Ei

Das untere Ende einer Banane, der Abschluss wirkt wie eine Nase, ein Fleck auf der Schale wie ein Auge

“Hal­lo!” Ein klei­ner Jun­ge winkt mir. Ich bin bei einer Freun­din in Köln zu Besuch. Vor­mit­tags arbei­tet sie, ich gehe im Vier­tel spa­zie­ren. Und da, in einer klei­nen Stra­ße, beugt sich ein Jun­ge aus einem Fens­ter im Erd­ge­schoss: “Willst du was Schö­nes sehen?”, fragt er mich, als ich näher kom­me. Er ist viel­leicht fünf, wirkt ernst­haft. “Ja”, sage ich. “Dann komm rein!” Er ver­schwin­det und taucht wenig spä­ter an der Tür wie­der auf. “Schnell!“
Ich zöge­re. “Bist du allei­ne zu Hau­se?” “Mei­ne Schwes­ter ist da. Aber sie hört nix.” Er deu­tet Kopf­hö­rer über den Ohren an. Dann nimmt er mei­ne Hand und zieht dar­an. Ich mer­ke, dass ich mich unbe­hag­lich füh­le, wenn ich mit einem Kind mit­ge­he, weil es so ver­letz­lich ist. Geh nie mit einem Frem­den mit. Eine ver­que­re Situa­ti­on.
Aber ich bin viel zu neu­gie­rig, um nicht mit­zu­ge­hen. In der Woh­nung führt mich der Jun­ge in ein Zim­mer mit drei Kin­der­bet­ten, in dem sich das Durch­ein­an­der gemüt­lich gemacht hat. Er zieht einen Schuh­kar­ton unter einem Bett her­vor, öff­net ihn behut­sam. Dar­in ist ein blau­er Stoff zusam­men geknüllt, eine Leg­gins, wie ich am Bund erken­ne. Vor­sich­tig zieht der Jun­ge den Stoff bei­sei­te. Da liegt ein Ei. Ein brau­nes Hüh­ner­ei, ein biss­chen gespren­kelt. “Siehst du?”, flüs­tert er. “Ja”, ich flüs­te­re auch. “Weißt du, was da drin ist?” “In dem Ei?” “Ja.” Ich den­ke an Eiweiß und Dot­ter, sage aber sicher­heits­hal­ber “Nein.” “Ein Küken.” Er strahlt mich an. “Da ist ein klei­nes Küken drin und wenn das Ei immer warm bleibt, dann kommt es her­aus.”
“Oh”, sage ich. Ich bin wirk­lich über­rascht, obwohl ich natür­lich weiß, dass Küken aus einem Ei schlüp­fen, aber der Anblick eines Eis, stel­le ich fest, lässt mich nur an Rühr­ei oder Kuchen den­ken. “Woher weißt du das?” “Frau Hen­se hat es gesagt. Sie wohnt im Kin­der­gar­ten und ich besu­che sie immer.” “Und woher hast du das Ei?” “Aus dem Kühl­schrank.”
“Hm”, sage ich und fra­ge mich, ob ich so eine Hoff­nung jetzt schon zer­stö­ren soll oder nicht. “Das ist nicht geklaut”, erklärt mir der Jun­ge, “ich habe ein­fach ein Ei weni­ger geges­sen.” “Ist das Ei gekocht?”, erkun­di­ge ich mich. “Natür­lich nicht!”, empört sieht er mich an. “Wer gekocht ist, ist tot.” “Ach so ja, klar”, sage ich. “Im Kühl­schrank ist es zu kalt”, sagt der Jun­ge gedul­dig, als ob er mir etwas bei­brin­gen müss­te, “da kön­nen die Küken nicht grö­ßer wer­den. Sie brau­chen Wär­me.“
Ich nicke. Er spürt mei­ne Zwei­fel und sieht mich nach­denk­lich an. Ich habe so Sät­ze im Kopf wie die, dass man Kin­dern immer die Wahr­heit sagen soll­te. War­um aus­ge­rech­net Kin­dern, wo man doch allen Men­schen ab und zu Unwahr­hei­ten sagt? Mir fällt das Gedicht eines fin­ni­schen Dich­ters ein. Sei­nen Namen habe ich ver­ges­sen und vom Gedicht weiß ich auch nur mehr zwei Zei­len: Auch die Unwahr­hei­ten sind wahr, denn sie haben Ursa­chen und Fol­gen und folg­lich ihr eige­nes Leben.

