Als ich am Freitagabend nach Hause komme, sitzt vor meiner Wohnungstür eine Katze. Ich bleibe auf der Treppe stehen und wedle mit den Händen, um das Tier zu verscheuchen. Sie bleibt sitzen und schaut mich an. Grüne Augen.
Ich klingle beim Nachbarn gegenüber. “Wissen Sie, zu wem diese Katze gehört?”, frage ich ihn, als er öffnet und mich überrascht ansieht. Ich habe noch nie bei ihm geklingelt. “Die ist von unten”, sagt er und deutet einen Stock tiefer. “Die Katze von unten ist rothaarig”, gebe ich zu bedenken, “und hat sehr langes Fell, während diese hier …”, ich zögere, etwas zu beschreiben, was er ja selbst sieht, aber vielleicht sieht er etwas anderes als ich, “während diese hier schwarz und kurzhaarig ist.“
Der Nachbar zuckt mit den Achseln, als wären Frisuren und Haarfarben keine nennenswerten Kriterien. Er selbst hat auch nichts dergleichen auf dem Kopf. “Und jetzt?”, frage ich ihn, in der Hoffnung, dass er sich zuständig fühlt. “Was machen wir mit der Katze?” Ich verkneife es mir, zu erwähnen, dass sie sich schließlich mit seiner Glatze reimt. Er zieht die Stirn in Falten und sieht die Katze, die ihre Krallen an meinem Türvorleger schärft, nachdenklich an. “Ich bin gegen Tierleid”, sagt er dann und verschwindet mit einem knappen “Guten Abend”.
Ich starre die geschlossene Tür an. Ich bin auch gegen Tierleid. Aber, was bedeutet das in diesem konkreten Fall? Weil mir nichts anderes einfällt, schließe ich meine Tür auf. Ganz selbstverständlich kommt die Katze mit rein. “Ich hab aber nichts zu essen für dich”, sage ich. Sie schnurrt und findet den Weg in die Küche alleine.
Wenig später bin ich auf dem Weg zum Supermarkt. Ich verweile in der Haustierabteilung, die ich bis jetzt immer mit einem überlegenen Lächeln gemieden habe. Das Angebot an Katzenfutter ist überwältigend. Zum Glück weiß ich, seit einer Affäre mit einer Supermarktverkäuferin, dass die billigsten Produkte immer ganz unten stehen.
Zu Hause breite ich Zeitungspapier auf dem Boden aus und stelle die geöffnete Dose darauf. Die Katze schnuppert, kostet, rümpft die Nase, schüttelt die Pfote und miaut so anklagend, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme. So billiges Futter ist bestimmt minderwertig und enthält schädliche Zusatzstoffe. Gut, dass ich die Schuhe noch nicht ausgezogen habe.
Als ich später erschöpft und hungrig auf dem Sofa sitze und darüber nachdenke, wie ich dieses Tier am schnellsten wieder los werde, kommt sie zu mir und schmiegt sich an mich. Mein Herz wird weich. Ich esse ja auch nicht alles. Ich streichle die Katze und bemerke einen kleinen weißen Halbmond auf ihrer Brust. Selína, sage ich zu ihr, vom griechischen σελήνη für Mond, und sie sieht mich an, als ob ich ihren Namen erraten hätte.
“Brauchen wir nur noch einen Schlafplatz für dich”, sage ich später zu ihr und wundere mich schon gar nicht mehr darüber, dass ich mit einer Katze spreche. Selína löst dieses Problem ohne viel Federlesens, indem sie es sich in meinem Bett bequem macht. “Ein Fehler”, sagt Fiona, als ich ihr am nächsten Tag davon erzähle. “Du musst ihr Grenzen zeigen. Und du darfst dich nicht an sie gewöhnen. Wer weiß, wo sie hin gehört.“
Aber Selina bleibt das ganze Wochenende. Am Montag besorge ich eine Katzenleiter für den Balkon und reaktiviere die Katzenklappe in der Balkontür, die die Vormieterin angebracht hat. “Probier mal”, sage ich, und Selína läuft elegant die Leiter hinunter, findet flugs ein Loch im Gartenzaun und verschwindet zwischen den Buchsbaumbüschen des Nachbargartens.
