BusTorTour: Ganz außergewöhnlich, zugleich allgemeingültig

Maschinelle Anlage in lila, blauer Trichter füllt ein, grünes großes Rad gibt Antrieb

Spä­ter ließ sich nicht mehr fest­stel­len, ob es von vorn­her­ein der fal­sche Bus gewe­sen war, oder der rich­ti­ge Bus, der von sei­ner Stre­cke abge­wi­chen war, wie die meis­ten behaupteten.

Eine ruhi­ge Fahrt war es von Anfang an nicht gewe­sen. Stän­dig klopf­te jemand ans Fens­ter und woll­te unbe­dingt rein. Dann waren wie­der Wür­ge­ge­räu­sche zu hören, es roch nach Erbro­che­nem und Leu­te woll­ten drin­gend raus. Vie­le ertru­gen aber den rau­en Wind nicht, der ihnen dort ent­ge­gen­schlug. Sie stie­gen wie­der ein und würg­ten wei­ter. So viel Übel­keit auf einer ein­zi­gen Fahrt hat­te noch nie­mand erlebt; frei­lich gab es auch reich­lich Kurven.

Der Bus­fah­rer mach­te alles mit, hielt bei der kleins­ten Stö­rung an und reg­te sich auch nicht auf, als ande­re, die schnel­ler vor­an­kom­men woll­ten, ihn so beschimpf­ten, wie man es kei­nem Bus­fah­rer wünscht.

Auch die meis­ten Fahr­gäs­te wirk­ten erstaun­lich gelas­sen. Sie plau­der­ten, dös­ten, früh­stück­ten, starr­ten in ihr Smart­phone oder ver­bar­gen sich hin­ter rie­si­gen Zei­tun­gen; ver­hiel­ten sich also wie sonst auch auf dem Weg zur Arbeit, und das, obwohl die Fahrt ein paar Mona­te län­ger dauerte.

Von außen betrach­tet, hät­ten die Insas­sen eigent­lich mer­ken müs­sen, dass da etwas nicht stimm­te, aber vie­les ist von außen betrach­tet ein­fa­cher zu erken­nen, und im Nach­hin­ein ist es immer leicht, Weis­hei­ten zu verbreiten.

Außer­dem sah doch ab und zu jemand aus dem Fens­ter und frag­te halb­laut: “Stimmt das hier eigent­lich noch?” Aber da gab es immer wel­che, die sofort erwi­der­ten: “Natür­lich stimmt das, es ist die rich­ti­ge Linie! Ich fah­re seit Jah­ren gut damit!” Und ande­re nick­ten erleich­tert, dann konn­te es ja nicht falsch sein. Denn das war ihnen das Wich­tigs­te: nie wie­der woll­ten sie die fal­sche Linie fahren.

Noch dazu bemerk­ten sie ja, dass die­je­ni­gen, die aus­stie­gen, sofort ver­blass­ten, in den Staub fie­len, und so unge­müt­lich aus­sa­hen, dass alle froh waren, dass der Bus schnell wei­ter fuhr und sie den Anblick der Aus­ge­stie­ge­nen nicht lan­ge ertra­gen muss­ten. Dann bes­ser drin blei­ben, Vor­hang vor­zie­hen; in den Nach­rich­ten stand ja, dass alles recht­mä­ßig war.

Als die Vor­hän­ge zu bren­nen anfan­gen, wol­len die meis­ten nichts damit zu tun haben. Man­che hal­ten sich die Augen zu. Aber dann wird es zu heiß, und alle schla­gen um sich, mit Jacken, Hüten, Akten­ta­schen, bis das Feu­er end­lich gelöscht ist. Von den Vor­hän­gen blei­ben nur Fet­zen und die Sicht nach drau­ßen, jetzt unver­blümt, löst gel­len­de Schreie aus: rings­um Irr­niss. Der Weg ist ja ganz falsch!