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Wasserhahn

Das Innere einer Pusteblume

Als ich nach dem Auf­ste­hen durs­tig in die Küche kom­me, habe ich ver­ges­sen, dass heu­te Vor­mit­tag das Was­ser abge­stellt ist, und öff­ne den Was­ser­hahn. Er röchelt und spuckt eine rot­brau­ne Brü­he aus, dann hus­tet er und sagt: “So ein Scheiß.”
“Wie bit­te?”, fra­ge ich nach, obwohl ich wahr­schein­lich nur mei­ne eige­nen Gedan­ken gehört habe. “Ich has­se die­ses Was­ser abstel­len!”, krächzt es jetzt. “Sind Sie der Instal­la­teur?” Wahr­schein­lich ist es eine Schall­über­tra­gung, wie sie auch an Hei­zungs­röh­ren vor­kom­men kann. “Ich bin die Arma­teu­rin!”, knurrt es. Es dau­ert einen Moment, bis ich mir einen Reim auf das Wort machen kann. “Von Arma­tur?”, fra­ge ich. “Offen­sicht­lich! Du kannst Han­nah zu mir sagen.” Han­nah? Das Gespräch ist so ver­stö­rend, dass ich schnell den Hebel nach unten drü­cke. Dann star­re ich den Hahn minu­ten­lang an. Mei­ne Vor­mie­te­rin hat nichts von einer spre­chen­den Arma­tur erzählt.
War da wirk­lich was? Du hast zu viel Fan­ta­sie, hat mei­ne Mut­ter immer zu mir gesagt. Wahr­schein­lich habe ich mir etwas ein­ge­bil­det. Ich öff­ne den Hebel wie­der. Es ruckelt und knarrt in der Lei­tung. “Du schon wie­der!”, faucht es. “Ich woll­te nicht stö­ren”, stot­te­re ich. “Zu spät! Was gibt’s?” “Naja, ich wun­de­re mich … dass ein Was­ser­hahn spre­chen kann.” “Selbst schuld!”
“Ich mei­ne, das ist ja schon eine beson­de­re Fähig­keit, für einen Was­ser­hahn. Oder kön­nen das die ande­ren Häh­ne auch?” “Kei­ne Ahnung, wie die ande­ren das machen. Ich komm nicht viel rum.” “Ach so ja, Ent­schul­di­gung.“
Neu­lich habe ich in einem Buch mit dem Titel “Mathe­ma­tik im All­tag” gele­sen, dass sta­tis­tisch gese­hen jeder Mensch ein­mal im Monat ein Wun­der erlebt. Und ich hat­te die­sen Monat noch keins. Ein spre­chen­der Was­ser­hahn also. “Sonst noch was?”, knurrt Han­nah. “Ja”, sage ich schnell, weil ich mir doch ein Gespräch mit einem Was­ser­hahn nicht ent­ge­hen las­sen kann. “Dann mach’s kurz, ich hab wenig Zeit.”
“Was hast du denn zu tun?”, fra­ge ich erstaunt. “Na, zunächst ein­mal bin ich eine Schnitt­stel­le für das Unter­net.” Unter­net. Plötz­lich sehe ich die Arma­tur als sicht­ba­ren Teil eines rie­si­gen Sys­tems, all die Lei­tun­gen im Haus, die Roh­re, die Kana­li­sa­ti­on, Was­ser­wer­ke, Reser­voirs, Quel­len, Grund­was­ser, irgend­wo tief in der Erde.
“Aber das ist nur ein Neben­job. Haupt­be­ruf­lich bin ich Instal­la­ti­ons­künst­le­rin.” “Ach. Ja?” “Du dach­test wohl, nur Men­schen kön­nen Kunst machen, was?” “Ja”, gebe ich zu. “Das kommt nur daher, weil Men­schen immer Bestä­ti­gung brau­chen. Ich weiß, dass ich glän­ze. Und ich hab ganz ohne Face­book weit­rei­chen­de Ver­bin­dun­gen, Insi­der Wis­sen und Tiefenwirkung.”

