Paket

oranger Tank mit grünem Schüssel-Hut unter Olivenbaum

“Sie haben ein Paket bekom­men”, ruft es von unten. Ich beu­ge mich über den Gelän­der­rand im vier­ten Stock: “Kom­men Sie ruhig hoch!” “Ich kann nicht”, ächzt der Post­bo­te. “Schon gar nicht ruhig.” Jetzt bin ich auch beun­ru­higt. Ich kann mich nicht erin­nern, etwas bestellt zu haben. Doch, fällt mir beim Hin­un­ter­lau­fen ein, ein Sta­tiv. Es soll­te aller­dings klapp­bar sein. Das Paket über­ragt den Post­bo­ten, der auch nicht gera­de klein ist, und jetzt einen hoch­ro­ten Kopf hat. “Allei­ne schaf­fe ich das nicht”, behaup­tet er, und tat­säch­lich ist die­ses Mons­ter­pa­ket so schwer, dass ich es nicht ein­mal anhe­ben kann. Ich hole den Nach­barn aus dem ers­ten Stock zu Hil­fe, der drei­mal die Woche ins Fit­ness­stu­dio geht und immer nach Her­aus­for­de­run­gen sucht. Er schleppt das Paket eine Trep­pe hoch, dann bleibt er keu­chend ste­hen und reibt sich sei­nen Rücken.
Zu dritt schaf­fen wir es schließ­lich. “Was haben Sie denn da bestellt?”, will der Nach­bar wis­sen. Das fra­ge ich mich auch. Habe ich schon wie­der etwas Fal­sches ange­klickt? Viel­leicht ist das Sta­tiv aus Guß­ei­sen. Oder da stand nicht “Sta­tiv”, son­dern “Sta­tue”. Nie wie­der über­mü­det Inter­net-Bestel­lun­gen machen, neh­me ich mir vor, als der Post­bo­te und der Nach­bar die Trep­pen hin­un­ter wan­ken.
Ich zwän­ge mich an dem Paket vor­bei, das jetzt einen beträcht­li­chen Teil des Ein­gangs­be­rei­ches ein­nimmt, und beschlie­ße, mir erst­mal einen Cap­puc­ci­no zu machen. Da weiß ich noch nicht, dass dies das letz­te fried­li­che Kaf­fee­trin­ken in mei­ner Küche sein wird. Ich löff­le den Soja­milch­schaum mit einem Stück dunk­ler Scho­ko­la­de, schaue aus dem Fens­ter auf den ers­ten grü­nen Blät­ter­flaum an den Bäu­men, und sin­ne dar­über nach, war­um aus­ge­rech­net vor mei­nem Bal­kon eine Hain­bu­che steht, von der sich das Wort “hane­bü­chen” ablei­tet, was soviel wie absurd und abwe­gig bedeu­tet. Und dann höre ich Geräu­sche im Flur.

Ich blei­be sit­zen. Ich möch­te nicht hin­aus­ge­hen und nach­se­hen, was mir dies­mal wie­der pas­siert. Jetzt fällt mir ein, viel zu spät, dass ich das Paket nicht anneh­men hät­te sol­len. “Das ist nicht für mich”, hät­te ich sagen müs­sen: “Es ist ein Irr­tum!” Nie und nim­mer ist in dem Paket ein Sta­tiv, und es ist auch kei­ne Sta­tue drin. Wäre es doch eine Sta­tue! Bit­te, lass es eine Sta­tue sein! Ich wür­de sie vor lau­ter Dank­bar­keit im Flur auf­stel­len und jeden Mor­gen grü­ßen. Aber Sta­tu­en machen kei­ne Geräu­sche.
Ich gehe jetzt doch nach­se­hen. Das Paket bläht sich auf, in regel­mä­ßi­gen Abstän­den, als ob eine brei­te Brust zu wenig Platz zum Atmen hät­te, und dann erscheint in der Mit­te, dort wo die bei­den Deckel­flü­gel anein­an­der sto­ßen, ein Tep­pich­mes­ser. Es schlitzt das Kle­be­band auf und schnei­det die schwar­zen Paket­bän­der durch. Mir läuft es kalt den Rücken hin­un­ter. Ein Auf­trags­mör­der! Ich gehe hin­ter der Küchen­tür in Deckung. Aber ich wer­de kei­ne Chan­ce haben. Geschick­te Metho­de, sich als Paket in die Woh­nung tra­gen zu las­sen. Nach geta­ner Arbeit spa­ziert er oder sie harm­los die Trep­pe run­ter und ich wer­de erst gefun­den, wenn der Ver­we­sungs­ge­ruch in den Haus­flur hin­aus dringt.
