Eifersucht

3 orange Warnlampen auf blauem Sockel in Spannung zueinanderAls ich am Frei­tag­abend nach Hau­se kom­me, sitzt vor mei­ner Woh­nungs­tür eine Kat­ze. Ich blei­be auf der Trep­pe ste­hen und wed­le mit den Hän­den, um das Tier zu ver­scheu­chen. Sie bleibt sit­zen und schaut mich an. Grü­ne Augen.
Ich kling­le beim Nach­barn gegen­über. “Wis­sen Sie, zu wem die­se Kat­ze gehört?”, fra­ge ich ihn, als er öff­net und mich über­rascht ansieht. Ich habe noch nie bei ihm geklin­gelt. “Die ist von unten”, sagt er und deu­tet einen Stock tie­fer. “Die Kat­ze von unten ist rot­haa­rig”, gebe ich zu beden­ken, “und hat sehr lan­ges Fell, wäh­rend die­se hier …”, ich zöge­re, etwas zu beschrei­ben, was er ja selbst sieht, aber viel­leicht sieht er etwas ande­res als ich, “wäh­rend die­se hier schwarz und kurz­haa­rig ist.“
Der Nach­bar zuckt mit den Ach­seln, als wären Fri­su­ren und Haar­far­ben kei­ne nen­nens­wer­ten Kri­te­ri­en. Er selbst hat auch nichts der­glei­chen auf dem Kopf. “Und jetzt?”, fra­ge ich ihn, in der Hoff­nung, dass er sich zustän­dig fühlt. “Was machen wir mit der Kat­ze?” Ich ver­knei­fe es mir, zu erwäh­nen, dass sie sich schließ­lich mit sei­ner Glat­ze reimt. Er zieht die Stirn in Fal­ten und sieht die Kat­ze, die ihre Kral­len an mei­nem Tür­vor­le­ger schärft, nach­denk­lich an. “Ich bin gegen Tier­leid”, sagt er dann und ver­schwin­det mit einem knap­pen “Guten Abend”.
Ich star­re die geschlos­se­ne Tür an. Ich bin auch gegen Tier­leid. Aber, was bedeu­tet das in die­sem kon­kre­ten Fall? Weil mir nichts ande­res ein­fällt, schlie­ße ich mei­ne Tür auf. Ganz selbst­ver­ständ­lich kommt die Kat­ze mit rein. “Ich hab aber nichts zu essen für dich”, sage ich. Sie schnurrt und fin­det den Weg in die Küche allei­ne.
Wenig spä­ter bin ich auf dem Weg zum Super­markt. Ich ver­wei­le in der Haus­tier­ab­tei­lung, die ich bis jetzt immer mit einem über­le­ge­nen Lächeln gemie­den habe. Das Ange­bot an Kat­zen­fut­ter ist über­wäl­ti­gend. Zum Glück weiß ich, seit einer Affä­re mit einer Super­markt­ver­käu­fe­rin, dass die bil­ligs­ten Pro­duk­te immer ganz unten ste­hen.
Zu Hau­se brei­te ich Zei­tungs­pa­pier auf dem Boden aus und stel­le die geöff­ne­te Dose dar­auf. Die Kat­ze schnup­pert, kos­tet, rümpft die Nase, schüt­telt die Pfo­te und miaut so ankla­gend, dass ich ein schlech­tes Gewis­sen bekom­me. So bil­li­ges Fut­ter ist bestimmt min­der­wer­tig und ent­hält schäd­li­che Zusatz­stof­fe. Gut, dass ich die Schu­he noch nicht aus­ge­zo­gen habe.