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Geschichte

Im Herbst spa­zie­re ich ger­ne durch die Par­zel­len­ge­bie­te. Da leuch­ten Blu­men und rote Wein­blät­ter, der Efeu blüht und ist von Bie­nen umschwärmt, manch­mal fin­de ich Äpfel in Plas­tik­tü­ten auf dem Weg, zum Mit­neh­men. Ein­mal steht eine Tür offen, und ich sehe einen rie­si­gen oran­gen Kür­bis. Die Pflan­ze ist an einem Tisch hoch geklet­tert und die Frucht thront dar­auf eine Köni­gin. Als ob sie mich her­bei­win­ken wür­de, fol­ge ich dem Weg mit den schie­fen Plat­ten. Ich bin noch nicht weit gekom­men, da fällt hin­ter mir das Gar­ten­tor zu und eine Stim­me sagt: “Dar­auf war­te ich schon den gan­zen Som­mer. Ich muss Ihnen etwas erzäh­len.” Eine klei­ne kräf­ti­ge Frau, graue Haa­re, mit einer Hacke in der Hand, steht bei der Zypres­se.
“Ich … woll­te mir nur den Kür­bis anse­hen”, stot­te­re ich. “Die­ser Kür­bis gehört Ihnen, wenn Sie mir zuhö­ren. Drin­nen ist es warm.” Sie deu­tet auf ein klei­nes Haus, das rot gestri­chen ist und vom Efeu bewach­sen wird. Ich zöge­re, suche nach einer Aus­re­de. “Wird schon”, sagt sie. “Pfef­fer­minz Tee?” “Ja, ger­ne.” Sie lehnt die Hacke an die Haus­wand und ver­schwin­det im Häus­chen.
Jetzt könn­te ich gehen. Wenn ich nur nicht immer so neu­gie­rig wäre. Ich luge durchs Fens­ter. Auf dem Tisch ste­hen zwei Tel­ler mit zwei Bechern bereit. Und in der Mit­te ein Scho­ko­la­den­ku­chen. Er sieht gut aus. Ich hof­fe nur, dass er nicht auch schon den gan­zen Som­mer über auf mich war­tet. Die Frau stellt jetzt einen Krug auf den Tisch, aus dem es dampft. Sie winkt mir. “Kom­men Sie!”
“Was möch­ten Sie denn erzäh­len”, erkun­di­ge ich mich, als ich Platz genom­men habe. “Wie die­ser Kür­bis zustan­de gekom­men ist.” “Okay”, sage ich erleich­tert. Ich habe eini­ge Erfah­run­gen mit Hobby-Gärtner*innen. Vie­le davon sind ein biss­chen fana­tisch und man­che spre­chen mit ihren Pflan­zen wie mit Haus­tie­ren. “Sie brau­chen nur zuzu­hö­ren, sagen Sie nichts dazu.” Auch das ist kein unge­wöhn­li­cher Wunsch. Die meis­ten Men­schen seh­nen sich danach, unwi­der­spro­chen reden zu kön­nen. “Ich muss es jetzt end­lich ein­mal erzäh­len.” Es ist die­se Dring­lich­keit und der kum­mer­vol­le Aus­druck auf ihrem Gesicht, die nicht zu einer harm­lo­sen Kür­bis­ge­schich­te pas­sen wollen.

