Im Herbst spaziere ich gerne durch die Parzellengebiete. Da leuchten Blumen und rote Weinblätter, der Efeu blüht und ist von Bienen umschwärmt, manchmal finde ich Äpfel in Plastiktüten auf dem Weg, zum Mitnehmen. Einmal steht eine Tür offen, und ich sehe einen riesigen orangen Kürbis. Die Pflanze ist an einem Tisch hoch geklettert und die Frucht thront darauf eine Königin. Als ob sie mich herbeiwinken würde, folge ich dem Weg mit den schiefen Platten. Ich bin noch nicht weit gekommen, da fällt hinter mir das Gartentor zu und eine Stimme sagt: “Darauf warte ich schon den ganzen Sommer. Ich muss Ihnen etwas erzählen.” Eine kleine kräftige Frau, graue Haare, mit einer Hacke in der Hand, steht bei der Zypresse.
“Ich … wollte mir nur den Kürbis ansehen”, stottere ich. “Dieser Kürbis gehört Ihnen, wenn Sie mir zuhören. Drinnen ist es warm.” Sie deutet auf ein kleines Haus, das rot gestrichen ist und vom Efeu bewachsen wird. Ich zögere, suche nach einer Ausrede. “Wird schon”, sagt sie. “Pfefferminz Tee?” “Ja, gerne.” Sie lehnt die Hacke an die Hauswand und verschwindet im Häuschen.
Jetzt könnte ich gehen. Wenn ich nur nicht immer so neugierig wäre. Ich luge durchs Fenster. Auf dem Tisch stehen zwei Teller mit zwei Bechern bereit. Und in der Mitte ein Schokoladenkuchen. Er sieht gut aus. Ich hoffe nur, dass er nicht auch schon den ganzen Sommer über auf mich wartet. Die Frau stellt jetzt einen Krug auf den Tisch, aus dem es dampft. Sie winkt mir. “Kommen Sie!”
“Was möchten Sie denn erzählen”, erkundige ich mich, als ich Platz genommen habe. “Wie dieser Kürbis zustande gekommen ist.” “Okay”, sage ich erleichtert. Ich habe einige Erfahrungen mit Hobby-Gärtner*innen. Viele davon sind ein bisschen fanatisch und manche sprechen mit ihren Pflanzen wie mit Haustieren. “Sie brauchen nur zuzuhören, sagen Sie nichts dazu.” Auch das ist kein ungewöhnlicher Wunsch. Die meisten Menschen sehnen sich danach, unwidersprochen reden zu können. “Ich muss es jetzt endlich einmal erzählen.” Es ist diese Dringlichkeit und der kummervolle Ausdruck auf ihrem Gesicht, die nicht zu einer harmlosen Kürbisgeschichte passen wollen.
Sie wirkt fahrig, so als ob sie wenig geschlafen hätte, dabei aber sehr bestimmt. “Erzählen Sie”, sage ich. Sie gießt Tee ein, schneidet mir ein Stück Kuchen ab. Für sich selbst nimmt sie nichts. Sie streicht ein paar Mal mit der Hand über das geblümte Tischtuch, dann strafft sie sich und fängt an zu reden. Manchmal stockt sie und sieht mich an, dann nicke ich ganz leicht mit dem Kopf, und der Redefluss fließt weiter, so lange, bis alle zurückgehaltenen Wörter laut ausgesprochen sind.
“Im März fing es an, da kam er zum ersten Mal, ich bin gerade auf dem Weg am Hecken schneiden und lasse die Astschere sinken, weil mir die Schultern weh tun. “Can I help you”, sagt er und ich erschreck mich, wie er so plötzlich vor mir steht, so schwarz. Ich kann ja nicht viel Englisch, aber das habe ich verstanden, dass er mir helfen will. Weil ich nicht weiß, was ich sagen soll, halte ich ihm die Astschere hin und er nimmt sie und schneidet den Rest der Hecke, ein paar Meter, er macht es mit so einer Leichtigkeit, dass es elegant aussieht.
Da denke ich, dass ich ihm jetzt Geld geben muss, und es sträubt sich etwas in mir, ich hab ihn schließlich nicht darum gebeten, und ich geb ihm nichts und sag nichts. Er gibt mir die Astschere zurück und lächelt ein bisschen und sagt dann: “Schüüß”, es klingt falsch, aber ich lächle auch und sag tschüß und er geht.
Danach mach ich mir Vorwürfe, dass ich ihm nichts gegeben habe, noch nicht mal einen Tee, das war nicht fair. Ich denk, vielleicht kommt er nochmal vorbei, und halte Ausschau nach ihm. Ein paar Tage später geht er wieder hier durch und ich wink ihm und will ihm Geld geben und er will nicht, deshalb sag ich, er soll reinkommen und dann sitzt er da, wo Sie jetzt sitzen.