Als ich spä­ter erschöpft und hung­rig auf dem Sofa sit­ze und dar­über nach­den­ke, wie ich die­ses Tier am schnells­ten wie­der los wer­de, kommt sie zu mir und schmiegt sich an mich. Mein Herz wird weich. Ich esse ja auch nicht alles. Ich streich­le die Kat­ze und bemer­ke einen klei­nen wei­ßen Halb­mond auf ihrer Brust. Selí­na, sage ich zu ihr, vom grie­chi­schen σελήνη für Mond, und sie sieht mich an, als ob ich ihren Namen erra­ten hät­te.
“Brau­chen wir nur noch einen Schlaf­platz für dich”, sage ich spä­ter zu ihr und wun­de­re mich schon gar nicht mehr dar­über, dass ich mit einer Kat­ze spre­che. Selí­na löst die­ses Pro­blem ohne viel Feder­le­sens, indem sie es sich in mei­nem Bett bequem macht. “Ein Feh­ler”, sagt Fio­na, als ich ihr am nächs­ten Tag davon erzäh­le. “Du musst ihr Gren­zen zei­gen. Und du darfst dich nicht an sie gewöh­nen. Wer weiß, wo sie hin gehört.“
Aber Seli­na bleibt das gan­ze Wochen­en­de. Am Mon­tag besor­ge ich eine Kat­zen­lei­ter für den Bal­kon und reak­ti­vie­re die Kat­zen­klap­pe in der Bal­kon­tür, die die Vor­mie­te­rin ange­bracht hat. “Pro­bier mal”, sage ich, und Selí­na läuft ele­gant die Lei­ter hin­un­ter, fin­det flugs ein Loch im Gar­ten­zaun und ver­schwin­det zwi­schen den Buchs­baum­bü­schen des Nach­bar­gar­tens.
Fio­na ruft an: “Viel­leicht sind die Leu­te, bei denen sie gewohnt hat, umge­zo­gen. Kat­zen lau­fen oft zum alten Haus zurück und sind dann ver­wirrt, weil sie nicht mehr rein kom­men. Du musst Zet­tel auf­hän­gen: “Kat­ze zuge­lau­fen.” Sie kommt sogar vor­bei und hilft mir, den Text zu ver­fas­sen und mei­ne Tele­fon­num­mer mehr­mals quer dazu zu plat­zie­ren. Nach dem Aus­dru­cken tren­nen wir die Num­mern mit der Sche­re von­ein­an­der, sodass sie ein­zeln abge­ris­sen wer­den kön­nen. Die Sche­ren­schnit­te gehen mir ans Herz.
Gemein­sam fah­ren wir durch die Stra­ßen und kle­ben den Hin­weis auf Ampel­stan­gen und Stra­ßen­la­ter­nen. Mit jedem gekleb­ten Zet­tel wer­de ich trüb­sin­ni­ger, wäh­rend Fio­na am Ende sehr zufrie­den ist. “Jetzt hast du alles getan, um die recht­mä­ßi­gen Besitzer*innen zu infor­mie­ren.”
“Ich fin­de es unmo­ra­lisch”, kei­fe ich sie an, “bei einer Kat­ze von recht­mä­ßi­gen Besitzer*innen zu spre­chen.” “Was ist denn in dich gefah­ren?”, fragt sie mich erstaunt. “Ich bin gegen Tier­leid”, wer­fe ich ihr an den Kopf und rad­le davon. Zu Hau­se tut es mir Leid, ich schi­cke ihr eine ver­söhn­li­che Tele­gram-Nach­richt. Sie geht sofort dar­auf ein — ach, lie­be Fio­na-Freun­din, den­ke ich — und wünscht mir eine gute Nacht.
Ich habe aber kei­ne. Ich kann nicht schla­fen. Selí­na ist nicht zurück gekehrt und ich stel­le mir vor, wie sie durch die Stra­ßen läuft, und über­all die­se Zet­tel sieht, mit denen ich sie los­wer­den möchte.

