Am Ende der Trep­pe gelingt ihm mit einem ele­gan­ten Schwung der Unter­schen­kel die 180 Grad Wen­de mühe­los, bevor er die nächs­ten Stu­fen run­ter­saust. Ich war­te, bis er im Erd­ge­schoss ankommt, und bin froh, dass ihm nie­mand im Trep­pen­haus begeg­net ist.

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Treppenhaus

Eine Treppe mit lila Geländer liegt quer in der Landschaft

Ich habe ein Trep­pen­haus geerbt. Es steht in der Lin­den­stra­ße*, mit einem schö­nen Haus drum­rum, und ich bekom­me eine Maut­ge­bühr, die pro Stock­werk berech­net wird. Je höher oben jemand wohnt, umso mehr kann ich ver­lan­gen. Nur das Ehe­paar im vier­ten Stock links zahlt nichts. Sie haben einen Out­door-Laden und sei­len sich mor­gens ab und klet­tern abends wie­der hoch. Aller­dings hat ein Cou­sin drit­ten Gra­des, der die Fas­sa­de geerbt hat, sie wegen der Schä­den in der Haus­wand ver­klagt. Das Ehe­paar hat sich dar­auf­hin eine Trans­port-Droh­ne ange­schafft. In den Löchern haben sich Schwal­ben ein­ge­nis­tet und die dür­fen aus Natur­schutz-Grün­den nicht gestört wer­den.
Sol­che Schwie­rig­kei­ten habe ich mit mei­nem Trep­pen­haus nicht. Das ein­zi­ge Pro­blem ist, dass ich vor Ort sein muss, um die Maut­ge­bühr ein­zu­trei­ben. Da ich aber sowie­so nur vor­über­ge­hend in einem Gar­ten­haus woh­ne, zie­he ich eben in die Lin­den­stra­ße* um. Es gibt dort einen Vor­raum mit Mar­mor­bo­den, von der Haus­tür eine Halb­trep­pe run­ter, bei den Brief­käs­ten. Unter die Trep­pe zum Erd­ge­schoss kann ich mei­ne Matrat­ze legen, dort habe ich auch ein biss­chen Pri­vat­sphä­re, weil ich einen Vor­hang davor hän­ge. Gegen­über den Brief­käs­ten stel­le ich zwei Stüh­le und einen Tisch auf, und ich besor­ge mir einen Gas­ko­cher und einen Mini-Kühl­schrank. Was­ser und Toi­let­te gibt es im Kel­ler.
* Zu Ähn­lich­kei­ten mit real exis­tie­ren­den Stra­ßen s. Lin­den­stra­ßen-Camp Proteste

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Millionärin

Gänseblümchen in pink und blau

“Du kannst bei uns im Gar­ten­haus woh­nen”, sagt Elli, als ich aus mei­ner Woh­nung raus muss, “es darf nur nicht auf­fal­len.” Zu dem vier­stö­cki­gen Haus, in dem sie mit ihrer WG wohnt, gehört ein gro­ßer Gar­ten, der aber kaum genutzt wird. Das Gar­ten­haus steht ganz hin­ten, links und rechts von Holun­der­bü­schen gestützt.
Es ist grö­ßer als ich gedacht habe: zwei Zim­mer hin­ter­ein­an­der, möbliert. Im ers­ten eine Kom­mo­de mit einer Koch­plat­te dar­auf, im zwei­ten ein Sofa, das sich aus­zie­hen lässt. An einer Wand hän­gen Gar­ten­ge­rä­te und unter der Decke getrock­ne­te Kräu­ter, die her­un­ter rie­seln, wenn die Tür ein biss­chen fes­ter zuschlägt. Unter dem Tisch wohnt ein Rasen­mä­her. Auf dem Boden ent­de­cke ich Mäu­se­köt­tel. Neben dem Fens­ter steht eine Hei­li­gen­sta­tue mit einem Spa­ten in der Hand. “Hat wahr­schein­lich der Gärt­ner hier rein­ge­stellt”, sagt Elli, als sie mei­nen Blick sieht, “der hat frü­her hier gewohnt.“
Es gibt Strom und Was­ser aus einem Gar­ten­schlauch, aber kei­ne Toi­let­te. “Komms­te ein­fach zu uns”, meint Elli, “die Leu­te im Haus kön­nen uns sowie­so nicht aus­ein­an­der hal­ten. Es ist sicher nicht erlaubt, hier zu woh­nen, des­halb ver­steckst du dich am bes­ten, wenn jemand kommt. Aber wahr­schein­lich kommt nie­mand. Den Gar­ten macht jetzt eine Fir­ma, und die haben ihre eige­nen Gerä­te.“
Ich nicke zu allem, ich bin froh, dass ich hier unter­kom­men kann. Wenn ich aufs Klo muss, set­ze ich eine Base­ball­kap­pe ver­kehrt her­um auf und grin­se frech, wenn ich jeman­den im Trep­pen­haus tref­fe. Und nach­dem ich fest­ge­stellt habe, dass die Hei­li­gen­sta­tue hohl ist, übe ich solan­ge, bis ich blitz­schnell in sie hin­ein schlüp­fen kann. Das ist das ers­te, was mir ein­fällt, als mei­ne Bera­te­rin im Job­cen­ter, Frau Fink, mich nach mei­nen Qua­li­fi­ka­tio­nen fragt: Ich kann mich gut verstecken.

