Meine Freundin Erika Ghinelli hat mich um einen Beitrag zur Lesung der multilingualen Bibliothek Cumbria, GB, gebeten. Ich habe die Geschichte “Briefkasten” auf Deutsch gelesen und auf Englisch erzählt. Hier geht es zum Film von der Lesung. Leider ohne Gebärden.
Kleiderschrank
Ich bin ein bisschen menschenscheu. Meine Therapeutin meint, es könnte mir helfen, manchmal neue Leute kennen zu lernen. Vielleicht wäre es wirklich gut. Aber immer, wenn es soweit ist, schrecke ich davor zurück. So wie jetzt, als ich bei meiner Freundin Alicia zu Besuch bin und es an der Tür klingelt. “Wer ist das?”, frage ich beunruhigt. “Ach, wahrscheinlich nur Herr Sigma, ein Bekannter, der sich die Bohrmaschine ausleihen will. “Tun wir so, als wären wir nicht da”, schlage ich vor. Sie sieht mich erstaunt an: “Warum das denn?” Entgegen meines Ratschlags macht sie die Tür auf und ich höre, wie sie Herrn Sigma eine Tasse Kaffee anbietet. Ich will tapfer sein, aber ich schaffe es nicht. Weil der Weg zur Wohnungstür blockiert ist und Alicia im dritten Stock wohnt, sodass auch eine Flucht durchs Fenster nicht möglich ist, reiße ich kurzentschlossen den Kleiderschrank auf und springe hinein.
Da verharre ich dann, gekrümmt, zwischen Klamotten und Kleiderbügel eingezwängt, mit klopfendem Herzen. Eine unangenehme Position. Ich hätte mich lieber schnell verabschieden sollen. Alicias Stimme klingt gedämpft durch die Kleiderschranktür: “Ich habe eigentlich Besuch”, sagt sie überrascht. “Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist, vielleicht im Bad … ” Ihr bleibt keine Zeit, mich zu suchen, weil Herr Sigma sie mit einem Redeschwall überschüttet.
“Der Erfinder der Infinitesimalrechnung”, sagt er aufgeregt, “das bin eigentlich ich! Ich hab sie nur deshalb nicht erfunden, weil ich noch nicht geboren war zu der Zeit! Und das ist doch eine Ungerechtigkeit, meinen Sie nicht auch? Niemand kann etwas für sein Geburtsjahr und nicht jeder hat die Möglichkeit, alles auf Null zu stellen, wie Jesus damals, nicht wahr?“
Wie komme ich unbemerkt aus diesem Schrank wieder raus? Ich will mich hinsetzen, bücke mich, um den Boden abzutasten, ob er sich auch als Sitzgelegenheit eignet, und bekomme einen Schuh zu fassen. Einen Schuh mit Inhalt. Mir stellen sich die Nackenhaare auf. “Psst!”, flüstert es im Dunkel der Blusen und Jacken, “verrat mich nicht.” “Okay, aber ich will mich auch hinsetzen, mach Platz.” Nach einigem Hin- und Herrücken sitzen wir beide, ich auf einem Mantel, den ich vom Kleiderbügel geschubst habe.
“Hast du auch Angst vor Besuchern?”, frage ich ins Dunkel hinein. “Nein, ich bin in Alicia verliebt.” “Ach so.” Eine seltsame Methode der Beziehungsanbahnung, aber da ich selbst noch nicht so viel Erfolg diesbezüglich hatte, halte ich mich mit Kritik zurück.
Mozzarella
Auf dem Nachhauseweg entsteht so eine Unruhe in meiner Einkaufstasche und als ich auspacke, sehe ich es: in der Mozzarella-Packung bewegt sich etwas. Vorsichtig, mit einem Kochlöffel, stubse ich daran. Es fiebt und ich zucke zurück. Was ist das? Ich mag es mir nicht vorstellen, was da drin ist. Ich will nicht schon wieder Probleme haben. Am liebsten würde ich die Packung aus dem Fenster werfen. Das würde jedoch sicher Ärger nach sich ziehen, weil Frau Hühner aus dem Erdgeschoss regelmäßig die Umgebung kontrolliert und mit allem, was sie findet, von Tür zu Tür geht: “Ist das von Ihnen? Stellen Sie sich vor, das habe ich vor unserem Haus gefunden. Sieht aus, als hätte jemand einen Mozzarella aus dem Fenster geworfen. Der ist noch nicht mal abgelaufen.“
Soll ich die Packung in den Laden zurück tragen? Aber was passiert dann damit? Sie liegt jetzt ganz still auf meinem Küchentisch. Ich hebe sie hoch, halte sie über die Spüle und schneide die obere Ecke ab. Nichts regt sich. Ich schütte die Salzlake aus. Nichts. Ich hab mir das Ganze nur eingebildet. Vorsichtig lege ich die Verpackung in die Spüle, schneide sie auf und hebe das Plastik an.