Sofort stür­zen sich wel­che auf den Fah­rer. Er muss ver­prü­gelt wer­den! Und da wird der Betrug offen­sicht­lich: es ist eine Attrap­pe. “KI!”, ruft jemand erbost, zückt ein Taschen­mes­ser und schnei­det den Kopf ab: nur Wat­te quillt heraus.

Es muss also der Bus gewe­sen sein. Schon schwingt jemand den Not­ham­mer, Schei­ben klir­ren. Die Fahr­gäs­te, die mona­te­lang gedul­dig mit­ge­fah­ren sind, empö­ren sich jetzt, sind hell­wach und ent­schlos­sen. Mit Regen­schir­men, But­ter­mes­sern, Nagel­fei­len und schie­rer Kraft zer­fet­zen sie die Sit­ze, zer­trüm­mern das Arma­tu­ren­brett, defor­mie­ren das Lenk­rad bis zur Unkennt­lich­keit. Und dann ran an die Ein­ge­wei­de! Alle sind jetzt schmut­zig, zer­zaust und außer Atem. Und vol­ler Zorn. Sie sind betro­gen wor­den! Die gan­ze Zeit über haben sie sich unwohl gefühlt, aber sie haben alles mit­ge­macht; und jetzt das!

Als Flam­men aus der Ölwan­ne schla­gen, jubelt die Men­ge. Mit leuch­ten­den Gesich­tern, ver­seng­ten Haa­ren, und in der gro­ßen Befrie­di­gung, sich end­lich rich­tig aus­ge­drückt zu haben, sind alle wild dar­auf, gleich das ver­kohl­te Gerip­pe zu zer­le­gen, zu zer­tre­ten, es zuzu­schüt­ten und auf ewig zu begra­ben, damit nie­mand behaup­ten kann, dass sie sich geirrt hätten.

Auf dem Weg zur Arbeit

Wenn ich zur Arbeit fah­re, bin ich oft schon fast zu spät dran, und jetzt wird auch noch an vie­len Stel­len der Asphalt auf­ge­ris­sen. Bau­gru­ben ent­ste­hen, schein­bar über Nacht, has­tig, manch­mal nicht ein­mal abge­si­chert. Viel­leicht wer­den die Absper­run­gen auch gestoh­len, die­se rot-wei­ßen Plas­tik­git­ter mit den Warn­leuch­ten oben­drauf. Ich weiß nicht, ob die Leu­te sich die in den Gar­ten stel­len oder ins Wohn­zim­mer, oder ob sie damit ihre eige­nen Gru­ben absichern.

Ich sehe auch nie jeman­den bau­en, und kei­ne Maschi­nen. Viel­leicht sind die­se Gru­ben gar kei­ne, also nicht in dem Sin­ne, dass jemand sie gegra­ben hat. Viel­leicht reißt der Boden von allei­ne auf, und das, was uns immer getra­gen hat, trägt nicht mehr, gibt nach, versinkt.

Bis jetzt konn­te ich den Löchern auf der Stra­ße immer noch recht­zei­tig aus­wei­chen, den Fahr­rad­len­ker her­um rei­ßen und den Sturz ver­hin­dern; aber nur, weil ich mit erhöh­ter Wach­sam­keit fah­re und jeder­zeit mit einem Abgrund rechne.

Eines Tages, wenn ich viel­leicht noch etwas ver­schla­fen bin, wird es pas­sie­ren. Auch wer kei­ne Gru­be gräbt, fällt selbst hin­ein. Hof­fent­lich bre­che ich mir nichts. Oder wenigs­tens nicht die Hän­de. Haupt­sa­che ich kann schrei­ben, wäh­rend ich krank geschrie­ben bin. Was mache ich sonst, Tag für Tag zu Hau­se, nur über Gru­ben grü­beln, und war­um es mir nicht gelun­gen ist, die­ses doch vor­her­seh­ba­re Unglück zu ver­mei­den? Eigent­lich wäre es am bes­ten, ich wür­de mich schon vor dem Sturz krank schrei­ben las­sen. Ich müss­te nur mei­ne Haus­ärz­tin von die­ser prä­ven­ti­ven Maß­nah­me über­zeu­gen können.

