Wasserhahn

Das Innere einer Pusteblume

Als ich nach dem Auf­ste­hen durs­tig in die Küche kom­me, habe ich ver­ges­sen, dass heu­te Vor­mit­tag das Was­ser abge­stellt ist, und öff­ne den Was­ser­hahn. Er röchelt und spuckt eine rot­brau­ne Brü­he aus, dann hus­tet er und sagt: “So ein Scheiß.”
“Wie bit­te?”, fra­ge ich nach, obwohl ich wahr­schein­lich nur mei­ne eige­nen Gedan­ken gehört habe. “Ich has­se die­ses Was­ser abstel­len!”, krächzt es jetzt. “Sind Sie der Instal­la­teur?” Wahr­schein­lich ist es eine Schall­über­tra­gung, wie sie auch an Hei­zungs­röh­ren vor­kom­men kann. “Ich bin die Arma­teu­rin!”, knurrt es. Es dau­ert einen Moment, bis ich mir einen Reim auf das Wort machen kann. “Von Arma­tur?”, fra­ge ich. “Offen­sicht­lich! Du kannst Han­nah zu mir sagen.” Han­nah? Das Gespräch ist so ver­stö­rend, dass ich schnell den Hebel nach unten drü­cke. Dann star­re ich den Hahn minu­ten­lang an. Mei­ne Vor­mie­te­rin hat nichts von einer spre­chen­den Arma­tur erzählt.
War da wirk­lich was? Du hast zu viel Fan­ta­sie, hat mei­ne Mut­ter immer zu mir gesagt. Wahr­schein­lich habe ich mir etwas ein­ge­bil­det. Ich öff­ne den Hebel wie­der. Es ruckelt und knarrt in der Lei­tung. “Du schon wie­der!”, faucht es. “Ich woll­te nicht stö­ren”, stot­te­re ich. “Zu spät! Was gibt’s?” “Naja, ich wun­de­re mich … dass ein Was­ser­hahn spre­chen kann.” “Selbst schuld!”
“Ich mei­ne, das ist ja schon eine beson­de­re Fähig­keit, für einen Was­ser­hahn. Oder kön­nen das die ande­ren Häh­ne auch?” “Kei­ne Ahnung, wie die ande­ren das machen. Ich komm nicht viel rum.” “Ach so ja, Ent­schul­di­gung.“
Neu­lich habe ich in einem Buch mit dem Titel “Mathe­ma­tik im All­tag” gele­sen, dass sta­tis­tisch gese­hen jeder Mensch ein­mal im Monat ein Wun­der erlebt. Und ich hat­te die­sen Monat noch keins. Ein spre­chen­der Was­ser­hahn also. “Sonst noch was?”, knurrt Han­nah. “Ja”, sage ich schnell, weil ich mir doch ein Gespräch mit einem Was­ser­hahn nicht ent­ge­hen las­sen kann. “Dann mach’s kurz, ich hab wenig Zeit.”
“Was hast du denn zu tun?”, fra­ge ich erstaunt. “Na, zunächst ein­mal bin ich eine Schnitt­stel­le für das Unter­net.” Unter­net. Plötz­lich sehe ich die Arma­tur als sicht­ba­ren Teil eines rie­si­gen Sys­tems, all die Lei­tun­gen im Haus, die Roh­re, die Kana­li­sa­ti­on, Was­ser­wer­ke, Reser­voirs, Quel­len, Grund­was­ser, irgend­wo tief in der Erde.
“Aber das ist nur ein Neben­job. Haupt­be­ruf­lich bin ich Instal­la­ti­ons­künst­le­rin.” “Ach. Ja?” “Du dach­test wohl, nur Men­schen kön­nen Kunst machen, was?” “Ja”, gebe ich zu. “Das kommt nur daher, weil Men­schen immer Bestä­ti­gung brau­chen. Ich weiß, dass ich glän­ze. Und ich hab ganz ohne Face­book weit­rei­chen­de Ver­bin­dun­gen, Insi­der Wis­sen und Tiefenwirkung.”

„Was­ser­hahn“ weiterlesen