Fiona ruft an: “Vielleicht sind die Leute, bei denen sie gewohnt hat, umgezogen. Katzen laufen oft zum alten Haus zurück und sind dann verwirrt, weil sie nicht mehr rein kommen. Du musst Zettel aufhängen: “Katze zugelaufen.” Sie kommt sogar vorbei und hilft mir, den Text zu verfassen und meine Telefonnummer mehrmals quer dazu zu platzieren. Nach dem Ausdrucken trennen wir die Nummern mit der Schere voneinander, sodass sie einzeln abgerissen werden können. Die Scherenschnitte gehen mir ans Herz.
Gemeinsam fahren wir durch die Straßen und kleben den Hinweis auf Ampelstangen und Straßenlaternen. Mit jedem geklebten Zettel werde ich trübsinniger, während Fiona am Ende sehr zufrieden ist. “Jetzt hast du alles getan, um die rechtmäßigen Besitzer*innen zu informieren.”
“Ich finde es unmoralisch”, keife ich sie an, “bei einer Katze von rechtmäßigen Besitzer*innen zu sprechen.” “Was ist denn in dich gefahren?”, fragt sie mich erstaunt. “Ich bin gegen Tierleid”, werfe ich ihr an den Kopf und radle davon. Zu Hause tut es mir Leid, ich schicke ihr eine versöhnliche Telegram-Nachricht. Sie geht sofort darauf ein — ach, liebe Fiona-Freundin, denke ich — und wünscht mir eine gute Nacht.
Ich habe aber keine. Ich kann nicht schlafen. Selína ist nicht zurück gekehrt und ich stelle mir vor, wie sie durch die Straßen läuft, und überall diese Zettel sieht, mit denen ich sie loswerden möchte.
Das Glück
Rede zur goldenen Hochzeit von Korinna und Rudi
Vieles ist bereits über das Glück gesagt und geschrieben worden, in dieser Rede wird ein Aspekt von Glück behandelt, der meines Wissens noch nie vorgekommen ist: die Tatsache, dass das Wort Glück aus einem Vokal und vier Konsonanten besteht. In dieser Rede kommen also ca. 200 Wörtern der Kombination: ein Vokal und vier Konsonanten vor.
Das Glück
Da grast ein Schaf. Flugs guckt ein Luchs, es sucht ein Fuchs den Trick, der rasch ihm hilft bei Zwist. Dunst trübt die Sicht, er stößt gegen den Pfahl am Pfuhl, der wankt und ach! Krach und Knall, und Prinz von Protz fällt flott vom Thron, und Papst und Schah kennen das schon. Zum Trost gibt’s Sterz, der Speck ist weg, frech lacht ein Wicht und sonnt den Wanst, der wölbt sich mehr als sonst.
Jetzt erst recht mit Macht in den Kampf um die Wurst auf dem Grill, Fritz, Frank und Franz, alle trans, mit neuer Brust, zu dritt auf einen Drink in Brühl, die ganze Stadt kommt aus dem Trott bei diesem Trupp, auch ein Horst beim Sport im Forst spürt den Drang zum Bruch mit Drill und Zwang, mit Angst und Scham und schließt dem Treff sich an. Prost!
Ein Dachs in der Pfalz ist krank mit Mumps, er hat allen Grund zum Groll und putzt mit Frust grumm grumm den Fleck von seiner Jacht aus Stahl. Sein Brast hallt durch die Werft, der Zwirn hält’s nicht mehr aus, er lässt den Knopf, der rollt vom Shirt und fällt durch einen Spalt — plumps in den Fluss. Das ist dem Hecht nicht recht, der Knopf ist ihm zu krumm, drum.