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Einkauf

Ich gehe nicht ger­ne Kla­mot­ten ein­kau­fen. Aber bei mei­ner Jacke ist der Reiß­ver­schluss kaputt, er lässt sich nicht mehr ganz öff­nen. Um die Jacke aus­zu­zie­hen muss ich sie zu Boden glei­ten las­sen und dann her­aus stei­gen, wor­in ich zwar eine gewis­se Geschick­lich­keit ent­wi­ckelt habe, aber bei dem Vor­stel­lungs­ge­spräch nächs­te Woche macht es viel­leicht einen ungüns­ti­gen Ein­druck, wenn ich mei­ne Jacke vom Boden auf­he­be. Ich habe schon eine Wei­le gewar­tet, ob mir viel­leicht jemand eine Jacke schenkt. Es ist aber nicht pas­siert und jetzt muss ich in ein Geschäft hin­ein.
“Geh zu “Kauf­doch”, hat Filo gesagt. “Dort gibt es gera­de Ange­bo­te.” Ich gehe los, als es schon dun­kel ist, damit ich nicht so viel von der Fuß­gän­ger­zo­ne sehe. Ich habe jedoch nicht mit der Licht­re­kla­me gerech­net. Als ich bei Kauf­doch ankom­me, füh­le ich mich schon ver­aus­gabt. Ich raf­fe drei Jacken an mich und eile zur Umklei­de­ka­bi­ne.
Das bes­te an einem Kla­mot­ten­ge­schäft sind die Umklei­de­ka­bi­nen. Ich kann den Vor­hang vor­zie­hen und habe einen klei­nen Raum zum Erho­len. Aber bevor es soweit kommt, wer­de ich am Schla­fitt­chen gepackt und nach hin­ten geris­sen: “Halt! Hier woh­ne ich.” Tat­säch­lich sehe ich im Inne­ren der Umklei­de­ka­bi­ne, die ich gera­de betre­ten woll­te, einen Gas­ko­cher mit Was­ser­kes­sel dar­auf und dane­ben, auf einem Tablett, zwei Tas­sen. “Ent­schul­di­gung, das wuss­te ich nicht.” “Stimmt, du bist neu hier.” Die Frau mus­tert mich von oben bis unten. “Wills­te ne Tas­se Tee?”
“Ja, ger­ne.” Ich lege die Jacken auf einen Aus­la­gen­tisch und set­ze mich zu der Frau in die Kabi­ne, auf einen der bei­den Hocker. Sie zieht den Vor­hang zu und schenkt mir Tee ein. “Milch, Zucker, Kuchen?” “Ger­ne alles. Dan­ke. Und Sie — woh­nen hier?” “Sags­te wohl “du” zu mir! Siehs­te ja, dass ich hier wohn.” “Aber, wie geht das? Das ist doch ein Kauf­haus! Und wo schläfst du?” “Na, in der Bet­ten-Abtei­lung. Logisch. Hier ist nur mein Emp­fangs­zim­mer.” “Ach so.” Ich kom­me mir irgend­wie dumm vor. So, als ob ich etwas nicht mit­be­kom­men hät­te. “Und — haben die hier gar nichts dage­gen?” Sie lacht, trinkt in gro­ßen Schlu­cken. “Ha! Dage­gen schon. Müs­sen sich aber vor mir hüten.” “Bist du gefährlich?”

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Tod

Filigranes weißes rundes Pflanzengerippe mit Metallrand

Ein son­ni­ger Herbst­tag, ich sit­ze auf einer Bank an der still­ge­leg­ten Bahn­li­nie, zwi­schen einem knor­ri­gen Holun­der und einer Schar Bren­nes­seln, die mich über­ra­gen, und schaue in die blaue Luft. Glöck­chen klin­geln, kom­men näher. Sie hän­gen an einem Rol­la­tor, zusam­men mit Wim­peln in ver­schie­de­nen Far­ben, Blu­men­g­hir­lan­den und einem lee­ren roten Ein­kaufs­netz; im Git­ter­korb drei Hand­ta­schen, rein­ge­knautscht. Die Frau, die den Rol­la­tor schiebt, trägt einen vio­let­ten Stroh­hut. Als sie näher kommt, sehe ich, dass sie weint. Schnell schaue ich weg, aber sie bleibt vor der Bank ste­hen, schluchzt. Ver­le­gen zie­he ich eine Packung Taschen­tü­cher aus mei­ner Fahr­rad­ta­sche, bie­te ihr eines an. Sie nimmt es, schnaubt hin­ein und lässt sich neben mich auf die Bank fal­len: “Kennst du auch jeman­den, der schon tot ist?” Ich zöge­re. “Ja, meh­re­re”, sage ich schließ­lich, und über­le­ge, wie ich aus die­ser Situa­ti­on wie­der raus kom­me.
Die Frau weint wei­ter, ich mus­te­re sie ver­stoh­len. Auf ihrer Blu­se pran­gen Schmet­ter­lin­ge, die Hose hat ein Leo­par­den­mus­ter. Ich stel­le fest, dass ich die Kla­mot­ten mag, mich aber nicht trau­en wür­de, sie anzu­zie­hen, schon gar nicht in Kom­bi­na­ti­on, obwohl ich Schmet­ter­lin­ge mag, und Leo­par­den auch. “Wer ist denn gestor­ben?”, fra­ge ich.
“Micha.” Die Frau neben mir haut mit der Faust auf die Park­bank: “War­um ist das so? Tod und vor­bei. War­um kommt er nicht wie­der?” Ich seuf­ze. Jetzt sit­ze ich hier mit die­sen Todes­fra­gen, auf die es kei­ne Ant­wort gibt. Ich will mich nicht von der Trau­rig­keit anste­cken las­sen, aber es ist schon zu spät. So ein unan­ge­neh­mes Gefühl im Bauch. Gleich fan­ge ich an zu wei­nen. Ich will gehen. Aber das kommt mir gemein vor.
Auf ein­mal sind sie da, ste­hen vor mir, mei­ne Toten, gestor­ben durch Krebs, Sui­zid, Herz­in­farkt, Ertrin­ken. Das War­um? nach jedem Tod. Das Loch in mei­ner See­le. Der Unsinn des Todes. Das Unvor­stell­ba­re, an das man sich letzt­end­lich gewöhnt. Was man ver­gisst. Jeden Tag ver­ges­sen wir unse­re Toten. Und plötz­lich ste­hen sie vor mir, an einem son­ni­gen war­men Tag, her­bei gekom­men mit einem glöck­chen­k­lin­geln­den Rol­la­tor.
“Es war noch nicht fer­tig.” “Was war noch nicht fer­tig?” “Er schul­det mir noch einen Scho­ko­rie­gel, min­des­tens.” Ich kra­me in mei­ner Fahr­rad­ta­sche, hole den Rie­gel aus Milch­scho­ko­la­de her­aus, den ich seit eini­ger Zeit immer bei mir tra­ge: “Für dich.” Sie schaut mich an, ihr Mund zieht sich zu einem Lächeln: “Heißt du auch Micha?” “Nein”, ich schütt­le abweh­rend den Kopf. Als ich ihren ent­täusch­ten Blick sehe, ände­re ich mei­ne Mei­nung: “Du kannst Micha zu mir sagen”, schla­ge ich vor. “Ja? Triffst du dich auch jeden Frei­tag mit mir, um drei am Aldi-Fla­schen­au­to­ma­ten?” Damit habe ich nicht gerechnet.