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Das Glück

Zwei schneckenförmige Büroklammern auf einer Plastik-Blumenwiesen-Tasche

Rede zur gol­de­nen Hoch­zeit von Korin­na und Rudi
Vie­les ist bereits über das Glück gesagt und geschrie­ben wor­den, in die­ser Rede wird ein Aspekt von Glück behan­delt, der mei­nes Wis­sens noch nie vor­ge­kom­men ist: die Tat­sa­che, dass das Wort Glück aus einem Vokal und vier Kon­so­nan­ten besteht. In die­ser Rede kom­men also ca. 200 Wör­tern der Kom­bi­na­ti­on: ein Vokal und vier Kon­so­nan­ten vor.

Das Glück

Da grast ein Schaf. Flugs guckt ein Luchs, es sucht ein Fuchs den Trick, der rasch ihm hilft bei Zwist. Dunst trübt die Sicht, er stößt gegen den Pfahl am Pfuhl, der wankt und ach! Krach und Knall, und Prinz von Protz fällt flott vom Thron, und Papst und Schah ken­nen das schon. Zum Trost gibt’s Sterz, der Speck ist weg, frech lacht ein Wicht und sonnt den Wanst, der wölbt sich mehr als sonst.
Jetzt erst recht mit Macht in den Kampf um die Wurst auf dem Grill, Fritz, Frank und Franz, alle trans, mit neu­er Brust, zu dritt auf einen Drink in Brühl, die gan­ze Stadt kommt aus dem Trott bei die­sem Trupp, auch ein Horst beim Sport im Forst spürt den Drang zum Bruch mit Drill und Zwang, mit Angst und Scham und schließt dem Treff sich an. Prost!
Ein Dachs in der Pfalz ist krank mit Mumps, er hat allen Grund zum Groll und putzt mit Frust grumm grumm den Fleck von sei­ner Jacht aus Stahl. Sein Brast hallt durch die Werft, der Zwirn hält’s nicht mehr aus, er lässt den Knopf, der rollt vom Shirt und fällt durch einen Spalt — plumps in den Fluss. Das ist dem Hecht nicht recht, der Knopf ist ihm zu krumm, drum.
Bei Frost hilft ein Schal, und bei Frust — wer das wüsst! Der Phlox blüht alle­mal, aus kei­nem Grund, doch der Molch rühmt den Mulch, in dem er wohnt wie der Lachs im Fjord, der sich sehnt nach einem Flirt und wacht die gan­ze Nacht und hofft. Mit die­sem Strom in sei­ner Brust küsst er einen Klotz in der Kluft, der dann vor Stolz glänzt wie Chrom, die gan­ze Bucht wärmt sich daran.

Auf dem Markt leckt ein Fratz am Tropf und stillt den Durst und ein Spatz hüpft auf den Stand und pickt ins Brot. Da dankt das Pfund dem Gramm ohne dass es nicht wüsst, wie­viel es nun misst, so still wie es ist. Und wer tanzt den Twist? Der Zwerg mit dem Troll, auf dem Brett überm Sumpf und ein Stern glüht von fern.
Mit Dampf auf zur Fahrt in die Stadt, allein es fehlt der Sprit, ein Tritt gegen das Blech hilft nicht beim Start, ach, immer die­ser Zwang zum Zweck, aus die Schuh und auf den Stuhl und auf dem Tisch ein Blatt vom Block, schon drängt es aus der Stirn und lockt, der Stift fährt ohne Punkt und Stopp. Rings und links wirkt Schub und Wuchs, Wachs tropft auf den Frack, ein Stück vom Stuck fällt in den Kelch mit Milch, egal. Die Gunst der Stund birgt Stern und Sturm. Ein Pferd ist im Trend und Klang mit Wucht und Spott und Charme, licht wird der Blick und mit der Kunst kommt auch das Glück. Macht ihm Platz und rückt ein Stück!

Bett

Niedrige Fahrradständer, blau, Farbe blättert ab, darunter erscheint rot, im Herbstlaub mit grünem Gras

