Supermarkt

Schaltkasten mit Glasröhren-Uhr, alle vier Röhren zeigen eine digitale Null

Ich habe mich noch nicht an Super­märk­te gewöh­nen kön­nen. Es gibt sie nun schon eine gan­ze Wei­le und nichts spricht dafür, dass sie dem­nächst abge­schafft wer­den, des­halb wäre es prak­tisch, ab und zu dort ein­kau­fen zu kön­nen. Aber Super­märk­te sau­gen mich aus und rei­chern mich an mit einer gewal­ti­gen Ver­wir­rung, die Viel­falt genannt wird.
In der Nähe mei­ner Woh­nung hat jetzt ein neu­er Super­markt auf­ge­macht. Ich kann beob­ach­ten, wie die Leu­te dort ein­kau­fen gehen und unbe­hel­ligt wie­der her­aus kom­men. Sogar klei­ne Kin­der kön­nen es.
Aber wenn ich hin­ge­he, ist der Super­markt stär­ker als ich. Er erdrückt mich. Ich weiß genau, war­um man eine Mün­ze oder einen Chip her­ge­ben muss, um einen Ein­kaufs­wa­gen zu bekom­men. Es geht nur vor­der­grün­dig um die Rück­ga­be. Das Wesent­li­che dabei ist, dass man etwas aus der eige­nen Tasche in die­sen Draht­kä­fig auf Rädern steckt, als Ein­wil­li­gung, ab sofort Gefan­ge­ne des Super­mark­tes zu sein. Aller­dings geht es mir mit einem Ein­kaufs­korb auch nicht bes­ser.
Mit dem Wagen habe ich wenigs­tens etwas zum Auf­stüt­zen, wenn mich die­se Schwä­che befällt, beim Gang durch lan­gen Rei­hen vol­ler Pro­duk­te: Far­ben und For­men, die mei­ne Erin­ne­rung an Geschmacks­er­leb­nis­se benut­zen, um mich in die Irre zu füh­ren. Alle die­se Ver­pa­ckun­gen und Aus­la­gen sind Angrif­fe. Schau mich an, lies mich, nimm mich, kauf mich! Im Super­markt soll ich jemand anders sein, eine Kon­su­men­tin, deren Leben dar­in besteht, etwas aus dem Regal zu neh­men und haben zu wol­len. Ich hal­te mich krampf­haft am Ein­kaufs­zet­tel fest, auf den ich immer die glei­chen drei Wör­ter schrei­be: mei­nen Namen. Der Beweis, dass ich exis­tie­re.
Mei­ne größ­te Angst in einem Super­markt ist, dass er mich nicht mehr los­lässt. Wenn ich mir die Leu­te um mich her­um anse­he, befällt mich der Ver­dacht, dass dies eini­gen schon pas­siert ist. Dass sie viel­leicht schon tage- oder wochen­lang hier her­um­lau­fen, immer­zu ein­kau­fen, bezah­len, und dann den Aus­gang nicht fin­den und wei­ter ein­kau­fen. Abends, wenn die Lich­ter gelöscht wer­den, irren sie im Super­markt her­um wie Halb­to­te auf einem Fried­hof, die weder im Grab Zuflucht fin­den noch in ihr Leben zurück dür­fen.
“So geht das nicht wei­ter”, ruft Rena­te, eine Bekann­te, die mich ein­mal im Super­markt getrof­fen hat und dach­te, ich wäre krank. Danach habe ich ihr alles erzählt. Seit­her gibt sie mir Tipps. Jetzt ruft sie an, um nach­zu­fra­gen, wie ihr letz­ter Rat­schlag für den Super­markt-Ein­kauf gehol­fen hat. Ich soll­te mir einen ima­gi­nä­ren Schutz­man­tel anzie­hen. Der war aber viel zu heiß. Ich muss­te ihn schon in der Gemü­se­ab­tei­lung wie­der aus­zie­hen. Es war viel­leicht die fal­sche Metho­de für den Hoch­som­mer. “Jetzt schreibst du Affir­ma­tio­nen!”, sagt Rena­te bestimmt. “Du wirst sehen, das hilft!” “Okay. So etwas wie: “Es macht mir nichts aus, in den Super­markt zu gehen”?” “Kei­ne Ver­nei­nun­gen. Nur posi­ti­ve Sät­ze wir­ken. Und du musst sie an die Wand hän­gen, damit du sie jeden Tag siehst.” Sie schenkt mir sogar ein Buch dar­über.
In die­sem Buch wird aller­dings nur über die wohl­tu­en­de Wir­kung von Affir­ma­tio­nen geschrie­ben. Da steht nichts von den unan­ge­neh­men Gefüh­len, die ent­ste­hen, wenn eine Freun­din zu Besuch kommt und dann mit­lei­dig, besorgt oder sogar miss­trau­isch auf mei­ne Affir­ma­ti­ons­zet­tel guckt, auf denen steht: “Ich kann den Super­markt als Nah­rungs­quel­le für mich akzep­tie­ren” oder “Beim Ein­kau­fen im Super­markt füh­le ich tie­fen inne­ren Frie­den und Heiterkeit.”

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