Am Anfang hatte ich schon ein bisschen Angst vor ihm. Man hört ja so viel. Und er sah sehr fremd aus. Vorher hätte ich gesagt, es ist ja egal, ob ein Mensch weiß oder schwarz ist, und dann, als er so direkt vor mir war, hab ich gedacht, es ist doch ein großer Unterschied, und später, als wir uns angefreundet haben, da war er mir vertraut, und seine Hautfarbe hatte nicht mehr die Bedeutung von fremd.
Er ist dann ziemlich oft gekommen. Es war ja so ein schöner Frühling, der April schon so warm und der Mai auch. Ich hab mir angewöhnt, Kuchen mitzubringen, den hat er gern gegessen, und Tee dazu, immer Tee. Wenn er was arbeiten wollte, hab ich gesagt: “Aber nur, wenn du Geld nimmst.” Das hat er dann auch gemacht. Aber nicht immer. Manchmal hat er stur nichts genommen. Nur den Kuchen durfte ich ihm immer einpacken. Zum Abschied hat er jedes Mal die Hand auf sein Herz gelegt.
Ich hab mich so an ihn gewöhnt, wenn er mal einen Tag nicht gekommen ist, hab ich ihn vermisst. Wir haben nie viel geredet, obwohl er auch ein paar Sätze Deutsch gesprochen hat, so nach und nach. Ich hab ihm die Pflanzen gezeigt und ihre Namen gesagt, Tomaten, Salat, Rosen. Die Wörter Kartoffeln und Karotten hat er anfangs immer verwechselt. Löwenzahn mochte er, das Wort und die gelben Blüten. Einmal hab ich ein paar Blumen gepflückt und in eine Vase gestellt, da hat er einen Löffel Zucker ins Wasser gegeben. “Macht länger schön”, meinte er. Dann hab ich vom Markt Kürbis-Pflänzchen mitgebracht, wir haben sie zusammen eingesetzt. “Kübris”, hat er am Anfang gesagt. Aber er hat immer alles so lange geübt, bis er es richtig aussprechen konnte.
Zwei von den Kürbis-Pflänzchen wurden von den Schnecken aufgefressen, in einer Nacht, aber das dritte hat nur ein paar Bisse abgekriegt und überlebt. Um dieses Pflänzchen hat er sich dann besonders gekümmert. Und als die anderen beiden sich nicht erholt haben, hat er auf sie gedeutet und gesagt: “Wie meine Freunde. Im Wasser.” Da habe ich verstanden, dass seine Freunde ertrunken sind.
Ich wusste erst gar nicht, was ich sagen soll. Ich hatte sogar so eine Abwehr. Das geht mich nichts an. Da kann ich nichts dafür. Aber da war Malik, er hockte bei der Kürbispflanze, mit Tränen in den Augen. Ich kam mir grausam vor. Als er aufgestanden ist, hab ich ihn umarmt. Ein bisschen unbeholfen, ich wusste gar nicht, wie er das findet, aber er war ganz weich und wir haben uns eine Weile im Arm gehalten. Das war der Moment, wo ich beschlossen habe, einen Englischkurs zu machen. Sobald es im Herbst wieder losgeht, mit der Volkshochschule, habe ich gedacht. Dann können wir uns besser unterhalten.
Ende Juni ist er dann mit einem dicken Brief gekommen. Das waren 50 Seiten oder mehr. Ein amtlicher Brief. Ich hab erst gedacht, Ich soll ihm das übersetzen. Und hab gesagt: “Das kann ich nicht.” Dann hab ich die erste Seite gelesen. Da stand: “Abgelehnt.” Und: “Fordern wir Sie auf, Deutschland innerhalb einer Woche zu verlassen.“
Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Ich habe mich auf einmal ganz hilflos gefühlt. Und schwach. Ich hätte am liebsten geweint, aber es ging ja um Malik. “Was machst du denn jetzt?”, hab ich gefragt. Und dann hab ich zu ihm gesagt, wie er damals zu mir: “Can I help you?” Er hat mit den Achseln gezuckt. Und dann hatte er es eilig. Ich wollte ihn noch einmal umarmen, aber ich hab mich nicht getraut. Auf einmal war er wieder fremd.
Zum Abschied hab ich gesagt: “Wir finden einen Weg. Tomorrow, morgen, komm morgen wieder.” Die ganze Nacht hab ich wach gelegen. Und überlegt, ob ich ihn bei mir verstecken soll. Und dann gedacht, ja, es muss sein. Ich bin gleich in der Früh in den Garten gefahren und hatte Klamotten von meinem verstorbenen Mann mit, die hatte ich noch in einem Karton im Keller, damit Malik sich damit tarnen kann, irgendwie.
Aber er ist nicht wieder gekommen. Ich hab jeden Tag auf ihn gewartet. Und er kam nicht. Da hab ich erst gemerkt, wie wenig ich von ihm weiß. Nicht, wo er wohnt. Wie er mit ganzem Namen heißt. Aus welchem Land er kommt. Das alles hat ja keine Rolle gespielt bei unserem Gartenbeisammensein. Wir haben so friedliche Zeiten miteinander verbracht, und dabei war er die ganze Zeit über so bedroht.