Früh­mor­gens, auf dem Weg zur Arbeit, gehe ich durch eine men­schen­lee­re Stra­ße, als ich auf ein­mal hin­ter mir ein unge­wohn­tes Kla­cken höre. Ich dre­he mich um und da stakst, wie ein brei­ter fla­cher Hund, mein Bett. Ich bin ent­setzt, es hier auf der Stra­ße zu sehen, noch dazu in die­sem Zustand. Ich habe es heu­te mor­gen nicht gemacht und jetzt ist es mir pein­lich, dass es mit die­ser zer­wühl­ten Bett­de­cke her­um­läuft.
“Was willst du hier”, zische ich, “geh nach Hau­se!” Stur kommt es immer wei­ter auf mich zu getrot­tet, unbe­hol­fen, weil es Schwie­rig­kei­ten damit hat, die vier Bei­ne zu koor­di­nie­ren. Es schwankt von einer Sei­te zur ande­ren, manch­mal hebt es auch drei Bei­ne auf ein­mal und das vier­te, auf dem dann alles las­tet, knarrt bedenk­lich.
“Lass den Blöd­sinn! Du siehst doch, dass du nicht weit damit kommst!” Das Bett hört nicht auf mich, womög­lich ist es auch gar nicht hör­fä­hig. Ich mache abweh­ren­de Ges­ten, ohne dass das die gewünsch­te Wir­kung zei­gen wür­de. Unbe­irrt pro­biert das Bett wei­te­re Gang­ar­ten aus und kommt dabei immer näher auf mich zu.
Ich habe die­ses Bett vor ein paar Mona­ten gekauft, als ich Arbeit in einem Büro bekom­men habe und dach­te, zu einem geho­be­nen Lebens­stan­dard wür­de auch gehö­ren, die Matrat­ze statt auf den Boden auf ein Gestell zu legen. Ich wuss­te ja nicht, was ich mir damit ein­bro­cke. Im Geschäft sah es aus wie ein ganz nor­ma­les Bett. Es war aller­dings stark redu­ziert. Ich habe nicht nach dem Grund gefragt, was ich jetzt bereue. Eigent­lich müss­te noch Garan­tie drauf sein. Nur kann ich die­se wahr­schein­lich nicht bean­spru­chen, wenn das Bett im Gul­li hän­gen bleibt und sich dabei ein Bein bricht.
Ich muss jetzt zur Arbeit. Ich habe kei­ne Zeit für Eska­pa­den. Soll das Bett doch im Stra­ßen­gra­ben enden, wenn es unbe­dingt auf sol­chen Ver­rückt­hei­ten besteht. Ich eile wei­ter. Bevor ich abbie­ge, dre­he ich mich noch ein­mal um und sehe, dass mein Bett zwi­schen der Haus­wand und einer Stra­ßen­la­ter­ne ste­cken geblie­ben ist. Okay, dann wer­de ich es heu­te Abend dort abho­len. Ich hof­fe, ich muss kei­ne Gebüh­ren fürs Falsch­par­ken bezah­len.
Ich beschlie­ße, mit der Stra­ßen­bahn zur Arbeit zu fah­ren. Es ist nicht weit, nur ein paar Sta­tio­nen, aber ich bin schon wie­der so spät dran. Jeden Tag will ich zu Fuß zur Arbeit gehen und schaf­fe es dann nicht. Es ist nicht nur das grau­en­haft frü­he Auf­ste­hen, das mich schwächt, son­dern auch der Gedan­ke an das stun­den­lan­ge Sit­zen in einem Büro, das immer nach altem Senf riecht, egal wie lan­ge ich lüf­te. Und die­se Akten, ein Blät­ter­teig, es bedrückt mich immer, dar­in zu lesen. Das Schlimms­te ist aber, dass die Kol­le­gin­nen, die alle schon jah­re­lang dort arbei­ten, so zufrie­den sind. Sie sind ein­ge­ras­tet wie Puz­zle­teil­chen, und haben kein wei­te­res Bestre­ben, als genau an der Stel­le zu blei­ben.
Es ist ein grau­er Tag, feucht­kalt, an der Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­le haben alle Leu­te miss­mu­ti­ge Gesich­ter. Ich wahr­schein­lich auch. Die Bahn kommt, alle machen sich zum Ein­stieg bereit. Autos hupen, Brem­sen quiet­schen, und ich sehe mein Bett in flot­tem Trab bei Rot über die Ampel lau­fen. Es hat sich offen­sicht­lich befrei­en kön­nen und auch Fort­schrit­te beim Gehen gemacht. Trotz­dem wird es mich nicht mehr ein­ho­len kön­nen, denn ich bin schon in der Stra­ßen­bahn.
Ein don­nern­des Geräusch lässt mich umdre­hen. Das Bett galop­piert! Die Bett­de­cke schwankt beträcht­lich und mei­ne Wärm­fla­sche rutscht her­aus und klatscht auf die Stra­ße. Die Wärm­fla­sche, die Rosi mir zum Geburts­tag geschenkt hat, mit einem selbst gefilz­ten Über­zug in Regen­bo­gen­far­ben. Rosi wohnt ganz in der Nähe. Was wird sie von mir den­ken, wenn sie ihr lie­be­vol­les Geschenk auf der Stra­ße lie­gen sieht, womög­lich von einem Auto zerquetscht.