“Hal­lo!”, ruft es aus dem Paket, und dann rei­ßen zwei kräf­ti­ge Hän­de den Kar­ton ent­zwei. Vor mir steht eine dicke Frau im grü­nen Kleid mit feu­er­ro­ten Haa­ren. Ohne Pis­to­le. “Hal­lo!”, sagt sie noch ein­mal, “ich bin Ihre neue Assis­ten­tin.” Ich kom­me hin­ter der Küchen­tür her­vor. “Sehr ange­nehm, aber … ich habe Sie gar nicht bestellt.” “Wahr­schein­lich haben Sie mich bei einem Preis­aus­schrei­ben gewon­nen.” Wäh­rend ich fie­ber­haft über­le­ge, ob ich irgend­wo teil­ge­nom­men habe, sieht sie sich in der Woh­nung um. “Wel­ches Zim­mer soll ich neh­men?” Zim­mer? Ich bekom­me einen Schwä­che­an­fall und hal­te mich an der Küchen­tür fest. Es gelingt mir gera­de noch, auf das Gäs­te­zim­mer zu deu­ten. “Okay, hier kann ich dann schon mal anfan­gen mit reno­vie­ren.” Sie zieht an der Tape­te, die sich leicht von der Wand lösen lässt. Dann schnappt sie den Wäsche­stän­der und stellt ihn in den Flur. “Gegen nas­se Wäsche bin ich all­er­gisch.” “Ich brau­che eigent­lich kei­ne Assis­ten­tin …”
“Sie wer­den mich schon bald sehr nütz­lich fin­den. Machen Sie sich kei­ne Sor­gen. Sie sehen ja ganz zer­knit­tert aus.” Sie stellt ihren Kof­fer ab, lässt sich aufs Sofa fal­len: “Ah, das tut gut! Wur­den Sie schon ein­mal als Paket ver­schickt?” “Äh … Nein.” “Dann las­sen Sie’s bes­ser. Das ist ziem­lich anstren­gend. Aber jetzt bin ich froh, dass ich es so gut getrof­fen habe.” Sie strahlt mich an und ich bin gerührt.
Das ist ein Feh­ler. Ich müss­te jetzt ener­gisch sein. Grob unhöf­lich wäre genau die rich­ti­ge Ver­hal­tens­wei­se. Aber ich schaf­fe es nicht. Statt­des­sen sage ich nur schwach: “Ich weiß wirk­lich nicht, wo ich Sie ein­set­zen könn­te.” “Oh, das krie­gen wir schnell raus. Mit Brain­stor­ming!” Sie setzt sich auf. “Dar­in bin ich sehr gut. Ich brau­che aber Cap­puc­ci­no dafür, machst du mir einen?” “Äh…” “Wir kön­nen uns doch duzen?” “Ja, das ist okay, aber ich den­ke, wir soll­ten uns bes­ser — tren­nen. Ich mei­ne, du willst doch sicher frei sein und dein eige­nes Glück ver­fol­gen.”
“Hör auf mit dem neo­li­be­ra­len Geplap­per. Ich ver­fol­ge hier gar nichts. Ich neh­me drei Stück Zucker und fünf Kek­se dazu. Ich hof­fe doch, dass du Scho­ko­la­den­kek­se hast?” “Ja.” Ich fol­ge ihr in die Küche, wo sie sich hin­setzt, die Schu­he abstreift, die Schach­tel mit dem Alt­pa­pier aus dem mitt­le­ren Fach des Ser­vier­wa­gens nimmt und statt­des­sen ihre Füße hin­ein legt. Sie sieht mir zu, wie ich die Espres­so Kan­ne vor­be­rei­te. “Weißt du was, du könn­test dich wirk­lich ein biss­chen mehr freu­en über mich. Es macht kei­nen Spaß, in dein ver­zag­tes Gesicht hin­ein zu schau­en!” Ich pro­bie­re ein Lächeln: “Ich habe ein­fach über­haupt nicht mit dir gerech­net.”
“Ja, ich weiß.” Plötz­lich haut sie mit der Faust auf den Tisch, sodass die Glä­ser dar­auf lei­se klir­ren und die Ansichts­kar­te von Elli aus den Voge­sen umfällt. Ich erstar­re. Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand in mei­ner Küche auf den Tisch haut. “Das kann doch nicht immer so wei­ter­ge­hen im Leben! Dass ich nie irgend­wo erwünscht bin!” “Das tut mir leid”, sage ich, aber am liebs­ten hät­te ich, dass sie jetzt geht. “Mei­ne Mut­ter hat auch schon nicht mit mir gerech­net.” Wir sehen uns einen Moment lang an, ich den­ke, dass sie gleich wei­nen wird, aber sie tut es nicht.
