Lattenrost

Baumwurzel mit Hundegesicht liegt im Laub mit TraubenhyazinthenAbends gehe ich ger­ne durch die Stra­ßen spa­zie­ren, und manch­mal sto­ße ich dabei auf einen Sperr­müll­hau­fen. Das Wort Sperr­müll ist geprägt von sei­nen Dop­pel­kon­so­nan­ten und macht den Ein­druck eines Auf­pralls von einem wider­spens­ti­gen Sperr auf das wei­che, etwas melan­cho­li­sche Müll, das von Abscheu bela­gert ist. Ins­ge­samt wirkt das Wort unge­heu­er­lich. Und das ist ein Sperr­müll­hau­fen auch. Etwas, das ens nicht mehr haben möch­te, tritt noch­mal groß in Erschei­nung, gehäuft und öffent­lich ausgestellt.
Ich mag Sperr­müll­hau­fen. Ich habe dort schon eini­ge Möbel­stü­cke für mei­ne Woh­nung gefun­den. Jetzt bin ich ganz gut ein­ge­rich­tet, und brau­che nichts mehr. Trotz­dem steue­re ich jeden Sperr­müll­hau­fen vol­ler Vor­freu­de an und betrach­te die Din­ge, deren Schick­sal es ist, am nächs­ten Mor­gen in der Sperr­müll­pres­se zer­quetscht zu wer­den, wenn sie nicht im Ver­lauf der Nacht doch noch geret­tet werden.
Auch heu­te Abend tref­fe ich auf einen Sperr­müll­hau­fen und begin­ne sogleich, ihn zu durch­su­chen, ver­schie­de­ne Din­ge frei zu legen, her­aus zu zer­ren und von allen Sei­ten zu betrach­ten, als ich durch den Ruf: “Auf Anhieb!” unter­bro­chen wer­de. Ich hebe den Kopf. “Sie ja, genau Sie mei­ne ich!” “Wie bit­te?” Ver­wirrt sehe ich mich um. Aus einem Fens­ter im Erd­ge­schoss lehnt sich ein Mann, ich habe ihn offen­sicht­lich verärgert.
“Hab ich Sie erwischt!”, schreit er. “Wobei? Das ist doch ein Sperr­müll­hau­fen, oder?” “Ja, aber nicht Ihrer!” “Ich will auch gar nichts davon!” Ich schie­be den Lat­ten­rost, den ich gera­de inspi­ziert hat­te, wie­der hin­ter den Schrank, aber jetzt wird er erst rich­tig wütend. Er spuckt meh­re­re Schimpf­wör­ter aus und sei­ne Stim­me über­schlägt sich, sodass ich Mühe habe, ihn zu ver­ste­hen. Ich will schon gehen, aber da schreit er noch lau­ter. “Neh­men Sie das gefäl­ligst wie­der mit!”
“Den Lat­ten­rost? Der stand hier schon.” “Ich zeig Sie an”, schreit er. “Gleich ruf ich die Poli­zei!” Jetzt erscheint eine Frau am Bal­kon vom Haus gegen­über: “Was ist denn hier los?” “Der Lat­ten­rost gehört mir nicht”, erklä­re ich. “Neh­men Sie ihn ruhig mit”, meint die Frau. “Auf dem Sperr­müll ist doch wie weg gewor­fen.” “Ich komm jetzt raus!”, droht der Mann.
Die­ses Miss­ver­ständ­nis lässt sich im Moment wohl nicht auf­klä­ren. Ich zer­re den Lat­ten­rost aus dem Hau­fen her­aus und schlei­fe ihn hin­ter mir her, beglei­tet von Rufen wie “Wird’s bald!” und “Las­sen Sie sich hier nie wie­der bli­cken!” Mein Abgang scheint ihn nicht zufrie­den zu stel­len son­dern noch mehr aufzuregen.
Ich bin froh, als ich außer Ruf­wei­te bin und ste­hen blei­ben kann, um zu ver­schnau­fen. So hat­te ich mir mei­nen Abend­spa­zier­gang nicht vor­ge­stellt. Ich set­ze mich auf einen Blu­men­kü­bel, in dem die roten Tul­pen ihre Blü­ten geschlos­sen haben, ihre Spit­zen zei­gen zum Him­mel und sehen in der Däm­me­rung wehr­haft aus. Ich den­ke dar­an, dass ich zwei Minu­ten vor dem Zwi­schen­fall einen Föhn in der Hand hat­te. Ich wür­de lie­ber mit einem Fön spa­zie­ren gehen statt mit einem Lattenrost.

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