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Ruhm

Zwei Seiten einer Reibe, in gelbes und rotes Licht getaucht

Als ich von den Kul­tur­wo­chen in einer Klein­stadt erfah­re, bewer­be ich mich und bekom­me die Zusa­ge zu zwei Lesun­gen. Auf ein­mal weiß ich, was der Aus­druck “stolz geschwell­te Brust” bedeu­tet. So etwas habe ich jetzt. Ich bin brei­ter gewor­den. Und grö­ßer. Ich läch­le frem­de Leu­te an. Und immer wie­der schießt mir der Gedan­ke durch den Kopf: Zwei Lesun­gen!
Die Gage ist zwar nicht der Rede wert, aber die Fahrt­kos­ten wer­den über­nom­men und ich habe end­lich ein Publi­kum, das über mei­nen Freund*innenkreis hin­aus geht. Alle mei­ne Freund*innen gra­tu­lie­ren mir. Mei­ne The­ra­peu­tin gra­tu­liert mir. Die Biblio­the­ka­rin, bei der ich immer mei­ne Mahn­ge­büh­ren bezah­le, gra­tu­liert mir. Ich schaf­fe es, die­se Lesun­gen in jedes Gespräch ein­zu­bau­en, sogar der Post­bo­tin erzäh­le ich davon. Sie run­zelt die Stirn, zieht sich ihre Woll­müt­ze über die rot gefro­re­nen Ohren und sagt: “Oha! Da kön­nen Sie mir eine Post­kar­te schi­cken!“
Die ers­te Lesung fin­det im Sei­ten­ge­bäu­de eines Cafés statt. Der Raum ist schon prop­pen­voll, als ich ihn durch die Hin­ter­tür betre­te, um direkt zum Podi­um zu kom­men. Ich wer­de mit Applaus begrüßt. Die vie­len Leu­te irri­tie­ren mich zwar, aber sobald ich sit­ze und zu lesen begin­ne, bin ich in mei­nem Ele­ment. Das Publi­kum ist bes­tens auf­ge­legt und biegt sich schon bei den ers­ten Sät­zen vor Lachen. Und genau das wird mir zum Ver­häng­nis.
In die­ses Lachen mischt sich ein ande­rer Ton, ein lei­ses Pfei­fen, das anschwillt und schließ­lich drei­stim­mig erklingt. Nach und nach krie­chen drei Hun­de unter den Sit­zen her­vor und heben bei jedem Lachen ihre Schnau­zen zur Decke, um ein herz­er­grei­fen­des Heu­len erklin­gen zu las­sen, was die Hälf­te der Anwe­sen­den sehr amü­sant fin­det und die ande­re Hälf­te uner­träg­lich.
Schon nach drei Absät­zen fürch­te ich mich vor mei­nen eige­nen Poin­ten, weil das eigent­lich erwünsch­te Lachen unwei­ger­lich das Heu­len der Hun­de nach sich zieht, was ja auch okay gewe­sen wäre, wür­de es nicht empör­te Zwi­schen­ru­fe aus dem einen Lager und ver­ba­le Gegen­an­grif­fe aus dem ande­ren auslösen.

