Brille

psychedelisches lila WesenIn der Stra­ßen­bahn springt mir ein zot­te­li­ges Tier auf den Schoß, stemmt sei­ne Vor­der­bei­ne gegen mei­ne Schul­tern und leckt mir das Gesicht, außer sich vor Freu­de über unser Wie­der­se­hen, als hät­te uns ein Unglück vor Jah­ren getrennt — eine Erd­spal­te viel­leicht, die sich zwi­schen uns auf­ge­tan hat, und die die Stra­ßen­bahn kraft ihrer Schie­nen über­wun­den hat.
Aber ich ken­ne das Tier nicht. Es scheint ein Hund zu sein, weil es ein Hals­band hat, das ich in mei­ner Abwehr­re­ak­ti­on zu fas­sen bekom­me. Ich zie­he dar­an, um die­se schlab­be­ri­ge Zun­ge von mei­nem Gesicht abzu­hal­ten. Es gelingt mir nicht. Schließ­lich tau­che ich unter dem Tier hin­durch, sodass ich auf dem Boden zu lie­gen kom­me, wäh­rend der Hund auf mei­nem Sitz thront und mich freu­dig anbellt.
“Er mag sie!”, ruft eine Stim­me ent­zückt und eine Frau mit fuchs­far­be­nem Haar und einem Fahr­schein in der Hand eilt auf das Tier zu und bedeckt es mit Küs­sen. “Pomo­do­ro, was hast du gemacht? Jetzt muss die Frau auf dem Boden sit­zen!” Pomo­do­ro wedelt mit dem Schwanz. Er zeigt kei­ne Tat­ein­sicht, war­um auch, er fin­det es wahr­schein­lich nicht schlimm, dass zur Abwechs­lung mal jemand anders auf dem Boden sit­zen muss.
“Er ist aus dem Tier­heim”, erklärt mir die Frau, “des­halb darf man ihn nicht zu sehr tadeln. Sonst ver­kriecht er sich.” Das wür­de mir in die­sem Moment nichts aus­ma­chen, den­ke ich, wäh­rend ich die Hand ergrei­fe, die die Frau mir reicht, um mir beim Auf­ste­hen behilf­lich zu sein. “Sind Sie okay?”, fragt sie, als wir auf Augen­hö­he mit­ein­an­der spre­chen kön­nen. Ich nicke und sie gibt mir ein Taschen­tuch, mit dem ich mir den Schleim vom Gesicht wischen kann.
“Pomo­do­ro ist eigent­lich sehr zurück­hal­tend”, erzählt sie wei­ter. “Dass er Sie so begrüßt hat, bedeu­tet, dass Sie ein ganz beson­de­rer Mensch sind.” Sie sieht mich so bewun­dernd an, dass ich ihr noch nicht ein­mal böse sein kann. “Kom­men Sie uns doch besu­chen!” “Äh … ich muss zum Job­cen­ter.” “Wir kön­nen Sie beglei­ten!” Bevor ich dazu kom­me, die­ses Ange­bot ele­gant abzu­leh­nen, fasst mir die Frau ins Haar. “Was haben Sie denn da?” Sie zieht mei­ne Lese­bril­le aus mei­nen Haa­ren, wo ich sie wahr­schein­lich beim Ansturm von Pomo­do­ro reflex­ar­tig hin­ge­scho­ben habe, um sie zu schüt­zen.
Das hat nicht funk­tio­niert. Ein Bügel fehlt, der ande­re ist stark nach außen abge­spreizt. “Jetzt ist sie kaputt”, sage ich. Ich bemü­he mich um einen neu­tra­len Ton­fall, klin­ge aber jäm­mer­lich. “Das macht doch nichts.” Die Frau legt mir trös­tend die Hand auf den Arm. “Neh­men Sie mei­ne.” Aus ihrer Brust­ta­sche zieht sie eine Bril­le mit Gold­rah­men und wie eine Opti­ke­rin setzt sie sie mir auf und betrach­tet mich prü­fend: “Passt.”

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