Wochenlang konnte ich danach nicht mehr gut schlafen. Bis jetzt eigentlich. Ich hab so viel nachgedacht, wie vorher noch nie. Nach dem Tod meines Mannes konnte ich auch nicht schlafen. Da musste ich mich auch komplett umsortieren, mein ganzes Leben. Aber das hat mich nicht so in Frage gestellt wie das Verschwinden von Malik.
Ich sag Verschwinden. Wahrscheinlich ist er abgeschoben worden. Aber vielleicht konnte er sich auch irgendwo verstecken. Ich hoffe so sehr, dass er lebt, dass es ihm gut geht. Weil der Kürbis so groß geworden ist, so kräftig, glaube ich daran. Und dann auch wieder nicht.
Warum konnte er nicht hier bleiben? Er hätte bei mir wohnen können. Ich hätte ihn sogar adoptiert. Warum werden denn Menschen so aus diesem Land heraus gerissen? Jetzt denke ich, ich hätte mich mehr um ihn kümmern müssen. Mehr von ihm wissen. Dann hätte ich vielleicht etwas tun können, damit er bleibt.
Vorher hab ich gedacht, es lebt halt jeder so sein Leben, kümmert sich um die eigenen Sachen und ist für sich selbst und die Seinen zuständig. Wer arbeitet, bringt es auch zu etwas. Jeder ist seines Glückes Schmied. Dass manche Leute gar keine Gelegenheit kriegen, mit dem Schmieden anzufangen, da hab ich nicht drüber nachgedacht.
Wenn ich jetzt von Abschiebungen höre, muss ich immer an ihn denken. So ein freundlicher junger Mann. Ich weiß nicht, warum er hierher gekommen ist. Aber ist das nicht eigentlich egal? Ich bin ja auch hierher gezogen, ohne beweisen zu müssen, dass ich in Paderborn verfolgt wurde.
Die Leute, die übers Meer kommen wollen, oder durch die Wüste, und dann sterben, am Wasser, an der Hitze, sterben doch eigentlich an den Grenzen, die wir setzen. Früher gab es Acht und Bann. Acht bedeutete, dass die Verurteilten straflos getötet werden konnten. Das gab‘s im Mittelalter, aber ist das nicht so was ähnliches, jetzt im Mittelmeer?
Als wir in der Schule vom Nationalsozialismus gelernt haben, und ich meine Mutter danach gefragt habe, hat sie gesagt: “Wir haben doch nichts gewusst.” Und ich damals war zornig auf sie: “Du hättest aber was wissen können. Du hättest etwas machen können.” Das ist mir erst jetzt wieder eingefallen.
Und heute wissen wir alles und machen nichts. Da wird so viel Vergangenheitsbewältigung gemacht und alle sind sich einig, dass Hitler der Schlimmste war, aber bei diesen ganzen Toten frage ich mich”, ihre Stimme wird leise, und plötzlich merke ich, wie dunkel es im Haus geworden ist, “bei diesen ganzen Toten denke ich, das ist doch eigentlich in Hitlers Sinne.“
Sie erhebt sich, macht das Licht an, es beleuchtet die Kuchenkrümel auf meinem Teller. “Ich gehe jetzt zu den Seebrücke Treffen”, sagt sie. “Am Anfang hab ich nichts gesagt, weil ich Angst hatte, etwas falsch zu machen. Dann hab ich gedacht, egal, alle machen etwas falsch. Ich hab auch angefangen, Deutschunterricht für eine Gruppe von Geflüchteten zu geben. Das ist sehr ungewohnt für mich, so verschiedene Menschen zu treffen. Das Aufeinander Zugehen ist nicht leicht. Aber es ist besser, als sich fremd zu bleiben. Fremd sollte ja ein vorübergehendes Adjektiv sein.
Ich hab in dem Kurs keinen getroffen, der so ist, wie Malik war. Und ich hab noch nie jemandem etwas von ihm erzählt. Ich bin so traurig. Und ich schäme mich so.” Sie schlägt die Hände vors Gesicht. “Nehmen Sie den Kürbis und gehen Sie!”, ruft sie plötzlich, als ob ich ihr etwas getan hätte.
Ich stehe auf. “Das ist der Anfang”, sage ich. “Sie haben es mir erzählt, und jetzt können Sie es auch anderen erzählen.” “Gehen Sie bitte!” Sie schluchzt. Ich gehe. Draußen streichle ich den Kürbis. Ich nehme ihn nicht mit. Ich setze meinen Spaziergang fort, in der Dämmerung. Die Blumen und die Weinblätter haben ihr Leuchten verloren, die Bienen sind in ihre Stöcke zurück gekehrt. Es riecht nach nassem Laub und dann fängt es, ganz sanft, an zu regnen.