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Brille

psychedelisches lila WesenIn der Stra­ßen­bahn springt mir ein zot­te­li­ges Tier auf den Schoß, stemmt sei­ne Vor­der­bei­ne gegen mei­ne Schul­tern und leckt mir das Gesicht, außer sich vor Freu­de über unser Wie­der­se­hen, als hät­te uns ein Unglück vor Jah­ren getrennt — eine Erd­spal­te viel­leicht, die sich zwi­schen uns auf­ge­tan hat, und die die Stra­ßen­bahn kraft ihrer Schie­nen über­wun­den hat.
Aber ich ken­ne das Tier nicht. Es scheint ein Hund zu sein, weil es ein Hals­band hat, das ich in mei­ner Abwehr­re­ak­ti­on zu fas­sen bekom­me. Ich zie­he dar­an, um die­se schlab­be­ri­ge Zun­ge von mei­nem Gesicht abzu­hal­ten. Es gelingt mir nicht. Schließ­lich tau­che ich unter dem Tier hin­durch, sodass ich auf dem Boden zu lie­gen kom­me, wäh­rend der Hund auf mei­nem Sitz thront und mich freu­dig anbellt.
“Er mag sie!”, ruft eine Stim­me ent­zückt und eine Frau mit fuchs­far­be­nem Haar und einem Fahr­schein in der Hand eilt auf das Tier zu und bedeckt es mit Küs­sen. “Pomo­do­ro, was hast du gemacht? Jetzt muss die Frau auf dem Boden sit­zen!” Pomo­do­ro wedelt mit dem Schwanz. Er zeigt kei­ne Tat­ein­sicht, war­um auch, er fin­det es wahr­schein­lich nicht schlimm, dass zur Abwechs­lung mal jemand anders auf dem Boden sit­zen muss.
“Er ist aus dem Tier­heim”, erklärt mir die Frau, “des­halb darf man ihn nicht zu sehr tadeln. Sonst ver­kriecht er sich.” Das wür­de mir in die­sem Moment nichts aus­ma­chen, den­ke ich, wäh­rend ich die Hand ergrei­fe, die die Frau mir reicht, um mir beim Auf­ste­hen behilf­lich zu sein. “Sind Sie okay?”, fragt sie, als wir auf Augen­hö­he mit­ein­an­der spre­chen kön­nen. Ich nicke und sie gibt mir ein Taschen­tuch, mit dem ich mir den Schleim vom Gesicht wischen kann.
“Pomo­do­ro ist eigent­lich sehr zurück­hal­tend”, erzählt sie wei­ter. “Dass er Sie so begrüßt hat, bedeu­tet, dass Sie ein ganz beson­de­rer Mensch sind.” Sie sieht mich so bewun­dernd an, dass ich ihr noch nicht ein­mal böse sein kann. “Kom­men Sie uns doch besu­chen!” “Äh … ich muss zum Job­cen­ter.” “Wir kön­nen Sie beglei­ten!” Bevor ich dazu kom­me, die­ses Ange­bot ele­gant abzu­leh­nen, fasst mir die Frau ins Haar. “Was haben Sie denn da?” Sie zieht mei­ne Lese­bril­le aus mei­nen Haa­ren, wo ich sie wahr­schein­lich beim Ansturm von Pomo­do­ro reflex­ar­tig hin­ge­scho­ben habe, um sie zu schüt­zen.
Das hat nicht funk­tio­niert. Ein Bügel fehlt, der ande­re ist stark nach außen abge­spreizt. “Jetzt ist sie kaputt”, sage ich. Ich bemü­he mich um einen neu­tra­len Ton­fall, klin­ge aber jäm­mer­lich. “Das macht doch nichts.” Die Frau legt mir trös­tend die Hand auf den Arm. “Neh­men Sie mei­ne.” Aus ihrer Brust­ta­sche zieht sie eine Bril­le mit Gold­rah­men und wie eine Opti­ke­rin setzt sie sie mir auf und betrach­tet mich prü­fend: “Passt.”