Bei Frost hilft ein Schal, und bei Frust — wer das wüsst! Der Phlox blüht allemal, aus keinem Grund, doch der Molch rühmt den Mulch, in dem er wohnt wie der Lachs im Fjord, der sich sehnt nach einem Flirt und wacht die ganze Nacht und hofft. Mit diesem Strom in seiner Brust küsst er einen Klotz in der Kluft, der dann vor Stolz glänzt wie Chrom, die ganze Bucht wärmt sich daran.
Auf dem Markt leckt ein Fratz am Tropf und stillt den Durst und ein Spatz hüpft auf den Stand und pickt ins Brot. Da dankt das Pfund dem Gramm ohne dass es nicht wüsst, wieviel es nun misst, so still wie es ist. Und wer tanzt den Twist? Der Zwerg mit dem Troll, auf dem Brett überm Sumpf und ein Stern glüht von fern.
Mit Dampf auf zur Fahrt in die Stadt, allein es fehlt der Sprit, ein Tritt gegen das Blech hilft nicht beim Start, ach, immer dieser Zwang zum Zweck, aus die Schuh und auf den Stuhl und auf dem Tisch ein Blatt vom Block, schon drängt es aus der Stirn und lockt, der Stift fährt ohne Punkt und Stopp. Rings und links wirkt Schub und Wuchs, Wachs tropft auf den Frack, ein Stück vom Stuck fällt in den Kelch mit Milch, egal. Die Gunst der Stund birgt Stern und Sturm. Ein Pferd ist im Trend und Klang mit Wucht und Spott und Charme, licht wird der Blick und mit der Kunst kommt auch das Glück. Macht ihm Platz und rückt ein Stück!
Bett
Frühmorgens, auf dem Weg zur Arbeit, gehe ich durch eine menschenleere Straße, als ich auf einmal hinter mir ein ungewohntes Klacken höre. Ich drehe mich um und da stakst, wie ein breiter flacher Hund, mein Bett. Ich bin entsetzt, es hier auf der Straße zu sehen, noch dazu in diesem Zustand. Ich habe es heute morgen nicht gemacht und jetzt ist es mir peinlich, dass es mit dieser zerwühlten Bettdecke herumläuft.
“Was willst du hier”, zische ich, “geh nach Hause!” Stur kommt es immer weiter auf mich zu getrottet, unbeholfen, weil es Schwierigkeiten damit hat, die vier Beine zu koordinieren. Es schwankt von einer Seite zur anderen, manchmal hebt es auch drei Beine auf einmal und das vierte, auf dem dann alles lastet, knarrt bedenklich.
“Lass den Blödsinn! Du siehst doch, dass du nicht weit damit kommst!” Das Bett hört nicht auf mich, womöglich ist es auch gar nicht hörfähig. Ich mache abwehrende Gesten, ohne dass das die gewünschte Wirkung zeigen würde. Unbeirrt probiert das Bett weitere Gangarten aus und kommt dabei immer näher auf mich zu.
Ich habe dieses Bett vor ein paar Monaten gekauft, als ich Arbeit in einem Büro bekommen habe und dachte, zu einem gehobenen Lebensstandard würde auch gehören, die Matratze statt auf den Boden auf ein Gestell zu legen. Ich wusste ja nicht, was ich mir damit einbrocke. Im Geschäft sah es aus wie ein ganz normales Bett. Es war allerdings stark reduziert. Ich habe nicht nach dem Grund gefragt, was ich jetzt bereue. Eigentlich müsste noch Garantie drauf sein. Nur kann ich diese wahrscheinlich nicht beanspruchen, wenn das Bett im Gulli hängen bleibt und sich dabei ein Bein bricht.
Ich muss jetzt zur Arbeit. Ich habe keine Zeit für Eskapaden. Soll das Bett doch im Straßengraben enden, wenn es unbedingt auf solchen Verrücktheiten besteht. Ich eile weiter. Bevor ich abbiege, drehe ich mich noch einmal um und sehe, dass mein Bett zwischen der Hauswand und einer Straßenlaterne stecken geblieben ist. Okay, dann werde ich es heute Abend dort abholen. Ich hoffe, ich muss keine Gebühren fürs Falschparken bezahlen.
