Kuh

Gras mit Ähren wächst in einem Kasten, von dem braun und weiß die blaue Farbe abblättert

Für Fran­zis
Ich den­ke jetzt öfter an eine Kuh. Ich stel­le mir vor, dass sie abends neben mir liegt, wenn ich auf dem Sofa sit­ze. Und allei­ne dadurch, dass sie da ist, und wie­der­käut, strahlt sie Zufrie­den­heit und Zuver­sicht aus und gibt mir eine gewis­se Erdung. Ihr ist es egal, was ande­re von ihr den­ken oder von ihr wol­len. Sie liegt gemüt­lich neben mir und prak­ti­ziert Weis­heit durch ein­fa­ches Dasein.
Wenn ich mei­nen Freund*innen von mei­ner Kuh erzäh­le, bemer­ke ich bei vie­len ein Stirn­run­zeln und Irri­tiert­sein. Aber schließ­lich gewöh­nen sich alle dar­an. Die Kuh bekommt einen Platz bei mei­nen ande­ren Son­der­bar­kei­ten. “Wenn dir das hilft”, sagt Fio­na, “war­um nicht. Aber selt­sam ist es schon.“
Ich blei­be bei mei­ner Kuh. Das ist auch nicht selt­sa­mer als eine Zwei­er­be­zie­hung. Es ist viel­leicht sogar ent­span­nen­der, ab und zu Zeit mit einer Kuh zu ver­brin­gen. Wir leben bei­de unser eige­nes Leben, aber abends mögen wir es manch­mal, zusam­men zu sit­zen und Frie­den zu kom­po­nie­ren. Ich erzäh­le ihr, was ich erlebt habe und wor­an ich schrei­be, und nach einer Wei­le beginnt sie zu spre­chen.
Sie macht so klei­ne Kom­men­ta­re, die nicht unbe­dingt zu dem pas­sen, was ich erzählt habe, oder viel­leicht doch. “Bei­des ist etwas”, sagt sie zum Bei­spiel, oder: “Ich rate dir Rosen.” Oder: “Beim Begin­nen erfährst du mehr.” Als mich ein­mal etwas ärgert, meint sie: “Das ist Son­ne!” Und als ich ihr von mei­ner Steu­er­erklä­rung erzäh­le: “Lass es blau.” Die­se Bemer­kun­gen schei­nen nicht so hilf­reich zu sein, aber mich beru­hi­gen sie irgend­wie, und ich kom­me mit mei­nem All­tag bes­ser zurecht, wenn ich mit mei­ner Kuh dar­über spre­che.
Eines Tages geht der Kühl­schrank kaputt. Ich stel­le mei­ne Lebens­mit­tel in den Flur, weil es dort noch am kühls­ten ist, aber sie wer­den schnell warm und weich, in die­sen hei­ßen Som­mer­ta­gen, sie schmel­zen, trop­fen und stin­ken. Scha­ren von flie­gen­den und krab­beln­den Insek­ten zie­hen in mei­ne Woh­nung ein und ich füh­le mich unwohl dar­in. Es dau­ert eine Wei­le, bis ich einen gebrauch­ten Kühl­schrank orga­ni­siert habe. Erst danach bemer­ke ich, dass mei­ne Kuh ver­schwun­den ist.

Sie kommt ein­fach nicht mehr, egal wie sehr ich ver­su­che, sie mir vor­zu­stel­len. Es bedrückt mich. Mei­ne Aben­de sind jetzt oft ein­sam. Wenn ich Freund*innen von der ver­schwun­de­nen Kuh erzäh­le, muss ich manch­mal wei­nen. Anfangs bekom­me ver­ständ­nis­vol­le Reak­tio­nen, aber mit der Zeit mischt sich Unge­duld in die Gesprä­che. “Willst du dir nicht mal eine rich­ti­ge The­ra­peu­tin suchen?”, fragt mich eine Freun­din. Und eine ande­re sagt: “Die Kuh, das bist doch nur du!“
Das stimmt nicht. Ich habe sie zwar erschaf­fen, die­se Kuh, aber sie ist mehr als ich, sie ist eine Ver­bin­dung mit dem Kuh­sein, das wie­der­um mit Wie­se und Him­mel ver­bun­den ist. Und sie ist stand­fes­ter als ich. Ohne sie wack­le ich .
