“Hallo!” Ein kleiner Junge winkt mir. Ich bin bei einer Freundin in Köln zu Besuch. Vormittags arbeitet sie, ich gehe im Viertel spazieren. Und da, in einer kleinen Straße, beugt sich ein Junge aus einem Fenster im Erdgeschoss: “Willst du was Schönes sehen?”, fragt er mich, als ich näher komme. Er ist vielleicht fünf, wirkt ernsthaft. “Ja”, sage ich. “Dann komm rein!” Er verschwindet und taucht wenig später an der Tür wieder auf. “Schnell!“
Ich zögere. “Bist du alleine zu Hause?” “Meine Schwester ist da. Aber sie hört nix.” Er deutet Kopfhörer über den Ohren an. Dann nimmt er meine Hand und zieht daran. Ich merke, dass ich mich unbehaglich fühle, wenn ich mit einem Kind mitgehe, weil es so verletzlich ist. Geh nie mit einem Fremden mit. Eine verquere Situation.
Aber ich bin viel zu neugierig, um nicht mitzugehen. In der Wohnung führt mich der Junge in ein Zimmer mit drei Kinderbetten, in dem sich das Durcheinander gemütlich gemacht hat. Er zieht einen Schuhkarton unter einem Bett hervor, öffnet ihn behutsam. Darin ist ein blauer Stoff zusammen geknüllt, eine Leggins, wie ich am Bund erkenne. Vorsichtig zieht der Junge den Stoff beiseite. Da liegt ein Ei. Ein braunes Hühnerei, ein bisschen gesprenkelt. “Siehst du?”, flüstert er. “Ja”, ich flüstere auch. “Weißt du, was da drin ist?” “In dem Ei?” “Ja.” Ich denke an Eiweiß und Dotter, sage aber sicherheitshalber “Nein.” “Ein Küken.” Er strahlt mich an. “Da ist ein kleines Küken drin und wenn das Ei immer warm bleibt, dann kommt es heraus.”
“Oh”, sage ich. Ich bin wirklich überrascht, obwohl ich natürlich weiß, dass Küken aus einem Ei schlüpfen, aber der Anblick eines Eis, stelle ich fest, lässt mich nur an Rührei oder Kuchen denken. “Woher weißt du das?” “Frau Hense hat es gesagt. Sie wohnt im Kindergarten und ich besuche sie immer.” “Und woher hast du das Ei?” “Aus dem Kühlschrank.”
“Hm”, sage ich und frage mich, ob ich so eine Hoffnung jetzt schon zerstören soll oder nicht. “Das ist nicht geklaut”, erklärt mir der Junge, “ich habe einfach ein Ei weniger gegessen.” “Ist das Ei gekocht?”, erkundige ich mich. “Natürlich nicht!”, empört sieht er mich an. “Wer gekocht ist, ist tot.” “Ach so ja, klar”, sage ich. “Im Kühlschrank ist es zu kalt”, sagt der Junge geduldig, als ob er mir etwas beibringen müsste, “da können die Küken nicht größer werden. Sie brauchen Wärme.“
Ich nicke. Er spürt meine Zweifel und sieht mich nachdenklich an. Ich habe so Sätze im Kopf wie die, dass man Kindern immer die Wahrheit sagen sollte. Warum ausgerechnet Kindern, wo man doch allen Menschen ab und zu Unwahrheiten sagt? Mir fällt das Gedicht eines finnischen Dichters ein. Seinen Namen habe ich vergessen und vom Gedicht weiß ich auch nur mehr zwei Zeilen: Auch die Unwahrheiten sind wahr, denn sie haben Ursachen und Folgen und folglich ihr eigenes Leben.