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Vorstellungsgespräch

zwei Lichtkegel übereinander auf Metall

“Ach, es ist wohl unmög­lich”, seufzt die alte Frau, die an der Stra­ßen­ecke steht, auf ihren Stock gestützt, in einen Staub­man­tel gehüllt. “Viel­leicht nicht”, sage ich und blei­be ste­hen. “Es gibt immer viel mehr Mög­lich­kei­ten, als wir den­ken.” Ich will damit nicht nur ihr Mut zuspre­chen, son­dern auch mir selbst. Ich bin auf dem Weg zu einem Vor­stel­lungs­ge­spräch. Den Job muss ich gar nicht haben. Ich will aber die­ses Mal mit einem guten Gefühl aus dem Gespräch raus kom­men und nicht so geknickt und beschämt wie die letz­ten drei Male.
“Mei­nen Sie?”, mur­melt die Frau. Sie ist so gebückt, dass ich ihr Gesicht nicht sehen kann. “Ich möch­te es so ger­ne. Ich möch­te ein­mal, ein­mal nur im Zir­kus auf­tre­ten.” “Oh”, sage ich. Damit habe ich nicht gerech­net. “Ach, aber es ist zu spät.” “Womit möch­ten Sie denn auf­tre­ten?”, fra­ge ich vor­sich­tig. Es fällt mir schwer, sie mir in der Manè­ge vor­zu­stel­len, aber viel­leicht kann sie ja zau­bern.
“Akro­ba­tik!”, sagt sie. Ich muss lachen. Die Frau hebt den Kopf, schaut mich an. In ihren Augen blitzt etwas, das mich zurück­wei­chen lässt. “Ent­schul­di­gen Sie bit­te, ich woll­te nicht …” Sie starrt mich an. “Ich muss jetzt wei­ter”, stot­te­re ich, “ich wün­sche Ihnen viel Glück!” Ich kom­me mir gemein vor und bin froh, als ich an ihr vor­bei bin. Da höre ich hin­ter mir ihren Stock, ihre Schrit­te. Ich gehe schnel­ler. Sie auch. Sie kommt näher.
Als ich gera­de zu einem Sprint anset­zen will, packt sie mich am Kra­gen und springt mir auf den Rücken. Krallt sich fest, sodass es mir den Atem nimmt. “Nicht!”, pro­tes­tie­re ich röchelnd. “Jetzt hab ich dich”, krächzt sie in mein Ohr, “und ich wün­sche dir viel Glück!“
Ich ver­su­che, sie abzu­schüt­teln, erst vor­sich­tig, dann hef­ti­ger. Es gelingt mir nicht. Sie hat die Arme um mei­nen Hals geschlun­gen und ihre Ober­schen­kel umfas­sen mei­ne Tail­le wie eine Greif­zan­ge. Ich krieg sie nicht los. “Luft!”, keu­che ich. Sie gibt den Hals frei und for­dert: “Schnel­ler!” “Wohin möch­ten Sie denn?” “Na, zum Zir­kus!”
“Ich habe ein Vor­stel­lungs­ge­spräch”, sage ich, “und es ist sehr wich­tig, dass ich dort auf­tau­che, sonst bekom­me ich Schwie­rig­kei­ten mit dem Job­cen­ter.” “Ah, auch ein Zir­kus”, sagt sie, “ich kom­me mit.” “Aber ich kann Sie nicht mit­neh­men.” “War­um nicht?” Sie lacht häss­lich. “Ich bin dir wohl zu alt?” “Nein, nein, es ist nur … ich muss allei­ne dort erschei­nen.”
“Es gibt immer viel mehr Mög­lich­kei­ten, als wir den­ken”, spot­tet sie, und es bleibt mir nichts ande­res übrig, als mit der Frau auf dem Rücken wei­ter zu wan­ken, zur Fir­ma Bütz.

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Die Oberfläche der Untertasse

Dunkle Wasserstreifen auf heller Baumrinde mit Rillen

Über­le­gun­gen zu Oberflächen

1 Das Wort

Der ers­te Teil des Wor­tes lässt mich zunächst ver­mu­ten, dass eine Ober­flä­che immer oben ist. Aber dann fal­len mir mei­ne Fuß­soh­len ein, die meis­tens unten sind, zumin­dest vom Kopf aus gese­hen. Und der Kopf hat die Defi­ni­ti­ons­macht. Er sieht sich selbst gern oben, wes­halb er nachts ein Kis­sen braucht, damit er auch im Schlaf den ande­ren Kör­per­tei­len über­le­gen ist. Der Kopf­stand, der die Ver­hält­nis­se umkehrt und die Fuß­soh­len zu den obers­ten Ober­flä­chen des Kör­pers macht, ist haupt­säch­lich bei Kin­dern, Artist*innen und Yoga­prak­ti­zie­ren­den üblich. Die­se drei Per­so­nen­grup­pen sind aller­dings, und viel­leicht aus die­sem Grund, nur ein­ge­schränkt gesell­schaft­lich aner­kannt.
Die Ober­flä­chen mei­ner Fuß­soh­len sind auch nicht flach. Wie kommt also der Begriff “Ober­flä­che” zustan­de? Ich kom­me dem Wort erst auf die Spur, als ich die ver­schie­de­nen Aggre­gat­zu­stän­de beach­te. Bei Gasen wird kaum von einer Ober­flä­che gespro­chen. Im fes­ten Aggre­gat­zu­stand wer­den alle Außen­flä­chen als Ober­flä­che bezeich­net. So ist sowohl die unte­re als auch die obe­re Sei­te der Unter­tas­se eine Ober­flä­che. Ursprüng­lich namens­ge­bend waren aber wahr­schein­lich die Flüs­sig­kei­ten. Denn bei ihnen gilt nur die obers­te Schicht, die noch dazu oft flach ist oder das Flach­sein anstrebt, als Ober­flä­che. Die ande­ren Außen­sei­ten von Flüs­sig­kei­ten, wie etwa die seit­li­chen Was­ser­flä­chen eines Aqua­ri­ums, blei­ben namenlos.