Ich rufe nach ihr: “Kuh, Kuh, komm zurück zu mir!” Ich über­le­ge, ob ich viel­leicht etwas getan habe, das sie ver­scheucht hat. Ich recher­chie­re im Inter­net, ob es so etwas wie ein Semi­nar gibt: “Die inne­re Kuh wie­der­fin­den”. Dabei ent­de­cke ich die Platt­form “Haus­tier ver­lo­ren?” und gebe dort eine Anzei­ge auf: “Ich ver­mis­se mei­ne Kuh, sie hört auf den Namen Know-how”. Ich bekom­me sehr vie­le Mails mit Hin­wei­sen und Kuh­ge­schich­ten und Fotos von Kühen, aber mei­ne Kuh ist nicht dabei.
Ich bereue es, die Anzei­ge auf­ge­ge­ben zu haben, weil ich jetzt so vie­le Mails beant­wor­ten muss. Ich muss zwar nicht, aber ich tue es, weil ich es nett fin­de, dass die Leu­te sich die Mühe gemacht haben, mir zu schrei­ben. Statt abends mit mei­ner Kuh zu sit­zen, sit­ze ich jetzt am Com­pu­ter und schrei­be immer die glei­chen Sät­ze, in weni­gen Vari­an­ten: “Vie­len Dank für die Mühe und das schö­ne Foto, aber es ist nicht mei­ne Kuh, sie ist ganz beson­ders anders.“
Man­che Leu­te bedan­ken sich für die Dan­kes­mail, und meis­tens las­se ich es dabei bewen­den, aber einer gewis­sen Vero­ni­ka Ver­ni­kov, die als Betreff “Cow Know­how” ange­ge­ben hat, schrei­be ich noch ein­mal: “Ich fand dei­ne Mail so tröst­lich”, und sie ant­wor­tet: “Ich habe ja oft mit Leu­ten zu tun, die etwas ver­lo­ren haben.” Ich fra­ge nach, ob sie beim Fund­amt arbei­tet, und es stellt sich her­aus, dass sie einen Wasch­sa­lon hat. “Genau das rich­ti­ge, nach mei­nem Phi­lo­so­phie­stu­di­um”, schreibt sie.
Nach und nach ent­wi­ckelt sich ein reger Brief­ver­kehr mit Vero­ni­ka. Ich schrei­be ihr jetzt jeden Abend, was ich so erlebt habe und wor­an ich schrei­be. Sie gibt kei­ne Rat­schlä­ge, wenn ich ihr von Pro­ble­men erzäh­le, son­dern ant­wor­tet immer mit einem Erleb­nis aus dem Wasch­sa­lon, manch­mal auch nur mit einem Klei­dungs­stück: “Rin­gel­pul­li” oder “Boxer­shorts!” Ich schät­ze mich sehr glück­lich, so eine paten­te Frau ken­nen­ge­lernt zu haben.
“Wer ist denn die­se Vero­ni­ka Ver­ni­kov?”, will Elli wis­sen. Und Fio­na drängt mich, sie doch mal zu tref­fen oder wenigs­tens mit ihr zu tele­fo­nie­ren. Ich zöge­re. Das Schrei­ben klappt gut. Es ist zu mei­ner abend­li­chen Kuh gewor­den. Ich weiß nicht, ob ein ande­rer Kon­takt auch funk­tio­niert. Ich war­te ab, ob sie viel­leicht ein Tref­fen vor­schlägt.
Statt­des­sen pas­siert etwas ande­res. Eines Abends bekom­me ich eine Mail von Vero­ni­ka, in der sie mir schreibt, dass sie am nächs­ten Tag ins Kran­ken­haus muss und des­halb nicht mehr schrei­ben kön­ne. Sie ver­ab­schie­det sich aus­führ­lich und ich fan­ge an zu wei­nen. Unter Trä­nen bit­te ich sie, mir zu sagen, was mit ihr gemacht wird. Eine Ope­ra­ti­on. Lun­gen­krebs, im fort­ge­schrit­te­nen Sta­di­um. Erst jetzt schrei­be ich: “Darf ich dich besu­chen kom­men?” Sie ant­wor­tet nicht mehr.