Therapie
Meine Freundinnen haben mir geraten, Therapie zu machen. Wegen meiner vielen Alltagsprobleme. Und nach einigem Suchen habe ich tatsächlich eine Therapeutin gefunden, bei der ich mich wohl fühle. Sie mag mich. Ich weiß aber nicht, ob sie mich wirklich versteht.
Ich habe ihr erzählt, dass ich mich nirgendwo zugehörig fühle. Und sie hat mir vorgeschlagen, einmal etwas ganz normales zu tun. “Probieren Sie es aus und erzählen Sie mir in der nächsten Stunde davon. Gehen Sie ins Fitnessstudio, in die Sauna, in eine Kneipe, ins Kino! Warum gehen Sie nicht mal ins Kino?” Ich runzle die Stirn: “Im Kino war ich schon.” “Und”, meint sie mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme, “wie war das?” Ich suche nach einem Wort, das nicht verletzend wirkt, da ihr ja am Kino viel gelegen zu sein scheint. “Schwierig”, sage ich schließlich.
“Mögen Sie mir beschreiben, was so schwierig am Kinobesuch war?” “Es passiert so viel. Alles ist groß und laut. Schon die Werbung … sie zerdrückt alles, was ich bin. Und -” Ich schaue zum Gummibaum. Ein riesiger Gummibaum mit dunkelgrünen, sanften Blättern, der eine Ecke des Therapiezimmers ganz für sich einnimmt. Ich mag die Vorstellung, dass ich eines Tages, wenn ich nicht mehr weiter weiß, in dieser Ecke hinter dem Gummibaum ein Nest baue und mich dort einrolle wie ein verletztes Tier.
Ich seufze. “Beim Filmgucken habe ich immer Angst vor Gewalt, die so harmlos daher kommt, so nebenbei, und die mich dann die ganze Nacht beißt. Andere Leute schütteln es ab, aber mich verfolgen die Bilder wochenlang. Es ist schrecklich!” Jetzt habe ich es doch gesagt, und ich meine, Enttäuschung auf dem Gesicht der Therapeutin zu erkennen. “Verstehe”, sagt sie.
Mülltonne
Es ist wieder einmal soweit. Ich muss die Mülltonne raus stellen. Zuerst versuche ich, es zu ignorieren. Dann fluche ich eine halbe Stunde vor mich hin. Aber es bleibt mir nichts anderes übrig; ich muss es jetzt hinter mich bringen. Seufzend ziehe ich den Ledermantel, die bissfesten Handschuhe und die Stiefel mit den Stahlkappen an, setze den Rucksack auf und nehme Stock, Helm und Taschenlampe mit in den Keller.
Früher hatte ich einen kleinen Kellerraum direkt unter dem Haus, aber dann hat der örtliche Tierschutzverein alle verfügbaren Räume beschlagnahmt, um die immer größere Anzahl an ausgesetzten Hunden, Katzen, Hamstern, Mäusen, Papageien und anderen Tieren unterzubringen. Weil mir aber laut Mietvertrag ein Kellerraum zusteht, habe ich einen Ersatzkeller bekommen. Er liegt einen Kilometer stadtauswärts und ist mit meinem Keller durch einen unterirdischen Gang verbunden. Der Ersatzkeller ist der untere Teil eines Hauses, das einer Erben-Gemeinschaft gehört. Diese kann sich nicht einigen, was mit dem Haus passieren soll, das mittlerweile baufällig und einsturzgefährdet ist. Aber der Keller ist noch in Ordnung.
Es ist ein großer Raum, den ich dort zur Verfügung habe, sogar mit Wasseranschluss und zwei Steckdosen. Ich könnte ein zweites Badezimmer einrichten oder einen Partykeller. Aber der Weg ist eine Tortur. Deshalb steht in diesem Ersatzkeller nur meine Mülltonne. Und die auch nur, weil ich nicht weiß, wo ich sie sonst hinstellen soll.