Wäh­rend ich über Argu­men­te nach­den­ke und einer klei­ne­ren, mir schon bekann­ten Ver­tie­fung aus­wei­che, wer­de ich von einem rie­si­gen roten LKW über­rascht, der von rechts aus einer Ein­fahrt drän­gelt. Ich brem­se scharf ab, mache dem Unge­tüm Platz. Mit Dröh­nen biegt es auf die Stra­ße ein, die Gesteins­bro­cken auf der Lade­flä­che vibrie­ren, und dann wankt der gan­ze Las­ter, kippt nach links, die Ladung kommt in Bewe­gung, Bro­cken rol­len, über­stür­zen sich, schmet­tern auf die Stra­ße und pral­len von ihr ab. Der LKW ist mit dem lin­ken Vor­der­rad in eine Bau­gru­be gesackt.

Das war die Gru­be, die für mich bestimmt war, den­ke ich, und jetzt hat sich die­ses auf­dring­li­che Fahr­zeug hin­ein gestürzt — und dafür bin ich ihm dankbar.

Der Motor heult auf, der Las­ter ruckt vor­wärts, sinkt in das Loch zurück, noch ein­mal und noch ein­mal. Ich traue mich nicht an dem stei­ne­schleu­dern­den Mons­ter vor­bei. Jetzt kom­me ich sicher zu spät zur Arbeit, aber wenigs­tens habe ich eine anschau­li­che Erklä­rung dafür.

Schließ­lich steigt der LKW Fah­rer aus, zückt eine Peit­sche und ver­setzt der roten Flan­ke einen Hieb, sodass meter­lang der Lack abplatzt und ein grau­er Strie­men zurück­bleibt. Der Las­ter jault, bäumt sich auf, reißt das Rad aus der Gru­be, die Ladung rutscht, Stei­ne sprin­gen durch die Luft, einer trifft mich an der Stirn.

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Entkommen

Ein gro­ßer Umzugs­wa­gen stand vor der Tür. Aus dem Ein­gang kam jemand und hielt einen rie­si­gen Bild­schirm mit bei­den Hän­den umspannt: es war mei­ne Kol­le­gin Julia. “Da bist du ja!”, rief sie mir zu. “Alles muss raus!” Als ob es sich um einen Schluss­ver­kauf han­deln wür­de. “War­um denn?”, frag­te ich sie. Aber sie hat­te mir schon den Rücken zuge­dreht und steu­er­te ein rotes Auto an, das schräg vorm Haus park­te; auf den Vor­der­sit­zen saßen zwei mir unbe­kann­te Män­ner in Anzü­gen. Julia ver­stau­te den Bild­schirm auf dem Rück­sitz und stieg sel­ber auch mit dazu. Sie hat­te die Tür noch nicht zuge­zo­gen, da star­te­te das Auto schon, fuhr auf mich zu und an mir vor­bei, jag­te die graue Stra­ße ent­lang, bis es nur noch ein roter Punkt war. Ich blieb benom­men zurück. Ich war doch nur zwei Wochen im Urlaub gewesen.

Die Ein­gangs­tür stand offen. Der Boden war mit Brie­fen über­sät. Ich hielt erschro­cken inne. Es hat­te zu mei­nen Auf­ga­ben gehört, die Brie­fe zu sor­tie­ren, und jetzt lagen sie hier acht­los ver­streut, mit Staub und Fuß­spu­ren bedeckt. Da wo frü­her die Brief­käs­ten ihren Platz gehabt hat­ten, klaff­te jetzt ein Loch; die Käs­ten selbst, stark ver­beult, von wer weiß wel­cher Kraft aus der Ver­an­ke­rung geris­sen, lagen wie hin­ge­schleu­dert. Darya war mit der gro­ßen Schau­fel zugan­ge, mit der sie im Win­ter das Eis vom Geh­weg kratz­te; sie schob einen Brief­kas­ten vor sich her. Ich woll­te sie anspre­chen, aber sie sah mich nicht, und dann pack­te sie den Brief­kas­ten und warf ihn in den Con­tai­ner, der in der Ecke stand. Es schep­per­te und dröhn­te, mir stock­te der Atem, ich flüch­te­te auf der Trep­pe nach oben.