Ich war­te tage- und wochen­lang, es kommt kei­ne Mail. Kei­ne Vero­ni­ka mehr. Ich recher­chie­re im Inter­net nach ihr und ihrem Wasch­sa­lon, fin­de aber nichts. Ich schrei­be ihr noch mehr­mals, immer vol­ler Hoff­nung, dass sie doch ein­mal ant­wor­tet, oder dass wenigs­tens jemand anders ihre Mails liest und mir schreibt, dass sie gestor­ben ist. Nichts. Wie die Kuh, so ver­schwin­det auch Vero­ni­ka und ich selbst ver­schwin­de auch. In mir zer­fällt alles zu einer gro­ßen Unord­nung, und dar­in gehe ich ver­lo­ren. Ein ein­zi­ger Tag wird ein rie­si­ger Zeit­raum, den aus­zu­fül­len mir die Kraft fehlt. Ich kann mich nur von ihm ver­schlu­cken las­sen. Dann ist nichts mehr da.
“Was ist mit dir los?”, fra­gen mei­ne Freund*innen, wenn sie anru­fen. Ich weh­re Besu­che ab, aber dann kom­men sie trotz­dem. Sie machen sich Sor­gen. Sie machen mir Vor­schlä­ge, spre­chen von The­ra­pie oder Medi­ka­men­ten. Alles ist weit weg von mir. Ich weiß nicht, wie ich in die­sen Zustand gera­ten bin.
Es fing an mit einer Kuh, die eine ange­neh­me Erwei­te­rung mei­nes All­tags war und mir vor­her gar nicht gefehlt hat­te. Dann die­ser schö­ne Kon­takt mit Vero­ni­ka … war das lebens­wich­tig für mich? Es gibt Wege, die füh­ren ins Unan­ge­neh­me hin­ein. Das zu erken­nen, hilft aber nicht. Alles sträubt sich, wei­ter zu gehen, aber es gibt kein Zurück. Und vor­wärts wird es immer schlim­mer. Jedes Hof­fen wird ent­täuscht. Alles, was vor­her gehol­fen hat, ist jetzt sinn­los.
Es geht nicht wei­ter. Es geht irgend­wie wei­ter, aber nie mehr so wie vor­her. Nach­den­ken führt zu Schuld­be­wusst­sein. Hät­te ich doch. Wenn ich nur. Hät­te ich die Kuh nie erfun­den. Mir sofort einen neu­en Kühl­schrank gekauft. Recht­zei­tig eine The­ra­peu­tin gesucht. Die Anzei­ge nicht auf­ge­ge­ben. Vero­ni­ka besucht. Auf mei­ne Freun­din­nen gehört.
Sie kom­men und geben mir Anwei­sun­gen. Ich gehe zu einer Ärz­tin, las­se mich krank schrei­ben. Gehe zu einer ande­ren Ärz­tin, bekom­me Tablet­ten, neh­me sie als Ersatz für Lebens­kraft. Die Tablet­ten fül­len den Hohl­raum zwi­schen mir und der Welt mit lau­war­mer Wat­te.
Ich ver­su­che, alle Rat­schlä­ge zu befol­gen. Die ande­ren müs­sen es bes­ser wis­sen als ich, denn ihnen geht es gut, sie sind weit von mei­nem Elend ent­fernt. War­um habe ich die Kuh erfun­den. War­um habe ich mich nie mit Vero­ni­ka Ver­ni­kov getrof­fen. War­um hat mich ihr Tod so mit­ge­nom­men. Ist sie über­haupt gestor­ben. Viel­leicht woll­te sie mir nur nicht mehr schrei­ben.
War­um geht es mir so schlecht damit. Ande­re ver­lie­ren ihre Liebs­te und fin­den trotz­dem zu ihrer Lebens­freu­de zurück. Alle wis­sen, wie sie das Leben meis­tern kön­nen, nur ich nicht. Alle haben mal eine schlech­te Pha­se, machen eine schlim­me Zeit durch und kom­men dann wie­der raus. Nur ich bleib drin.
Wochen gehen ins Land, Mona­te. In die­ses Land, in dem ich gefan­gen bin. Gefes­selt von unbe­kann­ten Kräf­ten, die außer mir nie­mand erken­nen kann. Alle sind besorgt um mich. Ich habe mich in eine rie­si­ge Last ver­wan­delt, die nie­mand tra­gen kann. Ich mache alles, was mir hel­fen soll, den ande­ren zulie­be. Medi­da­ti­on, Jog­gen, Yoga, Chi Gong. Ich sage nie­man­dem, dass mir das alles am Arsch vor­bei geht.