Ich sammle den Müll auf dem Balkon, wo ich ihn mit einer Vakuumpresse in einen großen Eimer hinein stopfe, bis der randvoll ist. Das sind dann so ungefähr 10 Kilo. Diesen Mülleimer packe ich in einen eigens angefertigten Rucksack, der sich luftdicht verschließen lässt. Es ist nämlich günstig, bei der Unternehmung die Hände frei zu haben.
Gibt es Alltag?
Alltägliche Handlungen und die, für die sie nicht zum Alltag gehören (Aufzählung unvollständig):
1. Aufwachen
Leute im Koma; Zombies
2. Aufstehen
Beinlose; Bettlägrige; Prometheus und seine Schicksalsgenoss*innen in Foltergefängnissen und Psychiatrien; Leute, die zum Aufstehen Hilfe brauchen, an Tagen, an denen sie diese Hilfe nicht bekommen
3. Anziehen (bzw. das Nachtgewand ausziehen und etwas anderes anziehen)
Alle, die ihre Kleidung länger als einen Tag tragen, weil sie entweder nichts zum Wechseln haben, nicht die Unterstützung bekommen, die sie bräuchten oder ihr Interesse oder die Motivation, etwas anderes anzuziehen, zu gering sind
4. Sich waschen
Wer keinen Zugang zu Wasser oder anderen reinigenden Substanzen wie Sand hat, (zum Beispiel in Lagern und auf Krankenhaus-Stationen, die unterbesetzt sind); wer keine Lust zum Waschen hat; keine Notwendigkeit sieht bzw. riecht; keine Zeit dafür hat
5. Frühstücken
Die Menschen, die nicht frühstücken können, weil sie nichts zum Frühstücken haben oder weil ihnen niemand beim Frühstücken hilft; die, die nicht frühstücken wollen; die, die das Konzept “Frühstück” nicht kennen
Alltag ist etwas Persönliches. Wer “Alltag” und “alltäglich” für mehrere, viele, eine unüberschaubare Menge an Menschen sagt oder schreibt, verallgemeinert unzulässig.
Im eigenen Leben ist Alltag das, was immer gleich bleibt, alle Tage. Doch jeden Tag ist etwas anders: zum Beispiel Temperatur, Licht, Luftfeuchtigkeit, Mondphase, Menstruationsphase, Gerüche, Gefühle, Gedanken, Blutdruck, Hautwiderstand, Haarlänge, Mageninhalt, Inhalt des Kühlschranks, Inhalt des Mülleimers. Und laufend verändert sich alles, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten.
Wer dem Alltag entfliehen möchte, hat unendlich viele Möglichkeiten dazu; denn Alltag gibt es nur in dem Augenblick, in dem er erschaffen wird, von einem Sein, das das eigene Tun als alltäglich empfindet.
Röhren
“Wo Sie eine Wand sehen, da sind in Wirklichkeit lauter Röhren, mit ein bisschen Ziegel und Mörtel drumrum”, sagt der Installateur und ich nicke. Ich bin sehr froh, dass er gekommen ist und diese spritzende zischende Wasserkatastrophe gestoppt hat. “Wenn Sie möchten, nehme ich Sie mal mit, ins Röhrensystem.” Ich nicke wieder. Warum nicht. “Sie müssten allerdings vorher drei Wochen fasten.” Erst jetzt fällt mir auf, dass er ziemlich langgestreckt ist. “Das habe ich noch nie gemacht”, wende ich ein. “Ganz einfach. Nichts essen, das ist alles.” “Praktisch”, sage ich diplomatisch. Ich möchte es mir nicht mit ihm verscherzen. Es ist so schwer, gute Handwerker zu bekommen.
Nachdem er sich verabschiedet und die Wohnungstür geschlossen hat, mache ich sie wieder auf, um ihm sicherheitshalber doch noch zu sagen, dass er sich keine Hoffnungen zu machen braucht. Da sehe ich, dass er bäuchlings auf seinem Werkzeugkoffer liegt und so die Stufen hinunter rutscht. Am Ende der Treppe gelingt ihm mit einem eleganten Schwung der Unterschenkel die 180 Grad Wende mühelos, bevor er die nächsten Stufen runtersaust. Ich warte, bis er im Erdgeschoss ankommt, und bin froh, dass ihm niemand im Treppenhaus begegnet ist.