Dort ver­such­te Moritz, einen Akten­schrank in den Auf­zug zu schie­ben. Ein Rad war in den Ril­len hän­gen­ge­blie­ben, ich pack­te mit an, und gemein­sam schaff­ten wir es. “Dan­ke”, Moritz nick­te mir zu und drück­te auf das E für Erd­ge­schoss. “Was ist denn hier los?”, frag­te ich ihn. Er mus­ter­te mich. “Weißt du es noch nicht?”, sag­te er schließ­lich. “Anord­nung des höchs­ten Minis­te­ri­ums. Sofor­ti­ge Eva­ku­ie­rung.” “Aber — war­um?” “Alles muss hier anders wer­den.” Die Auf­zug­tür glitt zu, ich starr­te die sil­ber­ne Flä­che an.

Ich hat­te Angst davor, in mein Büro zu gehen. Es war nur ein Job, aber ich war schon ein paar Jah­re hier und hat­te mich dar­an gewöhnt, 20 Stun­den in der Woche Brie­fe zu sor­tie­ren, Mails wei­ter zu lei­ten, Doku­men­te aus den Akten­ord­nern zu zie­hen und in ein bestimm­tes Büro zu brin­gen oder sie umge­kehrt abzu­ho­len und wie­der ein­zu­ord­nen. Ein­mal soll­te ich einen Vor­trag über mei­ne Arbeit hal­ten, er wur­de von den Kolleg*innen höf­lich beklatscht. Mit mei­nen Kolleg*innen ging ich ab und zu zum Mit­tag­essen, meis­tens aber nicht. Es war eine gemüt­li­che Arbeit, die Hälf­te der Zeit konn­te ich an mei­nen eige­nen Geschich­ten schrei­ben, ohne dass das jemals nega­tiv auf­fiel, im Gegenteil.

Es war mir immer so vor­ge­kom­men, als wäre es erwünscht, dass ich nicht all­zu viel arbei­te­te. Manch­mal kam mir das, was ich zu tun hat­te, gera­de­zu unsin­nig vor. Ich hat­te zum Bei­spiel die Auf­ga­be, alle unge­spitz­ten Blei­stif­te aus allen Büros in allen Abtei­lun­gen ein­zu­sam­meln, im Werk­statt­raum zu spit­zen und dann wie­der zu ver­tei­len, wobei ich das ers­te Mal noch den Feh­ler began­gen hat­te, sie wahl­los zu ver­tei­len, was zahl­rei­che Beschwer­den nach sich gezo­gen hat­te, und eine sehr umständ­li­che Neu­ver­tei­lungs­ak­ti­on, sodass ich mir das nächs­te Mal auf jedem Blei­stift mit einem Pos­tit ver­merk­te, aus wel­chem Büro und von wel­chem Schreib­tisch er stamm­te. Seit­her hat­te sich nie­mand mehr über mich beschwert, weil ich etwas Wesent­li­ches gelernt hatte.