Ich beschließe, mit der Straßenbahn zur Arbeit zu fahren. Es ist nicht weit, nur ein paar Stationen, aber ich bin schon wieder so spät dran. Jeden Tag will ich zu Fuß zur Arbeit gehen und schaffe es dann nicht. Es ist nicht nur das grauenhaft frühe Aufstehen, das mich schwächt, sondern auch der Gedanke an das stundenlange Sitzen in einem Büro, das immer nach altem Senf riecht, egal wie lange ich lüfte. Und diese Akten, ein Blätterteig, es bedrückt mich immer, darin zu lesen. Das Schlimmste ist aber, dass die Kolleginnen, die alle schon jahrelang dort arbeiten, so zufrieden sind. Sie sind eingerastet wie Puzzleteilchen, und haben kein weiteres Bestreben, als genau an der Stelle zu bleiben.
Es ist ein grauer Tag, feuchtkalt, an der Straßenbahnhaltestelle haben alle Leute missmutige Gesichter. Ich wahrscheinlich auch. Die Bahn kommt, alle machen sich zum Einstieg bereit. Autos hupen, Bremsen quietschen, und ich sehe mein Bett in flottem Trab bei Rot über die Ampel laufen. Es hat sich offensichtlich befreien können und auch Fortschritte beim Gehen gemacht. Trotzdem wird es mich nicht mehr einholen können, denn ich bin schon in der Straßenbahn.
Ein donnerndes Geräusch lässt mich umdrehen. Das Bett galoppiert! Die Bettdecke schwankt beträchtlich und meine Wärmflasche rutscht heraus und klatscht auf die Straße. Die Wärmflasche, die Rosi mir zum Geburtstag geschenkt hat, mit einem selbst gefilzten Überzug in Regenbogenfarben. Rosi wohnt ganz in der Nähe. Was wird sie von mir denken, wenn sie ihr liebevolles Geschenk auf der Straße liegen sieht, womöglich von einem Auto zerquetscht.
Ruhm
Als ich von den Kulturwochen in einer Kleinstadt erfahre, bewerbe ich mich und bekomme die Zusage zu zwei Lesungen. Auf einmal weiß ich, was der Ausdruck “stolz geschwellte Brust” bedeutet. So etwas habe ich jetzt. Ich bin breiter geworden. Und größer. Ich lächle fremde Leute an. Und immer wieder schießt mir der Gedanke durch den Kopf: Zwei Lesungen!
Die Gage ist zwar nicht der Rede wert, aber die Fahrtkosten werden übernommen und ich habe endlich ein Publikum, das über meinen Freund*innenkreis hinaus geht. Alle meine Freund*innen gratulieren mir. Meine Therapeutin gratuliert mir. Die Bibliothekarin, bei der ich immer meine Mahngebühren bezahle, gratuliert mir. Ich schaffe es, diese Lesungen in jedes Gespräch einzubauen, sogar der Postbotin erzähle ich davon. Sie runzelt die Stirn, zieht sich ihre Wollmütze über die rot gefrorenen Ohren und sagt: “Oha! Da können Sie mir eine Postkarte schicken!“
Die erste Lesung findet im Seitengebäude eines Cafés statt. Der Raum ist schon proppenvoll, als ich ihn durch die Hintertür betrete, um direkt zum Podium zu kommen. Ich werde mit Applaus begrüßt. Die vielen Leute irritieren mich zwar, aber sobald ich sitze und zu lesen beginne, bin ich in meinem Element. Das Publikum ist bestens aufgelegt und biegt sich schon bei den ersten Sätzen vor Lachen. Und genau das wird mir zum Verhängnis.
