Ich bin mir nicht sicher, was in einem Wartezimmer von mir erwartet wird. Lange Zeit habe ich es vermieden, Ärzt*innen aufzusuchen, nur zu meiner Zahnärztin gehe ich regelmäßig, aber da sitz ich immer nur fünf Minuten im Wartezimmer, und meistens alleine.
Jetzt brauche ich eine Krankschreibung und bin bei dieser Ärztin gelandet, die Fatima mir empfohlen hat. Schon oft wurden mir Ärzt*innen empfohlen, vor allem von Freund*innen, die meinen, ich sollte da mal hingehen. Aber Fatima sagte einen Satz, der mich nicht nur sofort von der Ärztin überzeugt hat, sondern sogar bewirkte, dass ich mich auf diesen Arztbesuch freue. Sie sagte nämlich: “Und im Wartezimmer gibt es ein Bücherregal.“
Ich weiß, dass in solchen Bücherregalen meistens nur die Bücher stehen, die niemand zu Hause im Bücherregal haben möchte. Trotzdem kann ich mich dem Zauber dieses Wortes nicht entziehen. Bücherregal. Es ist kein geeignetes Kriterium, um eine Ärztin auszusuchen, aber, so denke ich beglückt, Fatima hat sie empfohlen!
Als ich von der Sprechstundenhilfe gebeten werde, doch noch etwas Platz zu nehmen, bedanke ich mich bei ihr, öffne ich die Tür zum Wartezimmer und schrecke zurück. Es ist voller Menschen. Ich mache die Tür wieder zu. Erwartungen werden oft erst bewusst, wenn sie nicht erfüllt werden. Ich hatte die Vorstellung, mit einem Bücherregal mehr oder weniger alleine zu sein.
Jetzt würde ich lieber wieder nach Hause gehen. Die Sprechstundenhilfe sieht mich fragend an. Ich hole tief Luft und mache die Tür wieder auf. “Guten Tag”, sage ich und ein paar Leute erwidern meinen Gruß murmelnd und ohne mich dabei anzusehen. Ich strebe zu dem einzigen Stuhl, der noch frei ist, setze mich auf einen Teil der Sitzfläche und erstarre. Was mache ich jetzt, in einem Raum mit so vielen Menschen, alle unbekannt, körperlich nahe und stur schweigend?
Ich atme. Das geht, ein Fenster ist gekippt, kalte Luft strömt herein. Ich beruhige mich ein bisschen. Ich versuche, nicht daran zu denken, dass ich hier wahrscheinlich eine Stunde zubringen muss. Vorsichtig gucke ich mich um. Die meisten Leute sind in ihr Handy vertieft, manche blättern in einer Zeitschrift, zwei lesen in einem Buch, nur eine Frau beschäftigt sich nicht, starrt teilnahmslos zu Boden.
Und da ist das Bücherregal, neben der Spielecke. Dieses Objekt meines Begehrens, das in meiner Vorstellung eine ganze Wand eingenommen hatte, ist auf zwei kurze Regalbretter beschränkt. Vielleicht 20 Bücher, die Hälfte davon Bilderbücher. Ich schlucke schwer an meiner Enttäuschung. Fatima, denke ich verbittert. Nie andere Leute für deine Erwartungen verantwortlich machen, ist ein schöner Grundsatz, aber schwer einzuhalten. Mir wäre jetzt danach, Fatima eine wütende Sprachnachricht zu schicken: “Du hast mich betrogen! Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu dieser Ärztin gelockt!“
Als ich mir das in der Stille des Wartezimmers vorstelle, muss ich grinsen. Aber das vergeht mir schnell. Das massive Schweigen von sprechfähigen Menschen schüchtert mich ein. Es ist mir unheimlich. Es hat nichts mit mir zu tun, sage ich mir, es ist die Benennung der Räume. Die Leute denken wahrscheinlich, hier ist Warten angesagt und Sprechen sollen sie nur im Sprechzimmer.
Unerwartet tauchen alte Erinnerungen auf. In meiner Kindheit war das Wartezimmer ein Sprechzimmer. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass es in Österreich war, oder dass der Datenschutz noch nicht erfunden war, auf jeden Fall war es in einem Wartezimmer nie still. Neu Eintreffende wurden begrüßt und gefragt, warum sie da waren, und hatte einmal jemand keine Bekannten im Wartezimmer, fingen die meisten von sich aus an, von ihrem Leiden zu erzählen, und alle kannten jemanden, der oder die das auch schon mal hatte.
Die erste Diagnose wurde im Wartezimmer erstellt, und hier gab es auch immer mehrere Behandlungsvorschläge. Wenn jemand von einem Arztbesuch nach Hause kam, war die zweite Frage immer: “Wen hast du getroffen? Und was hatten die?” Das Wartezimmer war eine Informationsquelle und alleine drin zu sitzen enttäuschend, weil man dann zu Hause nichts berichten konnte.
