Ich bin auf dem Nachhauseweg. Mein Zug hat Verspätung. Während ich auf dem Bahnsteig stehe und mir die Hände reibe, die sich trotz Handschuhen steif und kalt anfühlen, wird der außerplanmäßige Halt eines Zuges angesagt. Kurze Zeit später fährt er ein. Ein Frecciarossa, ein roter Pfeil, aus Italien. Seit wann fahren die hier lang? Amsterdam — Monaco — Roma, steht an der Flanke des Zuges. Rom! Ich werde unruhig beim Anblick dieser roten Waggons. Die Frecce fahren nur innerhalb Italiens. Irgendwas stimmt da nicht. Und dann sehe ich es: da sitze ja ich, in diesem Zug, natürlich in ein Buch vertieft.
Nein, das kann doch nicht … mit einem Sprung bin ich am Zug, klopfe ans Fenster. Ich da drin löse den Blick vom Buch, hebe den Kopf, und dann schaut sie, die ich ist, raus und unsere Blicke begegnen sich. Der Zug rollt an, ich habe nicht die Kraft, nebenher zu laufen, einen Halt zu erzwingen, wenigstens zu schreien. Erschüttert bleibe ich zurück, ich hier auf dem Bahnsteig, während mein anderes Ich unterwegs ist, nach Rom.
Denn da gibt es keine Zweifel, sie, die ich ist, wird nicht in München aussteigen, sie fährt nach Rom, sie lebt dort. So wie ich es beinahe getan hätte, vor ach so vielen Jahren. Ich habe davon gehört, dass es Paralleluniversen gibt, in denen wir, wer auch immer das dann ist, die Leben leben, die auch möglich gewesen wären. Aber ich dachte immer, dass diese Universen eben parallel zu unserem verweilen würden, ohne Schnittpunkte.
Ist heute so eine Parallelwelt auf die schiefe Bahn geraten, oder hat dieses andere Ich samt rotem Zug die Universen gewechselt? Ich löse mich aus meiner Erstarrung und strebe einen Schaffner an. Er ist von einer Traube von Menschen umringt, die er mit den Worten “Achten Sie auf die Zugdurchsagen!” zurück lässt. Ich hefte mich an seine Fersen: “Sagen Sie bitte, der Zug, der eben hier gehalten hat, wie lange braucht der nach Rom?” Er wimmelt mich ab. “Der war außerplanmäßig hier. Über den kann ich keine Auskunft geben.“
20 Stunden mindestens, denke ich. Ich könnte hinfliegen. Auf dem Bahnhof warten, bis ich aussteige. Und mich verfolgen, mir zugucken, wie ich in Rom lebe. Leben würde, wenn ich damals zu Lorenza gezogen wäre. Aber warum? Außerdem muss ich morgen arbeiten. Ich bin doch zufrieden mit meinem Leben. Und der Entscheidung, die ich damals getroffen habe.
Wer weiß, wer das da im Zug war. Sie sah mir ähnlich, mehr nicht. Paralleluniversen, falls es sie denn geben sollte, haben wahrscheinlich anderes zu tun als ausgerechnet meinen Weg zu kreuzen. Diese Ausflüchte helfen mir nicht. Ich weiß genau, dass ich im Zug war. Aber was mache ich, wenn ich in Rom feststelle, dass das dort das Leben ist, das ich leben möchte, und hier nur eine weniger geglückte Parallele? Kann ich denn in ein anderes Leben umziehen, will ich das überhaupt? Und was passiert dann mit meinem anderen Ich?
Ratlos bleibe ich auf dem Bahnsteig stehen und warte auf Hinweise, aber es kommen keine, es kommt nur mein Zug und ich steige ein. Statt zu lesen suche ich in meinem Handy nach dem Frecciarossa. Im deutschen Netz finde ich ihn nicht, ich probiere es mit der italienischen Gesellschaft, Trenitalia. Keiner der Frecce fährt nach Amsterdam.
Und keine Schaffnerin kommt, die ich fragen könnte, nur eine Person mit Servierwagen, bei der ich entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten einen Kaffee kaufe. Als ich ihr das Geld gebe, frage ich sie leise: “Würden Sie nach Rom ziehen?” Sie lacht. “Da war ich erst gestern! Ich zieh ja dauernd rum.” Und dann zieht sie ihren Wagen weiter und ich bleib sitzen mit einem Becher voll hellbraunem Wasser, der mir die Hände wärmt und den ich dann, als ich aussteige, in einen Mülleimer versenke.