In dieses Lachen mischt sich ein anderer Ton, ein leises Pfeifen, das anschwillt und schließlich dreistimmig erklingt. Nach und nach kriechen drei Hunde unter den Sitzen hervor und heben bei jedem Lachen ihre Schnauzen zur Decke, um ein herzergreifendes Heulen erklingen zu lassen, was die Hälfte der Anwesenden sehr amüsant findet und die andere Hälfte unerträglich.
Schon nach drei Absätzen fürchte ich mich vor meinen eigenen Pointen, weil das eigentlich erwünschte Lachen unweigerlich das Heulen der Hunde nach sich zieht, was ja auch okay gewesen wäre, würde es nicht empörte Zwischenrufe aus dem einen Lager und verbale Gegenangriffe aus dem anderen auslösen.
Vorstellungsgespräch
“Ach, es ist wohl unmöglich”, seufzt die alte Frau, die an der Straßenecke steht, auf ihren Stock gestützt, in einen Staubmantel gehüllt. “Vielleicht nicht”, sage ich und bleibe stehen. “Es gibt immer viel mehr Möglichkeiten, als wir denken.” Ich will damit nicht nur ihr Mut zusprechen, sondern auch mir selbst. Ich bin auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch. Den Job muss ich gar nicht haben. Ich will aber dieses Mal mit einem guten Gefühl aus dem Gespräch raus kommen und nicht so geknickt und beschämt wie die letzten drei Male.
“Meinen Sie?”, murmelt die Frau. Sie ist so gebückt, dass ich ihr Gesicht nicht sehen kann. “Ich möchte es so gerne. Ich möchte einmal, einmal nur im Zirkus auftreten.” “Oh”, sage ich. Damit habe ich nicht gerechnet. “Ach, aber es ist zu spät.” “Womit möchten Sie denn auftreten?”, frage ich vorsichtig. Es fällt mir schwer, sie mir in der Manège vorzustellen, aber vielleicht kann sie ja zaubern.
“Akrobatik!”, sagt sie. Ich muss lachen. Die Frau hebt den Kopf, schaut mich an. In ihren Augen blitzt etwas, das mich zurückweichen lässt. “Entschuldigen Sie bitte, ich wollte nicht …” Sie starrt mich an. “Ich muss jetzt weiter”, stottere ich, “ich wünsche Ihnen viel Glück!” Ich komme mir gemein vor und bin froh, als ich an ihr vorbei bin. Da höre ich hinter mir ihren Stock, ihre Schritte. Ich gehe schneller. Sie auch. Sie kommt näher.
Als ich gerade zu einem Sprint ansetzen will, packt sie mich am Kragen und springt mir auf den Rücken. Krallt sich fest, sodass es mir den Atem nimmt. “Nicht!”, protestiere ich röchelnd. “Jetzt hab ich dich”, krächzt sie in mein Ohr, “und ich wünsche dir viel Glück!“
Ich versuche, sie abzuschütteln, erst vorsichtig, dann heftiger. Es gelingt mir nicht. Sie hat die Arme um meinen Hals geschlungen und ihre Oberschenkel umfassen meine Taille wie eine Greifzange. Ich krieg sie nicht los. “Luft!”, keuche ich. Sie gibt den Hals frei und fordert: “Schneller!” “Wohin möchten Sie denn?” “Na, zum Zirkus!”
“Ich habe ein Vorstellungsgespräch”, sage ich, “und es ist sehr wichtig, dass ich dort auftauche, sonst bekomme ich Schwierigkeiten mit dem Jobcenter.” “Ah, auch ein Zirkus”, sagt sie, “ich komme mit.” “Aber ich kann Sie nicht mitnehmen.” “Warum nicht?” Sie lacht hässlich. “Ich bin dir wohl zu alt?” “Nein, nein, es ist nur … ich muss alleine dort erscheinen.”
“Es gibt immer viel mehr Möglichkeiten, als wir denken”, spottet sie, und es bleibt mir nichts anderes übrig, als mit der Frau auf dem Rücken weiter zu wanken, zur Firma Bütz.
