Abends gehe ich manchmal auf dem kleinen Hügel spazieren und wenn es einen Sonnenuntergang gibt, schau ich ihn mir an. Es gibt natürlich jeden Abend einen Sonnenuntergang, aber meistens sieht man nichts oder wenig davon. Ab und zu aber, wie heute, ist es ein Spektakel in den schönsten Rottönen. Ich bleibe stehen und genieße den Anblick. Hinter mir sagt eine Stimme: “Schon wieder eine Kuh.” Ich drehe mich um, da steht eine Frau in einer gelben Jacke. “Was für eine Kuh?” “Das wüsstest du gerne!” “Ja.” Die Frau kommt näher, steht dicht vor mir: “Ich bin die Luise.” “Angenehm”, sage ich, und gehe dabei einen Schritt zurück, weil mir in Wirklichkeit etwas unbehaglich ist. Luise quittiert es mit einem spöttischen Grinsen.
“Die Kühe von Gott”, erklärt sie, “wohnen in den Wolken. Manchmal nimmt er ein Messer, sticht eine ab und isst sie auf.” “Äh — ich glaube nicht, dass das so ist.” “Und warum ist der Himmel rot?” Ihre Augen haften an mir. “Das ist etwas Physikalisches … eine Lichtbrechung.” “Es ist Blut. Gottes Abendmahl.” Sie schaut in den Himmel und ich guck auch hin, und was eben noch schön aussah, wirkt auf einmal unheimlich. Zum Glück vertieft Luise das Thema nicht. “Ich mag Kuchen und Kopfkissen. Und du?” “Ich auch.” “Das gilt nicht! Du musst schon was eigenes nehmen.” “Ich mag Bücher.” “Bücher? Du glaubst wohl, du bist intelligent!” “Ja, eigentlich schon.” “Pass auf, ich mach einen Test mit dir. Habense mit mir auch gemacht. Damit haben sie mir den Beweis gegeben, dass ich dumm bin.” “Gemein”, sage ich.
Sie schaut mich überrascht an. “Bist die erste, die sowas sagt. Alle sagen immer, ich muss das axeptieren.” Sie macht eine abweisende Handbewegung. “Jetzt gibt’s den Test. Erste Sache: Ein Blumenkohl und ein Frisör. Wo ist der Witz?” Ich muss lachen. “Nicht schlecht”, meint sie. “Drei Punkte. Nächste Sache: Zu jedem Kaufhaus gehört?” “Äh … naja, Dinge, die man da kaufen kann, Verkäufer*innen … eine Rolltreppe?” “Null Punkte. Zu jedem Kaufhaus gehört ein Dieb. Nächste Sache: Was ist Elektrik?”
“Oh, das ist … da gibt es viel zu erklären …” “Du darfst nur kurz.” “Ja dann — das kann ich nicht.” “Null Punkte”, sagt sie mit Genuss. “Elektrik ist ein schneller Trick mit Drücken. Letzte Sache: Was machst du, wenn der Robert dir den Busen anfasst?” “Ihn weg schubsen, schreien, ihn bei der Polizei anzeigen.”
“Ein Punkt fürs Wegschubsen. Schreien macht nur heiser. Polizei ha! Kannste gleich zu den Rosinen gehen. Auf den Kopf hauen musst du ihm, richtig feste, aber ohne Blut. In die Eier treten. Und später, wenn er am Tisch sitzt, hinter ihm vorbei gehen und heißen Kaffee in den Nacken schütten. Aber mit stolpern dabei! Weil er schreit und die Betreuern schauen und ich tu wie wenns ein Unfall wär und sag Entschuldigung. Und wenns Betreuern weg sind, grins ich ihn an und sag: Hoppla!”
“Du hast gute Ideen”, sag ich anerkennend. “Muss ich. Sonst hilft niemand. Den Kaffee gut zuckern, dann klebt ihm hinterher alles.” “Und wenn du den Betreuer*innen erzählst, was Robert macht?” “Dann wollen die reden! Sie machen Anhörung mit Robert, ich will aber Aufhörung.” Sie schüttelt den Kopf. “Da hilft nur selber schlagen. Haste ne Zigarette?” “Ich rauche nicht.” “Na, mach dir nichts draus.” “Aber Schokolade hab ich.” Ich hole einen Riegel aus der Jackentasche. Luise nimmt ihn und steckt ihn ein. “Sehr intelligent bist du nicht, aber sonst ganz okay.“
Eine etwas zweifelhafte Anerkennung. Ich freue mich trotzdem darüber. Und sage schnell: “Aber jetzt muss ich nach Hause.” “Okay. Ich gehe mit. Raucht in deinem Haus jemand?” “Nein.” Sie macht “Pffft”. “Zu gesund ist auch krank. Aber Kaffee wirste wohl haben.” “Ja.” Ich sollte sie vielleicht besser abwehren. Aber ich bin auch neugierig. Kommt sie halt mit. Sie wird schon wieder gehen, beruhige ich mich.