“Nach dem Kaf­fee gehe ich”, sagt sie und ich wider­spre­che nicht, obwohl ich mich schlecht dabei füh­le. Das muss ich jetzt aus­hal­ten, den­ke ich, eine Vier­tel­stun­de lang, dann ist sie weg und ich kann wie­der ein sozia­ler Mensch wer­den.
Ich stel­le ihr den Cap­puc­ci­no hin, sie rührt ziem­lich laut um und schlürft und wenn sie vom Keks abbeißt, brö­selt es stark, was sie nicht beach­tet. Ich neh­me mir auch einen Keks, bin dann aber so ner­vös, dass er abbricht, die Hälf­te ver­sinkt im Cap­puc­ci­no-Rest von vor­hin. “Schei­ße”, ent­fährt es mir. Es war der letz­te Keks, ich zer­knül­le die lee­re Packung.
Wir schwei­gen. Das hal­te ich nicht lan­ge aus. “Es wür­de mich schon inter­es­sie­ren”, begin­ne ich, “wer hat dich denn in die­ses Paket gesteckt?” “Abdul­lah.” “Abdul­lah?” “Abdul­lah.” “Und war­um?” “Tja”, sie seufzt. “Das ist eine Geschich­te! Wenn ich dir das erzäh­le, wirst du’s nicht glau­ben.” “Das wer­den wir ja sehen”, sage ich. “Ich muss jetzt lei­der gehen.” Sie hebt bedau­ernd die Schul­tern. “Mein Cap­puc­ci­no ist alle.” “Möch­test du noch einen?”, fra­ge ich, viel zu eif­rig. “Nein, jetzt müss­te ich schla­fen. Aber das geht hier ja nicht.” Sie erhebt sich.
“Bleib doch noch ein biss­chen.” Sofort setzt sie sich wie­der hin. “Okay. Aber wenn ich jetzt hier mit dir mei­ne Zeit ver­tröd­le, kann ich mir kei­ne Unter­kunft für die Nacht mehr suchen.” “Das ist Erpres­sung!”, pro­tes­tie­re ich. “Ich wür­de sagen, das ist Kal­kül.” Sie grinst mich breit an. Ich weiß jetzt schon, dass mei­ne Freund*innen mich fra­gen wer­den, wie ich denn schon wie­der in so eine Geschich­te hin­ein gera­ten bin. Und ich wer­de ihnen kei­ne zufrie­den­stel­len­de Ant­wort geben kön­nen.
“Na gut”, sage ich, “eine Nacht. Und jetzt will ich die Geschich­te erfah­ren. Wer ist Abdul­lah?” “Mein Mann.” “Und der hat dich …?” Sie nickt. “Er ist sehr kräf­tig. Und er arbei­tet bei DHL.” “Gru­se­lig! Aber war­um denn?” “Aus Dank­bar­keit.” “Aus Dank­bar­keit?” “Ja, Abdul­lah ist mir so dank­bar dafür, dass ich ihn gehei­ra­tet und dadurch sei­nen Auf­ent­halt gesi­chert habe, dass er mir auch hel­fen woll­te, als ich obdach­los wur­de. Da er mit sei­nen drei Kin­dern zusam­men wohnt, und Kin­der nicht so mei­ne Sache sind, haben wir uns was ande­res aus­ge­dacht.”
“Das ist ja …!”, rufe ich aus. “Geni­al, ne? Ich hab gedacht: wenn ich erst mal drin bin in dei­ner Woh­nung, dann wird es schwie­rig, mich da raus zu krie­gen.” “Was? War­um aus­ge­rech­net mei­ne Woh­nung? Woher hat­test du mei­ne Adres­se?” “Na ja, du hast die­sen wun­der­ba­ren Blog und in dei­nen Geschich­ten pas­sie­ren immer so selt­sa­me Sachen, also hab ich gedacht, da pas­se ich ganz gut dazu.”
“Und weißt du was?”, fährt sie fort. “Ich hab noch mehr Ein­fäl­le. Ich kann aber nicht schrei­ben. Das musst du dann machen. Und ich bin dei­ne Assis­ten­tin.” Sie lächelt. Mir ist schwin­de­lig. “Moment mal”, sage ich, öff­ne die Bal­kon­tür, gehe hin­aus und hole tief Luft. Und da steht die Hain­bu­che, früh­lings­haft grün. Ihre Zwei­ge schwan­ken im Wind, und es mir so vor, als wür­de sie kichern.