Ich könnte mich für morgen krank melden, sinniere ich auf dem Nachhauseweg. Heute Abend um halb zehn geht noch ein Flug nach Rom. Was für eine Geldverschwendung und Umweltverschmutzung! Außerdem hat sich die Stadt sicher verändert, ist voller und lauter geworden, wie so viele Städte, die jetzt billig angeflogen werden können. Ich muss wahrscheinlich nur einen Tag in Rom verbringen, um zu wissen, dass ich dort nicht wohnen will. Und wenn nicht? Was ist, wenn ich tatsächlich mir begegne in Rom, und wenn ich dort auch ein gutes Leben habe?
Wieso habe ich auf einmal diese Probleme und solche Fragen? Vor einer Stunde habe ich mich nur über die Zugverspätung geärgert. Jetzt wünsche ich mir diesen kleinen Ärger zurück anstatt der großen Verunsicherung, die mich befallen hat. Und Lorenza? Wenn ich sie dort treffe, in Rom, wenn wir gar ein Paar sind? Lorenza, meine große Liebe, die aber eine andere wollte oder vielleicht nur ihre Freiheit, wer weiß.
Die Oberfläche der Untertasse
Überlegungen zu Oberflächen
1 Das Wort
Der erste Teil des Wortes lässt mich zunächst vermuten, dass eine Oberfläche immer oben ist. Aber dann fallen mir meine Fußsohlen ein, die meistens unten sind, zumindest vom Kopf aus gesehen. Und der Kopf hat die Definitionsmacht. Er sieht sich selbst gern oben, weshalb er nachts ein Kissen braucht, damit er auch im Schlaf den anderen Körperteilen überlegen ist. Der Kopfstand, der die Verhältnisse umkehrt und die Fußsohlen zu den obersten Oberflächen des Körpers macht, ist hauptsächlich bei Kindern, Artist*innen und Yogapraktizierenden üblich. Diese drei Personengruppen sind allerdings, und vielleicht aus diesem Grund, nur eingeschränkt gesellschaftlich anerkannt.
Die Oberflächen meiner Fußsohlen sind auch nicht flach. Wie kommt also der Begriff “Oberfläche” zustande? Ich komme dem Wort erst auf die Spur, als ich die verschiedenen Aggregatzustände beachte. Bei Gasen wird kaum von einer Oberfläche gesprochen. Im festen Aggregatzustand werden alle Außenflächen als Oberfläche bezeichnet. So ist sowohl die untere als auch die obere Seite der Untertasse eine Oberfläche. Ursprünglich namensgebend waren aber wahrscheinlich die Flüssigkeiten. Denn bei ihnen gilt nur die oberste Schicht, die noch dazu oft flach ist oder das Flachsein anstrebt, als Oberfläche. Die anderen Außenseiten von Flüssigkeiten, wie etwa die seitlichen Wasserflächen eines Aquariums, bleiben namenlos.
2 Verborgene Oberflächen
Die Oberfläche eines Festkörpers wird also durch alle seine Außenflächen gebildet. Wobei sich außen und innen nicht immer so leicht voneinander unterscheiden lassen, wie uns das vielleicht lieb wäre. Zum Beispiel der Darm. Dem Empfinden nach ist er etwas zutiefst Inneres und Intimes, dabei ist der sogenannte Verdauungstrakt, von der Mundhöhle bis zum After, ein Schlauch, durch den Fremdkörper, fremde Körper, die wir Nahrungsmittel nennen, durch uns hindurch befördert werden. Nur das Brauchbare, Verwertbare, wird aufgenommen und einverleibt, alles andere wird abgeführt bzw. ausgeschieden. Ausscheidung ist genau genommen nicht das richtige Wort, da diese Stoffe nie in uns drin waren, sondern immer an der Außenfläche geblieben sind. Das Irritierende ist, dass die Außenwelt, von der wir uns doch deutlich zu unterscheiden glauben, mitten durch uns hindurch führt.
Und die Außenflächen im Inneren des menschlichen Körpers sind riesig. Die Oberfläche des Darms ist mit Zotten bedeckt , die von Zotten bedeckt sind, auf denen Zotten wachsen usw. Würde man den Darm glatt ziehen wie etwa ein zerknittertes Spannbettlaken, so könnte eine 32 Quadratmeter große Matratze damit bezogen werden. Verglichen mit der Haut, die nur ca. 1,7 Quadratmeter aufweist, ist das wahre innere Größe. Insgesamt sind die verborgenen Oberflächen beim Menschen ca. 20 mal größer als die sichtbaren. Eine Zahl, die allerdings sowohl beim Ameisenhaufen als auch bei Hornkieselschwämmen um ein Vielfaches übertroffen wird.