Natürlich gab es auch die Außenseiter, die nichts erzählten oder die so fremd waren, dass sie von niemandem gefragt wurden. Ich fühlte mich nie zugehörig zu so einer Wartezimmer-Gesellschaft. Mich hatte es als Jugendliche genervt, all die Krankheitsgeschichten und die Ratschläge dazu zu hören und ich habe mich in meinem Buch vergraben und versucht, nichts davon mitzubekommen. Ich wollte auch nichts erzählen. Ich wollte meine Ruhe haben. Auch heute weiß ich Anonymität durchaus zu schätzen. Trotzdem fühle ich mich hier unbehaglich.
Es sind nicht nur die Worte, die fehlen. Niemand interessiert sich dafür, warum ich, obwohl in der Blüte meiner Jahre, einen gebückten Gang habe und mich so vorsichtig auf dem Stuhl niederlasse. Dieses Ausbleiben von Neugier. In den Wartezimmern meiner Kindheit hätte der interessante Vorgang, wie eine schon jahrelang gekrümmte Wirbelsäule es plötzlich geschafft hat, einen Nerv einzuklemmen, sicher eine angeregte Diskussion ausgelöst. Jetzt bin ich einerseits froh, nicht ausgefragt zu werden, andererseits ist es irritierend, dass ich keine Chance habe, etwas zu erzählen. Denn hier wird nicht nur über Krankheiten nicht gesprochen, sondern überhaupt nicht.
Ich starre das Bücherregal an. Ich habe natürlich auch etwas zu lesen mit, ohne Buch verlasse ich nie das Haus, aber ich muss mir dieses Regal einmal ansehen! Nur bin ich auf meinem Stuhl wie festgeklebt. Gerade weil ich nicht beachtet werde, komme ich mir vor wie unterm Mikroskop, von zwei Glasplättchen flach gedrückt und im Visier eines riesigen Auges.
Dann geht die Tür auf, die Sprechstundenhilfe schaut herein. Sofort wenden sich einige Gesichter ihr zu, hier ist die Offenheit, die ich mir gewünscht habe. Sie sagt einen Namen, eine Person erhebt sich, geht mit ihr, die Tür schließt hinter ihnen. Die Aufmerksamkeit, die ein paar Augenblicke lang im Raum geknistert hat, sackt wieder ab.
Aber diese kurze Intervention reicht aus, um mich aus meiner Erstarrung zu holen und mir die Gelegenheit zu geben, aufzustehen und die zwei Schritte zum Bücherregal zu gehen. Niemand rührt sich. Egal, sage ich mir. Ich kann auch in einem Empathie-Vakuum atmen, mich bewegen, und mir ein Buch aussuchen.
Die Wahl ist schnell getroffen, es gibt nur ein Buch, das interessant aussieht. “Was ich Marianne nicht erzählt habe”, von Irena Rubinetto. Ein gebundenes Buch, es sieht aus wie hundert Mal gelesen. Auf dem Einband zwei Frauen auf Fahrrädern in einer Allee von Straßenlaternen, die kreuz und quer aus dem Boden wachsen, voller Stacheln, die Köpfe in verschiedene Richtungen gewendet.
Ich nehme das Buch mit zu meinem Platz. Neugierig öffne ich es. Eine Seite, die lose darin lag, rutscht heraus, segelt auf den Boden und unter den Stuhl der Frau gegenüber. Ich starre auf das Blatt, dann auf die Frau, hoffe, dass sie meine Blicke spürt und aufsieht.
Sie spürt nichts. Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her. Die Frau neben mir sieht kurz hoch. Sie wirkt genervt, also halte ich still. Ich kann das Buch ja auch erstmal ohne dieses Blatt lesen. Vielleicht war es nur das Vorwort. Nein. Es war die erste Seite. ‘Fatima ist schuld!’, denke ich böse, obwohl ich sofort die Ungerechtigkeit dieses Gedankens erkennen kann.
Ich besänftige mich und beginne auf Seite drei zu lesen: “… finstere Gedanken und Zweifel am eigenen Leben. Ich bleibe auf dem unbefestigten Seitenstreifen, im fahlen grünen Licht sind die Gänseblümchen zu erkennen, die ich mit meinen schweren Stiefeln bei jedem Schritt zertrete. Schwäche, was ist Schwäche? Ist es Sturheit im Nichteintreten in die eigene Wirklichkeit? Warum nur habe ich die Kaution für Marianne bezahlt?“
Wer ist denn diese Marianne? Worum geht es hier überhaupt? Begierig starre ich auf das Blatt unter dem Stuhl. Ich räuspere mich. Keine Reaktion. Ist Warten auch ein Nichteintreten in die eigene Wirklichkeit? Ist das Wartezimmer ein unbefestigter Seitenstreifen des Lebens? Jeden Augenblick werden hier Gänseblümchen zertreten. Jetzt tut auch mein Rücken wieder weh.
Bei diesen Schmerzen ist der Vierfüßlerstand oft wohltuend. Damit würde ich auch an die erste Seite dran kommen. Das Problem ist nur, vom Sitzen auf den Boden zu gelangen, ohne Schmerzensschreie auszustoßen.