“Und du wohnst … mit Betreuer*innen?”, frage ich, als wir den Hügel hinunter gehen. “Ich wohn im Heim für gepflegte Trottel. Dabei kann ich fast alles. Nur sowas wie lesen und schreiben nicht. Oder viele Zahlen, nicht rauchen und immer Frieden kann ich auch nicht. Aber Teppich zerschneiden wie ein Schlachter.” “Teppich zerschneiden?” “Ja”, sagt sie stolz. “Betreuern mögen es nicht. Marie schon, Marie hat gelacht! Der Teppich war von ihrer Mutter. Marie hat schon mal drauf gekotzt, hilft aber nicht, die Mutter macht Reinigung. Marie wollte den Teppich aufessen. Aber das ist wirklich schwer.“
Luise bleibt stehen, hebt eine nur halb gerauchte Zigarette auf und steckt ein. “Und dann?”, frage ich schnell, um mein Ekelgefühl wegzudrücken. “Dann sag ich zu Marie: “Ich weiß was. Es gibt Messer.” Luise grinst. Ich muss auch grinsen. “Genau”, sagt sie. “Sowas kann ich. Mit viel Kraft. Aber jetzt sind alle sauer. Was mach ich?” “Gehst du jetzt nicht nach Hause, weil du Angst hast?” “Ich hab doch keine Angst! Aber Vorsicht. Kann ich bei dir schlafen?”
“Hm”, sage ich. “Das ist keine Lösung. Kann Marie nicht ihrer Mutter sagen, dass sie den Teppich nicht mochte?” “Marie spricht nicht.” “Ach so.” “Ich verstehe sie, ich rede jeden Tag mit ihr, und die Betreuern verstehen auch manchmal, aber die Mutter …” Luise seufzt. “Gegen eine Mutter kann man nichts machen.“
Inzwischen habe ich einen Entschluss gefasst. “Du kannst bei mir schlafen, aber du rufst im Heim an und sagst Bescheid.” Ich bleibe stehen, zücke mein Handy. “Ich kann doch keine Zahlen”, sagt sie unwirsch. “Die Telefonnummer kann ich rauskriegen. Wie heißt denn dein Heim?” “Willst du hier Spion machen oder was?” Sie rückt von mir ab und sieht mich böse an. Ich lasse nicht locker. “Wenn du bei mir schlafen möchtest …” “Wer sagt, dass ich bei dir schlafen will? Geh, hau schon ab, glaubst du, ich brauch dich, mit deinen zwei Punkten im Intelligenztest?“
Ich gehe zwei Schritte zurück. Kleinlaut stecke ich mein Handy wieder ein und bemühe mich, mir meine Kränkung nicht anmerken zu lassen. Ich überlege, wie ich wieder netten Kontakt kriege, ohne mich zu verbiegen. “Was glotzt du mich an wie Pfannkuchen?” schreit Luise so laut, dass ein Pärchen beim Spaziergang auf uns aufmerksam wird. “Du bist schachmatt, kapiert?” Schachmatt trifft es ziemlich gut. Aber ich habe auch meine Fähigkeiten.
“Rück die Schokolade raus, du schleimige Diebin”, schreie ich. Das Pärchen starrt. Luise ist einen Augenblick lang erschrocken, dann fängt sie sich. “Kriegste nicht, die Schoki hab ich schon angespuckt! Ist jetzt vergiftet mit meinem Karies!” “Kröte! Verpiss dich in das Kaufhaus, wo du hingehörst!” Wir fixieren uns mit den Augen, ein Spannungsbogen vibriert zwischen uns. Dann fangen wir beide gleichzeitig zu lachen an.
“Fünf Punkte”, sagt Luise anerkennend. Dann winkt sie. “Tschüss”, ruft sie im Gehen, “und das nächste mal lieber Milchschokolade!” Etwas durchgerüttelt schau ihr hinterher, bis sie am Ende der Straße abbiegt. Mag ich sie oder will ich sie lieber nicht wiedersehen? Nicht so leicht zu sagen. Es war auf jeden Fall spannend mit ihr. Und lustig. Ich werd wohl einen Riegel mit Milchschokolade kaufen.