Die Oberfläche der Untertasse
Überlegungen zu Oberflächen
1 Das Wort
Der erste Teil des Wortes lässt mich zunächst vermuten, dass eine Oberfläche immer oben ist. Aber dann fallen mir meine Fußsohlen ein, die meistens unten sind, zumindest vom Kopf aus gesehen. Und der Kopf hat die Definitionsmacht. Er sieht sich selbst gern oben, weshalb er nachts ein Kissen braucht, damit er auch im Schlaf den anderen Körperteilen überlegen ist. Der Kopfstand, der die Verhältnisse umkehrt und die Fußsohlen zu den obersten Oberflächen des Körpers macht, ist hauptsächlich bei Kindern, Artist*innen und Yogapraktizierenden üblich. Diese drei Personengruppen sind allerdings, und vielleicht aus diesem Grund, nur eingeschränkt gesellschaftlich anerkannt.
Die Oberflächen meiner Fußsohlen sind auch nicht flach. Wie kommt also der Begriff “Oberfläche” zustande? Ich komme dem Wort erst auf die Spur, als ich die verschiedenen Aggregatzustände beachte. Bei Gasen wird kaum von einer Oberfläche gesprochen. Im festen Aggregatzustand werden alle Außenflächen als Oberfläche bezeichnet. So ist sowohl die untere als auch die obere Seite der Untertasse eine Oberfläche. Ursprünglich namensgebend waren aber wahrscheinlich die Flüssigkeiten. Denn bei ihnen gilt nur die oberste Schicht, die noch dazu oft flach ist oder das Flachsein anstrebt, als Oberfläche. Die anderen Außenseiten von Flüssigkeiten, wie etwa die seitlichen Wasserflächen eines Aquariums, bleiben namenlos.
2 Verborgene Oberflächen
Die Oberfläche eines Festkörpers wird also durch alle seine Außenflächen gebildet. Wobei sich außen und innen nicht immer so leicht voneinander unterscheiden lassen, wie uns das vielleicht lieb wäre. Zum Beispiel der Darm. Dem Empfinden nach ist er etwas zutiefst Inneres und Intimes, dabei ist der sogenannte Verdauungstrakt, von der Mundhöhle bis zum After, ein Schlauch, durch den Fremdkörper, fremde Körper, die wir Nahrungsmittel nennen, durch uns hindurch befördert werden. Nur das Brauchbare, Verwertbare, wird aufgenommen und einverleibt, alles andere wird abgeführt bzw. ausgeschieden. Ausscheidung ist genau genommen nicht das richtige Wort, da diese Stoffe nie in uns drin waren, sondern immer an der Außenfläche geblieben sind. Das Irritierende ist, dass die Außenwelt, von der wir uns doch deutlich zu unterscheiden glauben, mitten durch uns hindurch führt.
Und die Außenflächen im Inneren des menschlichen Körpers sind riesig. Die Oberfläche des Darms ist mit Zotten bedeckt , die von Zotten bedeckt sind, auf denen Zotten wachsen usw. Würde man den Darm glatt ziehen wie etwa ein zerknittertes Spannbettlaken, so könnte eine 32 Quadratmeter große Matratze damit bezogen werden. Verglichen mit der Haut, die nur ca. 1,7 Quadratmeter aufweist, ist das wahre innere Größe. Insgesamt sind die verborgenen Oberflächen beim Menschen ca. 20 mal größer als die sichtbaren. Eine Zahl, die allerdings sowohl beim Ameisenhaufen als auch bei Hornkieselschwämmen um ein Vielfaches übertroffen wird.
Wartezimmer
Ich bin mir nicht sicher, was in einem Wartezimmer von mir erwartet wird. Lange Zeit habe ich es vermieden, Ärzt*innen aufzusuchen, nur zu meiner Zahnärztin gehe ich regelmäßig, aber da sitz ich immer nur fünf Minuten im Wartezimmer, und meistens alleine.