Das Schicksal kommt mir zu Hilfe. Wieder geht die Tür auf, die Frau neben mir wird zur Ärztin gerufen. Das ist meine Chance. Als sich alle wieder in ihre Handys vertieft haben, stütze ich mich auf den Stuhl neben mir, lege meinen Oberkörper darauf und gleite gleichzeitig mit den Knien zu Boden. Dann ist es nur eine kleine schmerzhafte Drehung, die mich schließlich in die Krabbel-Position bringt.
Ich sehe aus den Augenwinkeln, dass ein Mann mich bemerkt hat, aber so tut, als wäre nichts. Ich setze die Hände vorwärts, die Knie … dann bin ich soweit, dass ich seitlich, an den Beinen der Frau vorbei, nach dem Blatt greifen könnte. Ich stütze mich auf meine Rechte und strecke die linke Hand nach Marianne aus. Ein scharfer Schmerz fährt mir in den Rücken, so plötzlich, dass ich losschreie.
Die Frau vor mir schreckt hoch, zieht ihre Beine zurück und stellt einen Schuh auf das Blatt. Die Gänseblümchen. Vor Enttäuschung und Schmerzen überwältigt, rolle ich auf den Rücken. Da hat schon jemand die Tür aufgerissen, die Sprechstundenhilfe kommt herbei geeilt: “Wie ist denn das passiert?“
Ich antworte nicht, es ist auch nicht nötig, weil plötzlich alle anderen reden, sich gegenseitig erzählen, dass sie nichts gesehen haben und warum ich denn nichts gesagt hätte. Ich habe sie zum Sprechen gebracht. Man braucht sich nur auf den Boden zu legen, dann klappt es. “Nein, danke”, sage ich zu allen Hilfeangeboten. Ich ziehe meine Beine an, stütze die Hände auf und stemme mich hoch. “Nächstes Mal sagen Sie Bescheid, dass sie nicht sitzen können!”, meint die Sprechstundenhilfe, “wir haben ja auch Liegen für solche Zwecke.“
Ich werde ins Sprechzimmer geführt und komme als nächste dran. Die Ärztin schreibt mich für zwei Wochen krank und fragt, ob ich jetzt alleine nach Hause komme. “Ja, das geht schon, danke.“
Sorgen mache ich mir nur um das Buch. Die erste Seite. Diesmal sehen mich alle an, als ich das Wartezimmer betrete. Jemand fragt sogar: “Alles in Ordnung?” “Ja, danke”, sage ich. Dabei ist nichts in Ordnung. Es ist nicht da. Das Blatt liegt nicht mehr unter dem Stuhl. Nicht aufregen, sage ich mir. Ich nutze die Aufmerksamkeitsspanne, in der ich mich noch befinde, und sage laut: “Hier lag etwas, unter diesem Stuhl.“
Die Frau, die darauf sitzt, schaut schuldbewusst: “Der Zettel? War der von Ihnen? Er klebte an meinem Schuh. Ich habe ihn weg geworfen, entschuldigen Sie.” Ich entschuldige nichts, strebe sofort den Papierkorb an, gehe vor ihm in die Hocke. Jetzt bin ich voll im Fokus, aber es macht mir nichts mehr aus. Ich bin kein Objekt mehr, zwischen Glasplättchen gepresst, ich bin das Subjekt, das im Papierkorb wühlt und zwischen feuchten Apfelputzen und Taschentüchern entschlossen ein zerknülltes Blatt Papier heraus zieht.
Dann stütze ich mich auf den Rand des Papierkorbs, drücke meinen Hintern hoch und lasse den Oberkörper vorsichtig folgen. An der erwarteten Stelle kommt der Schmerz, aber ich schreie nicht. Endorphine helfen mir. Keine Zweifel mehr, eintreten in die eigene Wirklichkeit! Ich drehe mich zum Bücherregal, wo jemand “Was ich Marianne nicht erzählt habe” abgelegt hat. Ich nutze das Buch als Unterlage, um die erste Seite glatt zu streichen. Sie ist an manchen Stellen dunkel vor Nässe und zeigt auch den Fußabdruck der Frau, aber es scheint noch alles zu lesen zu sein. Behutsam lege ich das Blatt ins Buch.
“Dieses Buch leihe ich jetzt aus”, sage ich drohend zu allen, die mich immer noch ansehen, erstaunt, abschätzig oder auch ängstlich. Niemand wagt zu widersprechen. Als ich die Tür zum Wartezimmer hinter mir schließe, meine ich ein Aufatmen zu verspüren.
Zehn Minuten später sitze ich in der Straßenbahn nach Hause. Eigentlich ein voller Erfolg, denke ich. Ich bin schnell dran gekommen, habe meine Krankschreibung, und ich habe ein steriles Wartezimmer in einen Erlebnisraum verwandelt. Alle werden etwas zu erzählen haben, wenn sie nach Hause kommen. Ich schicke eine Whatsapp an Fatima. “Deine Ärztin ist super, tausend Dank!” Mit Herzen und Küsschen. Und dann schlage ich das Buch auf: “Was ich Marianne nicht erzählt habe”, und beginne genüsslich, die erste Seite zu lesen.