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Suppenmalheur

rosa rot gelbe Flüssigkeit mit Schaum und Spiegelung von Himmel, in der 4 Finger auftauchen

Ich mag’s nicht, wenn jemand in mei­ner Sup­pe schwimmt. “Hal­lo!”, rufe ich, “könn­ten Sie bit­te wie­der her­aus­kom­men?” Obwohl ich mir unsi­cher bin, ob ich die Sup­pe über­haupt noch essen will, nach­dem die­se Frau im rosa Bade­an­zug sie durch­quert hat. Sie hört auch nicht auf mich. Am Tel­ler­rand ange­langt, voll­führt sie eine ele­gan­te Wen­de, wie ich sie nie hin­be­kom­men habe, stößt sich ab und schwimmt zügig durch die Brü­he, wobei die Grieß­no­ckerl, wie gut­mü­ti­ge Ber­ge, ihr schau­kelnd ausweichen.

Ich rufe den Kell­ner. “Jetzt sehen Sie sich das an!” Er schaut in mei­nen Tel­ler: “Oh, das ist ja”, er ver­zieht das Gesicht, und als ich mir schon sicher bin, dass er so etwas wie “ärger­lich” sagen wird, sagt er statt­des­sen: “inter­es­sant.” Inter­es­sant ist es, das muss ich zuge­ben. Die Frau krault jetzt. Jedes Mal wenn sie den Arm aus der Sup­pe hebt, um Schwung zu holen für den nächs­ten Zug, bespritzt sie die Nockerl, die sich wie eine Berg­ket­te an den Rand drän­gen, um ihr Platz zu machen.

“Ich möch­te eine neue Sup­pe”, sage ich zum Kell­ner. “Ja ger­ne, aber”, er wiegt den Kopf hin und her, “wenn wir noch ein biss­chen war­ten, dann ist sie viel­leicht fer­tig.” “Bis dahin ist die Sup­pe kalt.” Wahr­schein­lich ist sie jetzt schon nicht mehr beson­ders warm, den­ke ich. Wer wür­de schon in hei­ßer Sup­pe schwim­men? “Immer im Früh­ling”, seufzt der Kell­ner, “da wol­len die Leu­te auf ein­mal trai­nie­ren. Und die Gebüh­ren für das Schwimm­bad sind ja exor­bi­tant gestiegen.”

“Das ist bedau­er­lich, aber ich möch­te trotz­dem eine Sup­pe mit ohne was dar­in.” “Sie woll­ten doch Grieß­no­ckerl?” “Ja, ja. Die Nockerl sind auch okay.” Obwohl ich mir da mitt­ler­wei­le auch unsi­cher bin. Mir scheint es, als hät­ten sie eine Eigen­be­we­gung. “Wahr­schein­lich hat sie sich zwi­schen den Nockerln ver­steckt”, über­legt der Kell­ner. “Als ich die Sup­pe ser­viert habe, habe ich nichts Unge­wöhn­li­ches bemerkt.” “Ich auch nicht”, gebe ich zu, aber das ist ein Feh­ler. “Das wird’s sein! Sie ist aus Ihrer Jacken­ta­sche gekommen!”

Mei­ne Jacke habe ich über die Stuhl­leh­ne gehängt, und tat­säch­lich steht der Reiß­ver­schluss der Brust­ta­sche offen, was vor­her nicht so war. Ich bin irri­tiert. Als ich in die Tasche hin­ein fas­se, fin­de ich eine win­zi­ge Bade­kap­pe, eben­falls rosa. Der Kell­ner nickt zufrie­den. “Aber, ich ken­ne die­se Frau über­haupt nicht!”, pro­tes­tie­re ich. “Sei­en Sie froh, dass sie so klein ist. Ich hat­te mal einen Mann in mei­nem Schrank woh­nen, der war zwei Meter groß.”

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Abhängigkeiten

Blaue Wäscheleine in Schlingen und verknotet, schneebeladen, vor orangem Hintergrund

Als sich die Auf­zugs­tür öff­ne­te und ich, wie jeden Mor­gen, ver­schla­fen die Kabi­ne betre­ten woll­te, blieb ich statt­des­sen ver­dutzt ste­hen und war auf ein­mal hell­wach. Im Auf­zug waren vier Waschbären.