Eines Mor­gens scheint die Son­ne. Sie scheint schon seit ein paar Tagen, aber auf ein­mal gibt es auch ein paar Strah­len für mich. Ich kann Wär­me spü­ren. Ich mache mir Grieß­brei, mit geschmol­ze­ner But­ter und viel Zimt und Zucker. Ich wei­ne.
Ich lese alle Mails von Vero­ni­ka noch mal. Ich bin so trau­rig. Manch­mal muss ich auch lachen, über ihre Geschich­ten. Dann ent­de­cke ich, dass ihre letz­te Mail einen Anhang hat, den ich nicht bemerkt habe. Ich öff­ne ihn. Sie hat eine Kuh gemalt. Es ist Know­how. Wirk­lich. So hab ich sie mir immer vor­ge­stellt. Ich dru­cke die Zeich­nung aus und hän­ge sie auf. Ich wei­ne lan­ge.
Ein paar Tage kom­me ich kaum aus dem Bett raus. Ich habe kei­ne Kraft mehr. Dann lese ich noch­mal die Mails von Vero­ni­ka. Und alle ande­ren Mails, die ich auf mei­ne Kuh-Anzei­ge bekom­men habe. Eine fällt mir auf. Lise­lot­te Dit­sch. Sie schreibt: “Ich habe auch ein Herz für Kühe.” Ich schi­cke ihr eine Mail: “Weißt du noch, mei­ne Kuh-Anzei­ge letz­tes Jahr? Mei­ne Kuh habe ich nicht gefun­den. Aber dei­ne Mail fin­de ich nett. Wol­len wir uns mal tref­fen?“
Lise­lot­te Dit­sch wohnt mit ihrem Mann in einem klei­nen Haus in Brie­se. Ich füh­le mich fremd auf dem braun­ge­mus­ter­ten Sofa, mit den gehä­kel­ten Deck­chen über­all und bin froh, als mir der Hund die war­me Schnau­ze auf den Ober­schen­kel legt. Der selbst geba­cke­ne Apfel­ku­chen schmeckt köst­lich. Lise­lot­te malt Aqua­rel­le und zeigt mir ein paar. Auf einem ist eine Kuh­her­de. Ich schlu­cke. “Das schen­ke ich dir”, sagt sie, und mir kom­men die Trä­nen.
Einen Nach­mit­tag lang sit­ze ich in einem Wasch­sa­lon. Ich star­re auf die Maschi­nen, in denen sich die Wäsche dreht. Um was dreht es sich? Was will ich? Wie leben? War­um? Wohin? Ich über­le­ge mir, Kla­mot­ten aus unbe­auf­sich­tig­ten Maschi­nen zu klau­en. Mit einem neu­en Out­fit wäre es viel­leicht leich­ter, ein neu­es Leben zu begin­nen. Schließ­lich gehe ich, ohne etwas mit­zu­neh­men.
Lang­sam kom­me ich zurück in ein Leben mit Grund. Trotz­dem sind vie­le Tage müh­sam.
Eines Mor­gens rei­ße ich alle Fens­ter auf, bewe­ge mich, tan­ze. Es zuckt mir in den Fin­gern. Schrei­ben, das ist es doch. Wie­so hab ich das so lan­ge nicht gemacht? Ich schrei­be eine Stun­de lang. Nichts beson­de­res, aber es tut so gut, wie­der mit den Wör­tern zu sein. Ich rad­le los, pflü­cke einen rie­si­gen Strauß Blu­men und ste­cke allen Freund*innen wel­che in den Brief­kas­ten. Lise­lot­te schi­cke ich eine per Post. Und eine ste­cke ich in eine Vase, für mich. Eine Mar­ge­ri­te, mit einer gel­ben Son­ne in der Mit­te und vie­len wei­ßen Strah­len, die in alle Rich­tun­gen zei­gen.
Fio­na ruft mich an, bedankt sich für die Blu­men. “Schön, dass es dir wie­der bes­ser geht”, sagt sie. Ich erzäh­le ihr, wie ich mir im Wasch­sa­lon eine neue Exis­tenz klau­en woll­te. Sie lacht. Nach­dem wir eine Wei­le geplau­dert haben, fragt sie: “Was ist mit dei­ner Kuh? Willst du sie noch ein­mal ein­la­den?” Ich über­le­ge eine Wei­le. Dann sage ich: “Da muss ich noch­mal drauf rum kauen.”