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Zweisprachig

Zwei Hagebutten, eine schwarz eine rot, auf einem Ast, der mit gelben Flechten bedeckt ist

Für die Bremer*innen
Ich gehe gera­de an einem Spiel­platz vor­bei, da klin­gelt mein Han­dy. Anto­nella. Wir plau­dern, strei­ten ein biss­chen und ver­tra­gen uns gleich wie­der, in der Ver­traut­heit und mit der Gekonnt­heit, die eine zwei­jäh­ri­ge Ex-Fern­be­zie­hung mit sich bringt. Wir ver­ab­schie­den uns herz­lich, mit aus­ge­spro­che­nen Küs­sen und Umar­mun­gen: “Ciao, cara, baci e abbrac­ci!“
Als ich mein Han­dy in die Tasche ste­cke, kommt eine Frau auf mich zu geschos­sen: “War das Ita­lie­nisch, was Sie da gera­de gespro­chen haben?” “Ja” “Sind Sie Ita­lie­ne­rin?” Ich könn­te jetzt “Ja” sagen, oder “Nein”, “Halb” oder sogar “Ein Drit­tel”, und jede die­ser Ant­wor­ten hät­te ihre Berech­ti­gung. Oder auch nicht. Weil es eine Zuord­nung ist, an der prin­zi­pi­ell etwas nicht stimmt. Eine Iden­ti­täts­fra­ge anhand von unlau­te­ren Kri­te­ri­en. Die ein­zi­ge Nati­on, der ich mich zuge­hö­rig füh­le, ist die Kom­bi-Nati­on. Weil ich das aber jetzt nicht mit der Frau dis­ku­tie­ren möch­te, nen­ne ich eine Tat­sa­che: “Ich habe die ita­lie­ni­sche Staats­bür­ger­schaft.”
“Groß­ar­tig! Sind Sie an einem Job inter­es­siert? Kin­der­be­treu­ung?” Inter­es­siert ist das fal­sche Wort. Ich brau­che drin­gend einen Job. Aber Kin­der­be­treu­ung? Was macht man da? Ein zögern­des “Ja” löst einen Rede­schwall aus, dem ich ent­neh­me, dass ich enga­giert bin. Wahr­schein­lich soll­te ich mich freu­en. Es ist gut bezahlt. Wenn kei­ne Kin­der dabei wären, wür­de ich mich woh­ler füh­len. Und war­um hat sie mich als ers­tes nach mei­ner Natio­na­li­tät gefragt?
Dann kommt es raus: “Sie brau­chen nicht viel zu tun. Nur die gan­ze Zeit Ita­lie­nisch mit ihnen spre­chen.” “War­um das denn?” Womög­lich hat sie die Kin­der in Ita­li­en gekid­nappt und weiß jetzt nicht, wie sie sich mit ihnen unter­hal­ten soll.

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