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Briefkasten

Distelkopf mit schwarzem Auge

Das Tier, das in mei­nem Brief­kas­ten wohnt, ist nicht oft zu Hau­se. Ich habe es nur ein­mal gese­hen. Als ich den Brief­kas­ten auf­ge­macht habe, ist es durch den Brief­schlitz nach drau­ßen gehuscht: grau­brau­nes Fell, kur­zer brei­ter Schwanz. An mei­nen Brie­fen sind jetzt häu­fig die Ecken abge­bis­sen und auf der Zei­tung klebt Schleim. Ich rege mich nicht sehr dar­über auf, ich bekom­me fast nur Rech­nun­gen, und die Zah­len sind gut zu lesen, trotz der Biss-Spu­ren. Der Schleim sieht eke­lig aus, ist aber durch­sich­tig, sodass ich die Zei­tung trotz­dem lesen kann.
Eines Tages bekom­me ich eine Bücher­sen­dung und vom Kar­ton ist ein gro­ßes Stück abge­bis­sen. Erst da kommt mir der Gedan­ke, dass das Tier mir gefähr­lich wer­den könn­te. Ich set­ze jetzt immer einen Helm auf, bevor ich den Brief­kas­ten öffne.

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Wohnungssuche

Kredenz mit Fuß-Waschbecken im Verlies

Der Flur ist nur einen Meter fünf­zig hoch, wir müs­sen gebückt hin­durch gehen. Der Herd ist grö­ßer als die Küche. Zum Bad geht es über eine Lei­ter, die auf dem Bal­kon steht. Das Schlaf­zim­mer ist drei­eckig, es wird kein Bett hin­ein pas­sen. Ich kann es zurecht sägen, den­ke ich. Und das Wohn­zim­mer wirkt geräu­mig. Das Moos an den Wän­den lässt sich wahr­schein­lich leicht abkrat­zen. “Ich neh­me sie”, sage ich. Du schüt­telst sehr lang­sam den Kopf.
Ich bin so müde vom vie­len Suchen … ich lege mich auf den Tep­pich. Ein senf­gel­ber Tep­pich vol­ler Fle­cken, ich bin wahr­schein­lich ver­wandt mit ihm. Zumin­dest füh­le ich mich genau­so, gelb und fle­ckig, und in mei­nem Gehirn reiht sich Schlau­fe an Schlau­fe an Schlau­fe. Der Mak­ler räus­pert sich, ein unge­dul­di­ger jun­ger Mann im Anzug. Er trägt einen gol­de­nen Helm, der spitz zuläuft. Viel­leicht geht er manch­mal zum Angriff über, rennt mit gesenk­tem Kopf los und spießt jeman­den auf.
Über mir brummt etwas. An der Decke klebt eine Höh­le aus Lehm, eine Art Dachs schaut her­aus, das Brum­men kommt von ihm. Es hört sich nicht direkt dro­hend an, aber doch unfreundlich.

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Straßenbahn

Gelbe Pilz-Schlange

Sams­tag, halb eins, Glatt­eis. Gedrän­ge an der Hal­te­stel­le. Ich las­se mich mit ins Inne­re der Stra­ßen­bahn schie­ben, bekom­me ein frei­es Sitz­pols­ter zu fas­sen und las­se es nicht mehr los, bis ich mich dar­auf fest­ge­klemmt habe, beschwert durch mei­ne Ein­kaufs­ta­sche vol­ler Gemü­se.
Als es soweit ist, dass eine gewis­se Gemüt­lich­keit ein­tre­ten könn­te — der Zeit­raum, in dem die Füße nicht mehr weh tun, und die Hämor­rhoi­den noch nicht – tritt statt­des­sen jemand anders ein und sagt: „Fahr­schein­kon­trol­le“. Ich müss­te sofort auf­sprin­gen und mich zum Auto­ma­ten drän­geln, aber ich blei­be sit­zen. Es ist die­se erdrü­cken­de Sinn­lo­sig­keit.
Alle zei­gen ihren Fahr­schein, gleich­gül­tig, neben­bei. Wenn man einen hat, ist es kei­ne gro­ße Sache. Man macht sich kei­ne Gedan­ken dar­über. Es ist nor­mal, dazu zu gehö­ren, etwas zei­gen zu kön­nen, einen Beweis: ich gehö­re hier­her. Mir fehlt die­ses grund­le­gen­de Gefühl sowie­so, des­halb wür­de es mir nichts nüt­zen, einen Fahr­schein zu kau­fen. Ich wür­de mich damit nicht bes­ser füh­len. Das heißt, im Moment schon, jetzt, wo die­ser kurz ange­bun­de­ne Kon­trol­leur vor mir steht und sich über nichts ande­res unter­hal­ten will als nur über die­sen einen Fahr­schein, den ich nicht habe.

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