Nein nur drei: einer betrach­te­te sich im Spie­gel; ich hat­te ihn dop­pelt gezählt. Ein ande­rer hock­te auf dem Sitz, auf den ich mei­ne schwe­re Ein­kaufs­ta­sche stell­te, wenn ich eine hat­te. Der drit­te stand auf den Hin­ter­bei­nen, zu mir gewandt, und hielt sich an der Stan­ge fest.

Ich hät­te auch ger­ne eine Stan­ge zum Fest­hal­ten gehabt. Wasch­bä­ren? Ich starr­te in den Auf­zug hin­ein, sie starr­ten her­aus. Sie mach­ten kei­ner­lei Anstal­ten, aus­zu­stei­gen, was mir auch ganz recht war. Der Wasch­bär an der Stan­ge reck­te sich zum Stock­werk-Anzei­ger hoch. Sei­ne Pfo­te reich­te aber nur bis zur 3, und im drit­ten Stock waren sie ja schon ange­kom­men. Plötz­lich hüpf­te er, und drück­te auf das “D”. Die Flä­che leuch­te­te auf, die Auf­zugs­tür schloss sich. Die Wasch­bä­ren fuh­ren los, zum Dachboden.

Dort hat­te ich ges­tern mei­ne Wäsche zum Trock­nen auf­ge­hängt. Dar­un­ter der blaue Bett­be­zug, den ich mir ganz neu gekauft hat­te. Was woll­ten die Wasch­bä­ren auf dem Dach­bo­den? Ich wuss­te wenig über die­se Tie­re. Neu­lich hat­te ich eine Notiz gele­sen, dass sie sich in Städ­ten ver­brei­te­ten und dabei geschickt und krea­tiv vor­gin­gen. Das konn­te ich jetzt bestä­ti­gen. War­um hie­ßen sie eigent­lich Wasch­bä­ren? Mei­ne Wasch­ma­schi­ne stand auch auf dem Dachboden.

Ich drück­te, der Auf­zug kam zu mir zurück. Leer. Ein stren­ger Geruch haf­te­te ihm an, sodass ich wohl nicht geträumt hat­te. Jetzt hät­te ich eigent­lich zur Arbeit fah­ren müs­sen. Statt­des­sen drück­te auch ich auf das D.

Oben ange­kom­men sah ich gera­de noch einen Zip­fel mei­nes Bett­be­zugs in der offe­nen Tür zur Kam­mer von Frau Jäger ver­schwin­den. Ich hin­ter­her. Frau Jäger hat­te, genau wie ich, eine Kam­mer von 8 m² als Abstell­raum. Aber sie hat­te noch mehr, näm­lich, hoch oben, eine Dach­lu­ke, die die Wasch­bä­ren irgend­wie erreicht hat­ten. Einer sprang auf den Griff des Kipp­fens­ters und öff­ne­te es, die ande­ren bei­den woll­ten mei­nen Bett­be­zug aufs Dach schlei­fen. Ich pack­te den her­ab­hän­gen­den Stoff, aber die Wasch­bä­ren waren stär­ker, sodass mei­ne Füße den Boden ver­lie­ßen und ich Rich­tung Dach­lu­ke schwebte.

“Hil­fe!” rief ich, und sofort ant­wor­te­te der Haus­meis­ter, Herr Pospi­schil : “Ich komme!” 

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Heute hätte ich beinahe geheiratet

Tür auf dem ein großer brauner Fleck wie ein Tier sitzt

Die Schu­he hat­te ich schon an, die Jacke auch, aber als ich zu mei­nen Hand­schu­hen griff, die auf der Kom­mo­de lagen, fiel mir auf, dass der Kalen­der schief hing.