Jetzt brauche ich eine Krankschreibung und bin bei dieser Ärztin gelandet, die Fatima mir empfohlen hat. Schon oft wurden mir Ärzt*innen empfohlen, vor allem von Freund*innen, die meinen, ich sollte da mal hingehen. Aber Fatima sagte einen Satz, der mich nicht nur sofort von der Ärztin überzeugt hat, sondern sogar bewirkte, dass ich mich auf diesen Arztbesuch freue. Sie sagte nämlich: “Und im Wartezimmer gibt es ein Bücherregal.“
Ich weiß, dass in solchen Bücherregalen meistens nur die Bücher stehen, die niemand zu Hause im Bücherregal haben möchte. Trotzdem kann ich mich dem Zauber dieses Wortes nicht entziehen. Bücherregal. Es ist kein geeignetes Kriterium, um eine Ärztin auszusuchen, aber, so denke ich beglückt, Fatima hat sie empfohlen!
Als ich von der Sprechstundenhilfe gebeten werde, doch noch etwas Platz zu nehmen, bedanke ich mich bei ihr, öffne ich die Tür zum Wartezimmer und schrecke zurück. Es ist voller Menschen. Ich mache die Tür wieder zu. Erwartungen werden oft erst bewusst, wenn sie nicht erfüllt werden. Ich hatte die Vorstellung, mit einem Bücherregal mehr oder weniger alleine zu sein.
Jetzt würde ich lieber wieder nach Hause gehen. Die Sprechstundenhilfe sieht mich fragend an. Ich hole tief Luft und mache die Tür wieder auf. “Guten Tag”, sage ich und ein paar Leute erwidern meinen Gruß murmelnd und ohne mich dabei anzusehen. Ich strebe zu dem einzigen Stuhl, der noch frei ist, setze mich auf einen Teil der Sitzfläche und erstarre. Was mache ich jetzt, in einem Raum mit so vielen Menschen, alle unbekannt, körperlich nahe und stur schweigend?
Ich atme. Das geht, ein Fenster ist gekippt, kalte Luft strömt herein. Ich beruhige mich ein bisschen. Ich versuche, nicht daran zu denken, dass ich hier wahrscheinlich eine Stunde zubringen muss. Vorsichtig gucke ich mich um. Die meisten Leute sind in ihr Handy vertieft, manche blättern in einer Zeitschrift, zwei lesen in einem Buch, nur eine Frau beschäftigt sich nicht, starrt teilnahmslos zu Boden.
Und da ist das Bücherregal, neben der Spielecke. Dieses Objekt meines Begehrens, das in meiner Vorstellung eine ganze Wand eingenommen hatte, ist auf zwei kurze Regalbretter beschränkt. Vielleicht 20 Bücher, die Hälfte davon Bilderbücher. Ich schlucke schwer an meiner Enttäuschung. Fatima, denke ich verbittert. Nie andere Leute für deine Erwartungen verantwortlich machen, ist ein schöner Grundsatz, aber schwer einzuhalten. Mir wäre jetzt danach, Fatima eine wütende Sprachnachricht zu schicken: “Du hast mich betrogen! Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu dieser Ärztin gelockt!“
Als ich mir das in der Stille des Wartezimmers vorstelle, muss ich grinsen. Aber das vergeht mir schnell. Das massive Schweigen von sprechfähigen Menschen schüchtert mich ein. Es ist mir unheimlich. Es hat nichts mit mir zu tun, sage ich mir, es ist die Benennung der Räume. Die Leute denken wahrscheinlich, hier ist Warten angesagt und Sprechen sollen sie nur im Sprechzimmer.
Unerwartet tauchen alte Erinnerungen auf. In meiner Kindheit war das Wartezimmer ein Sprechzimmer. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass es in Österreich war, oder dass der Datenschutz noch nicht erfunden war, auf jeden Fall war es in einem Wartezimmer nie still. Neu Eintreffende wurden begrüßt und gefragt, warum sie da waren, und hatte einmal jemand keine Bekannten im Wartezimmer, fingen die meisten von sich aus an, von ihrem Leiden zu erzählen, und alle kannten jemanden, der oder die das auch schon mal hatte.