2 Ver­bor­ge­ne Ober­flä­chen
Die Ober­flä­che eines Fest­kör­pers wird also durch alle sei­ne Außen­flä­chen gebil­det. Wobei sich außen und innen nicht immer so leicht von­ein­an­der unter­schei­den las­sen, wie uns das viel­leicht lieb wäre. Zum Bei­spiel der Darm. Dem Emp­fin­den nach ist er etwas zutiefst Inne­res und Inti­mes, dabei ist der soge­nann­te Ver­dau­ungs­trakt, von der Mund­höh­le bis zum After, ein Schlauch, durch den Fremd­kör­per, frem­de Kör­per, die wir Nah­rungs­mit­tel nen­nen, durch uns hin­durch beför­dert wer­den. Nur das Brauch­ba­re, Ver­wert­ba­re, wird auf­ge­nom­men und ein­ver­leibt, alles ande­re wird abge­führt bzw. aus­ge­schie­den. Aus­schei­dung ist genau genom­men nicht das rich­ti­ge Wort, da die­se Stof­fe nie in uns drin waren, son­dern immer an der Außen­flä­che geblie­ben sind. Das Irri­tie­ren­de ist, dass die Außen­welt, von der wir uns doch deut­lich zu unter­schei­den glau­ben, mit­ten durch uns hin­durch führt.
Und die Außen­flä­chen im Inne­ren des mensch­li­chen Kör­pers sind rie­sig. Die Ober­flä­che des Darms ist mit Zot­ten bedeckt , die von Zot­ten bedeckt sind, auf denen Zot­ten wach­sen usw. Wür­de man den Darm glatt zie­hen wie etwa ein zer­knit­ter­tes Spann­bett­la­ken, so könn­te eine 32 Qua­drat­me­ter gro­ße Matrat­ze damit bezo­gen wer­den. Ver­gli­chen mit der Haut, die nur ca. 1,7 Qua­drat­me­ter auf­weist, ist das wah­re inne­re Grö­ße. Ins­ge­samt sind die ver­bor­ge­nen Ober­flä­chen beim Men­schen ca. 20 mal grö­ßer als die sicht­ba­ren. Eine Zahl, die aller­dings sowohl beim Amei­sen­hau­fen als auch bei Horn­kie­sel­schwäm­men um ein Viel­fa­ches über­trof­fen wird.

„Die Ober­flä­che der Unter­tas­se“ weiterlesen

Wartezimmer

eine dicke gelbe und eine dünne weiße Seife stehend in einer rotgestreiften Seifenschale