Der Kalen­der war eigent­lich kei­ner, jeden­falls nicht in dem Sin­ne, dass er der zeit­li­chen Ori­en­tie­rung dien­te. Er hing schon da, als ich ein­zog, und zeig­te den Juni eines mir unbe­kann­ten Jah­res und ein Pick­nick an einem Was­ser­fall. Die Men­schen saßen und lagen, aßen, unter­hiel­ten und küss­ten sich, hin­ter einem Vor­hang aus Gischt, den der Was­ser­fall ver­sprüh­te, sodass sie nur sche­men­haft zu erken­nen waren und nicht den übli­chen Kate­go­rien zuge­ord­net wer­den konn­ten. Quer über dem Bild stand: “Was wür­de Judith But­ler dazu sagen?”

Auf der ande­ren Sei­te des Was­ser­falls stand stramm der Nadel­wald, aus dem eine dicke Wur­zel her­aus rag­te, die auch die Schnau­ze eines schla­fen­den Tie­res sein hät­te kön­nen. “Den Kalen­der lässt du bes­ser hän­gen”, sag­te die Vor­mie­te­rin zu mir, “er hat genau die rich­ti­ge Grö­ße.” Sie hob ihn kurz hoch und zeig­te mir den gro­ßen rot­brau­nen Fleck an der Wand. “Lässt sich nicht abwa­schen”, behaup­te­te sie, und ich habe es nicht über­prüft, weil mir der Fleck unheim­lich war und ich an Blut den­ken muss­te. Ein Blut­fleck in die­ser Höhe, dazu fiel mir nur ein Kopf­schuss oder etwas ähn­lich Schreck­li­ches ein, und weil das sehr unwahr­schein­lich war, beschloss ich, ihn zu ver­ges­sen. Das Bild gefiel mir, es pass­te gut in mei­ne Woh­nung. Die ande­ren Mona­te habe ich mir nicht ange­se­hen, über­haupt habe ich die­sen Kalen­der noch nie berührt.

Und jetzt hing er schief. Wahr­schein­lich war ich ges­tern beim Staub­saugen dar­an gesto­ßen, ohne es zu bemer­ken. Ich woll­te beson­ders gründ­lich sein, und hat­te auch die Ecken gesaugt, die ich sonst ver­nach­läs­sig­te, in Anbe­tracht der Hoch­zeits­gäs­te, die mich heu­te womög­lich besu­chen kom­men wür­den, genau wuss­te ich das nicht. Ich hat­te noch nie zuvor gehei­ra­tet und war nervös.

Ich war auch spät dran und womög­lich befan­den sich auf mei­nem Han­dy bereits meh­re­re Nach­rich­ten, die sich nach mei­nem Ver­bleib erkun­dig­ten, oder dar­an erin­ner­ten, was ich mit­brin­gen soll­te, aber wenn ich jetzt zu lesen anfing, wür­de es noch spä­ter wer­den, also ließ ich mein Han­dy laut­los in der Tasche.

‘Ich habe alles’, mur­mel­te ich beru­hi­gend auf mich ein, ‘und alles in der Woh­nung ist in Ord­nung.’ Bis auf den Kalen­der eben. Ich zöger­te, ihn anzu­fas­sen. Denn natür­lich hat­te ich den Blut­fleck, ent­ge­gen mei­nem Vor­ha­ben, nicht ver­ges­sen, in den drei Jah­ren, die ich in die­ser Woh­nung wohn­te; viel­mehr hat­te ich die gan­ze Zeit dar­an gedacht, aber immer so getan, als wür­de es kei­ne Rol­le spie­len, dass es in mei­ner Woh­nung einen Fleck unbe­kann­ter Her­kunft gab, der sich nicht ent­fer­nen ließ.

Wahr­schein­lich war es gar kein Blut­fleck. Und selbst, wenn es einer war, bedeu­te­te es nicht, dass die Vor­mie­te­rin jeman­den umge­bracht hat­te. Und der Ver­mie­ter schon gar nicht. Er war schon vor drei Jah­ren so schlecht zu Fuß gewe­sen, dass er die Trep­pen in den drit­ten Stock nicht mehr schaff­te und mein­te, die Über­ga­be der Woh­nung müss­ten wir unter uns regeln.

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