Ich bin mir nicht sicher, was in einem War­te­zim­mer von mir erwar­tet wird. Lan­ge Zeit habe ich es ver­mie­den, Ärzt*innen auf­zu­su­chen, nur zu mei­ner Zahn­ärz­tin gehe ich regel­mä­ßig, aber da sitz ich immer nur fünf Minu­ten im War­te­zim­mer, und meis­tens allei­ne.
Jetzt brau­che ich eine Krank­schrei­bung und bin bei die­ser Ärz­tin gelan­det, die Fati­ma mir emp­foh­len hat. Schon oft wur­den mir Ärzt*innen emp­foh­len, vor allem von Freund*innen, die mei­nen, ich soll­te da mal hin­ge­hen. Aber Fati­ma sag­te einen Satz, der mich nicht nur sofort von der Ärz­tin über­zeugt hat, son­dern sogar bewirk­te, dass ich mich auf die­sen Arzt­be­such freue. Sie sag­te näm­lich: “Und im War­te­zim­mer gibt es ein Bücher­re­gal.“
Ich weiß, dass in sol­chen Bücher­re­ga­len meis­tens nur die Bücher ste­hen, die nie­mand zu Hau­se im Bücher­re­gal haben möch­te. Trotz­dem kann ich mich dem Zau­ber die­ses Wor­tes nicht ent­zie­hen. Bücher­re­gal. Es ist kein geeig­ne­tes Kri­te­ri­um, um eine Ärz­tin aus­zu­su­chen, aber, so den­ke ich beglückt, Fati­ma hat sie emp­foh­len!
Als ich von der Sprech­stun­den­hil­fe gebe­ten wer­de, doch noch etwas Platz zu neh­men, bedan­ke ich mich bei ihr, öff­ne ich die Tür zum War­te­zim­mer und schre­cke zurück. Es ist vol­ler Men­schen. Ich mache die Tür wie­der zu. Erwar­tun­gen wer­den oft erst bewusst, wenn sie nicht erfüllt wer­den. Ich hat­te die Vor­stel­lung, mit einem Bücher­re­gal mehr oder weni­ger allei­ne zu sein.
Jetzt wür­de ich lie­ber wie­der nach Hau­se gehen. Die Sprech­stun­den­hil­fe sieht mich fra­gend an. Ich hole tief Luft und mache die Tür wie­der auf. “Guten Tag”, sage ich und ein paar Leu­te erwi­dern mei­nen Gruß mur­melnd und ohne mich dabei anzu­se­hen. Ich stre­be zu dem ein­zi­gen Stuhl, der noch frei ist, set­ze mich auf einen Teil der Sitz­flä­che und erstar­re. Was mache ich jetzt, in einem Raum mit so vie­len Men­schen, alle unbe­kannt, kör­per­lich nahe und stur schwei­gend?
Ich atme. Das geht, ein Fens­ter ist gekippt, kal­te Luft strömt her­ein. Ich beru­hi­ge mich ein biss­chen. Ich ver­su­che, nicht dar­an zu den­ken, dass ich hier wahr­schein­lich eine Stun­de zubrin­gen muss. Vor­sich­tig gucke ich mich um. Die meis­ten Leu­te sind in ihr Han­dy ver­tieft, man­che blät­tern in einer Zeit­schrift, zwei lesen in einem Buch, nur eine Frau beschäf­tigt sich nicht, starrt teil­nahms­los zu Boden.
Und da ist das Bücher­re­gal, neben der Spiel­ecke. Die­ses Objekt mei­nes Begeh­rens, das in mei­ner Vor­stel­lung eine gan­ze Wand ein­ge­nom­men hat­te, ist auf zwei kur­ze Regal­bret­ter beschränkt. Viel­leicht 20 Bücher, die Hälf­te davon Bil­der­bü­cher. Ich schlu­cke schwer an mei­ner Ent­täu­schung. Fati­ma, den­ke ich ver­bit­tert. Nie ande­re Leu­te für dei­ne Erwar­tun­gen ver­ant­wort­lich machen, ist ein schö­ner Grund­satz, aber schwer ein­zu­hal­ten. Mir wäre jetzt danach, Fati­ma eine wüten­de Sprach­nach­richt zu schi­cken: “Du hast mich betro­gen! Unter Vor­spie­ge­lung fal­scher Tat­sa­chen zu die­ser Ärz­tin gelockt!“
Als ich mir das in der Stil­le des War­te­zim­mers vor­stel­le, muss ich grin­sen. Aber das ver­geht mir schnell. Das mas­si­ve Schwei­gen von sprech­fä­hi­gen Men­schen schüch­tert mich ein. Es ist mir unheim­lich. Es hat nichts mit mir zu tun, sage ich mir, es ist die Benen­nung der Räu­me. Die Leu­te den­ken wahr­schein­lich, hier ist War­ten ange­sagt und Spre­chen sol­len sie nur im Sprech­zim­mer.
Uner­war­tet tau­chen alte Erin­ne­run­gen auf. In mei­ner Kind­heit war das War­te­zim­mer ein Sprech­zim­mer. Ich weiß nicht, ob es dar­an lag, dass es in Öster­reich war, oder dass der Daten­schutz noch nicht erfun­den war, auf jeden Fall war es in einem War­te­zim­mer nie still. Neu Ein­tref­fen­de wur­den begrüßt und gefragt, war­um sie da waren, und hat­te ein­mal jemand kei­ne Bekann­ten im War­te­zim­mer, fin­gen die meis­ten von sich aus an, von ihrem Lei­den zu erzäh­len, und alle kann­ten jeman­den, der oder die das auch schon mal hatte.

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